Martin Walser

Mädchenleben

oder Die Heiligsprechung. Legende
Cover: Mädchenleben
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019
ISBN 9783498001964
Gebunden, 96 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Für alle Walser-Leser ein Fest des Wiedersehens: Schon in seinen Tagebüchern von 1961 finden sich Eintragungen zu "Mädchenleben", und nun, fast sechzig Jahre später, hat er das dort Notierte zusammengetragen und zu etwas verwoben, das er "Legende" nennt: die Geschichte des Mädchens Sirte Zürn, das, weil es seine eigenen Wege geht - plötzlich verschwindet, erst nach Tagen wieder auftaucht, sich im Sand eingräbt, bei Sturm in den See rennt -, nach Wunsch seines Vaters heiliggesprochen werden soll. Der Untermieter der Familie, der Lehrer Anton Schweiger, ist von diesem Einfall so entzündet, dass er alles sammelt, was es über das Mädchen zu erzählen gibt. Darüber gerät er mehr und mehr in ihren zauberischen Bann. Was ist mit Anton Schweiger, warum wohnt er als Lehrer zur Untermiete bei den Zürns, was bringt ihn dazu, nach Sirte eine solche Sehnsucht zu haben? Wie kommt ihr Vater auf den Gedanken der Heiligsprechung seiner Tochter, und was ist das für eine seltsame Ehe der Zürns, in der die Frau, während sie im Garten Lupinen setzt, von ihrem Mann zu Boden geworfen wird und er sich ein andermal mit Kuhfladen beschmiert?

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.12.2019

Judith von Sternburg beeindruckt es durchaus, wie Martin Walser allen aktuellen Debatten ein schwanenhalsiges Mädchen entgegengestellt, das von älteren Männer angehimmelt wird. Sirte ist eine Tochter aus dem Hause Zürn, der Vater und sein Untermieter verehren das holde Mädchen so sehr, dass sie sie heilig sprechen wollen. Verrückt und zärtlich findet die Rezensentin das, aber natürlich auch peinlich. Aber die Sprache glänzt. Ein echter Walser also, meint sie: "Groß und albern."

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2019

Lorenz Jäger bewundert Martin Walsers Kunst, Heiliges, Albernes, Erhabenes und Absurdes zu mischen. Walsers lange Beschäftigung mit Mädchenfiguren schlägt sich laut Jäger im neuen Buch nieder als Liebe zu Gott und Gottes Liebe. Die eigensinnige Heilige, die Walser entwirft, tritt Jäger als "Systemprengerin" entgegen, als renitentes fast noch Kind, in das der Autor sich verliebt haben muss, wie der Rezensent beteuert. So gelangt der Stoff zum Leben und die Figur zu ihren wundersamen Fähigkeiten. Sie bringt einem Raben das Singen bei und befreit eine Frau von den Schlägen ihrem Mannes. Ein Wunder, so Jäger.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 20.11.2019

Martin Walser ist für den Rezensenten Helmut Böttiger längst jenseits von Gut und Böse. Banales, Kitschiges, peinliche Altmännerfantasien? Kein Problem für den 92-jährigen Autor, meint er. Der Leser schämt sich vielleicht manchmal, wenn Walser in seiner assoziativen, fragmentarischen Geschichte von einer jungen Künstlerin mit Heiligenattributen, die religiös-ekstatische Dimension mit der erotischen und einer literarischen verschneidet, ahnt Böttiger, doch wie Walser die Tochter seines Alter Egos Gottlieb Zürn hier aus dessen Schatten zaubert und ihre Weltsicht einnimmt, findet er als literarisches Spiel doch sehr interessant.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.11.2019

Frauke Meyer-Gosau belässt es beim Referat, wenn sie Martin Walsers neues Buch vorstellt. Es ist die Legende des schreibenden Mädchens Sirte, das ihr Vater und ein verliebter Mitbewohner gern heilig gesprochen sähen. Zahlreiche Wunder werden herangezogen: Sirte bringt einer Krähe das Sprechen bei und einen Trinker vom Verprügeln seiner Frau ab. Die Ärzte diagnostizieren eines schizophrene Psychose. Die Rezensentin erkennt bei Sirte höchstens auf Aphorismen-Sucht, auch fällt ihr auf, dass Walsers Legende kein "lehrreiches Wirken Gottes" beinhaltet, das die Gläubigen erheben könnte. Darüberhinaus meidet die Rezensentin ein Urteil.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 18.11.2019

Gerrit Bartels kann's nicht fassen, dass Martin Walser immer weiter und weiter schreibt. Schon wieder ein neues Walser-Buch!, staunt er. Dass vieles in der Geschichte um eine heiligenartige Studentin am Bodensee dem Walser-Leser bekannt vorkommen muss, wie Bartels vermutet, findet der Rezensent in Ordnung. Dass Walsers schwärmerische, bisweilen schwüle Sätze über die "Erlebbarkeit des Religiösen" und das aus Notaten, Aphorismen und Dialektischem zusammengestoppelte Ende hier nur neunzig Seiten füllen, scheint Bartels allerdings ebenso wenig zu stören.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 16.11.2019

Wie Rezensentin Mara Delius findet, "walsert" der Autor hier einmal mehr in ganz typischer Manier: Sein Ich-Erzähler schmachtet vor sich hin, fühlt sich abhängig von einem rätselhaften, viel zu jungen aber umso anziehenderen Mädchen, das im Verlauf der Geschichte mehrfach verschwindet, und ergeht sich in widersprüchlichen Reflexionen dieser Abhängigkeit - eine Konstellation, die die Kritikerin als Walsers liebsten Anreiz zum Philosophieren erkennt. Allerdings soll das Mädchen im Folgenden für eine selbstlose Tat heiliggesprochen werden, wodurch Walser das Buch Delius zufolge einer zu offensichtlichen Intention entzieht: Die Kritikerin kann sich nun nicht mehr entscheiden, ob das Buch eine metaphysische Wahrheit hinter den Beziehungen aufscheinen lassen soll oder doch eher eine postfeministische Utopie entwerfen will, ob der Roman alles verballhornt oder aber doch nur eine Altherrenfantasie erzählt. In dieser Uneindeutigkeit erkennt sie Walsers Stärke.