Durs Grünbein

Jenseits der Literatur

Oxford Lectures
Cover: Jenseits der Literatur
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
ISBN 9783518429518
Kartoniert, 176 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

In seinen vier Vorlesungen, die er als Lord Weidenfeld Lectures im Jahr 2019 in Oxford gehalten hat, setzt sich der Dichter Durs Grünbein mit einem Thema auseinander, das ihn seit jenem Augenblick beschäftigt hat, als er die eigene Position in der Geschichte seiner Nation, seiner Sprachgemeinschaft und seiner Familie als historisch wahrzunehmen begann: Wie kann es sein, dass DIE GESCHICHTE, seit Hegel und Marx ein Fetisch der Geisteswissenschaften, die individuelle Vorstellungskraft bis in die privaten Nischen, bis in den Spieltrieb der Dichtung hinein bestimmt? Will nicht anstelle dessen Poesie die Welt mit eigenen, souveränen Augen betrachten?
In Form einer Collage oder "Photosynthese", in Text und Bild, lässt Grünbein den fundamentalen Gegensatz zwischen dichterischer Freiheit und nahezu übermächtiger Geschichtsgebundenheit exemplarisch aufscheinen: Von der scheinbaren Kleinigkeit einer Briefmarke mit dem Porträt Adolf Hitlers bewegt er sich über das Phänomen der "Straßen des Führers", also der Autobahnen, hinein in die Hölle des Luftkriegs. Am Schluss aber steht eine erste Erfahrung von Ohnmacht im Schreiben und die daraus erwachsende, bis heute gültige Erkenntnis: "Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt."
Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit 1993 einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. Zu den früheren Inhabern dieser Professur zählen George Steiner, Umberto Eco, Amos Oz und Mario Vargas Llosa.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.01.2021

Rezensent Kai Sina lobt Durs Grünbein für seine durchaus auch zum Widerspruch anregende, wenngleich für den Rezensenten im Wesentlichen nachvollziehbare "Unruhe" angesichts der deutschen Schlussstrich-Mentalität. Grünbeins Oxford-Vorlesungen von 2019 beeindrucken Sina dabei durch ihren dennoch nüchtern-sachlichen Ton und die eindeutige Positionierung des Autors gegen "revanchistische Tendenzen" der Gegenwart. Die einzelnen Lectures, in denen Grünbein etwa über das Anlecken der Briefmarke mit Hitler-Konterfei nachdenkt, über die Autobahn, die Sprache in der Nazi-Diktatur oder den Luftkrieg, aber auch über Karl Philipp Moritz, liest Sina sämtlich mit Gewinn.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 05.12.2020

Rezensent Manfred Osten ist fasziniert von Durs Grünbeins Versuch, der NS-Zeit durch die Verschränkung mit seiner eigenen Erfahrung als DDR-Bürger sowie mit einer Körpergeschichte eine Lehre abzugewinnen. Die vier Oxford-Vorlesungen des Dichters aus dem Jahr 2019 findet Osten insofern überzeugend, als Grünbein damit einen "alternativen" Ansatz zur Verarbeitung der deutschen Gewaltgeschichte anbietet und sich mit vergleichbaren Versuchen bei Hannah Arendt oder Heiner Müller auseinandersetzt. Für Osten liegt darin spürbar ein Stück Hoffnung.