Martin Walser

Der Augenblick der Liebe

Roman
Cover: Der Augenblick der Liebe
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004
ISBN 9783498073534
Gebunden, 253 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Gottlieb Zürn, bekannt aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und " Die Jagd", Ex-Makler, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen LaMettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Blume. Sie könnte, wie er sieht, seine Enkelin sein. Und doch vernimmt er sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie, nebulös: "Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann."

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.07.2004

Die Rezensentin Andrea Köhler stellt gleich mal klar: "Martin Walser hat einige beste Bücher geschrieben. Sein jüngstes Werk gehört dazu." Vertraut sind die Themen, vertraut ist das Personal. Gottlieb Zürn, der Held schon früherer Werke des Autors, ist fünfundsechzig und im Ruhestand und reist für einen Vortrag in die USA. Zuvor schon kommt er, kommt ihm Beate Gutbrodt nahe, die an einer Doktorarbeit über den im 18. Jahrhundert viel angefeindeten Materialisten Julien Offray de La Mettrie sitzt und den La-Mettrie-Experten Zürn samt Ehefrau Anne am Bodensee besucht. Daraus wird erst transatlantisches Telefongetuschel, dann eine Art Liebe, dann folgt, so Köhler, das typisch Walsersche "Zustimmungsverneinungscrescendo". Die ganze Liebesgeschichte - "zwischen holdem Blödsinn und dramatischem Gefühlstrara" - macht die Rezensentin liebend gerne mit. Dass allerdings Walser es mal wieder nicht lassen könne, die La-Mettrie-Geschichte zur Apologie in eigener Sache zu machen, das stößt ihr schon ein wenig sauer auf. Andererseits sei dieser Schlenker, entschuldigt sie sofort, das "Unerheblichste" an diesem Buch.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 24.07.2004

Endlich wieder ein Walser-Roman, über den man sich in literarischer Hinsicht äußern kann, frohlockt Rezensent Gerrit Bartels - und überschlägt sich gleich in lobenden Umschreibungen: "hübsch ausgeklügelt, fein zu lesen und alles andere als langweilig" zum einen, "schlank", "ausnehmend ungeschwätzig und auf den Punkt gebracht" zum anderen, kurzum ein "genauso altersweiser und abgeklärter wie sich gegen alle Altersweisheiten und Abgeklärtheiten sträubender Roman über die Liebe und ihre vielfältigen Aberrationen und Variationen". Doch diese ausnahmlos literarischen Betrachtungen sind nur von kurzer Dauer. Denn wie befürchtet habe Walser in seine Liebesgeschichte einen "doppelten Boden" eingezogen, in dessen Schutz er "munter" die "alten Grabenkämpfe" aufgreife. Denn nicht nur für die zwei turtelnden Akademiker (den alternden Gottlieb Zürn und die blutjunge Beate Gutbrod) sei der erzmaterialistische und "hedonistische" Philosoph La Mettrie (ihr gemeinsames Forschungsobjekt) der "ideale Verbindungsmann". Er ist es auch, so Bartels, für den mit "den großen Fragen der Schuld" hadernden Walser. Zürns La-Mettrie-Vortrag, den er auf Beates Einladung in Kalifornien hält, und in dem Sätze fallen, die sowohl auf den Redner als auch auf den mit der Schuldfrage ringenden Schriftsteller passen, endet als "Fiasko". Doch Walsers Prozedere "zwischen Selbstentblößung und dem Verstecken hinter seinen Figuren" scheint dem Rezensenten zu gefallen, so als hätte er den "Schlaufuchs" beim erneuten Wildern ertappt; als gebühre ihm doch dafür Respekt, dass er seine Sache gut mache.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 23.07.2004

Ganz wunderbar verreißt Ursula März den neuen Roman von Martin Walser. Sie erachtet das Buch nicht nur nicht für "so oder so misslungen", sondern schlicht für "überflüssig". Wie sie überzeugend darlegt, sind Namen, Figuren und Motive, die in Walsers "Augenblick der Liebe" ihr Stelldichein feiern, altbekannt, um nicht zu sagen rundum abgenudelt. Streng betrachtet habe Walser gar keinen neuen Roman geschrieben, befindet März, sondern eine Vitrine bestückt, die einem Roman ähnlich sehe: "Wir sehen hier den Schriftsteller als Dekorateur seiner selbst". Beim Lesen des Romans komme man sich vor wie der Besucher eines "regressiv-mimetischen Legolandes der Walser-Welt", die ja beileibe nicht nur aus Literatur bestehe, sondern die turbulente Szenerie des Öffentlichkeitsphänomens Walser einschließe. Seinem Selbstverständnis nach sei das Werk ein "philosophischer Roman mit starkem Traktatanteil". So fungierten La Mettries Schriften als Stellvertreterkommentar von Walsers persönlichen, polemischen, häretischen Weltsicht. Zudem verstehe sich der Roman als lebensphilophische Auseinandersetzung, verbildlicht im ewigen Hin und Her des Protagonisten Zürn zwischen seiner Ehefrau Anna und seiner Affäre Beate Gutbrod. Was März bei alldem gewaltig nervt, ist Walsers Albernheit, die in diesem Buch "gleichsam strukturell" sei. "Albern ist derjenige", zitiert sie in diesem Zusammenhang Kant, "der beständig faselt". März hält das alles für sehr betrüblich, zumal die Gesellschaft von einer öffentlichen, intellektuellen Persönlichkeit wie Walser mit Recht die Statur der geistigen Autorität erwarte. "Ziehen wir einmal das philosophische Bruttogewicht von seinem neuen Roman ab und verengen den Blick aufs Netto", resümiert die Rezensentin, "dann sehen wir vor uns das Alterswerk eines Schriftstellers, der sich, als hätte er's gerade entdeckt, mit den männlichen Schwierigkeiten des Sichgehenlassens beim Oralsex befasst. Das ist so fürchterlich wie banal."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 23.07.2004

Der neue Roman soll also autobiografisch sein, nur leicht verhohlen die Geschichte einer Affäre zwischen Alt (Bodensee) und sehr Jung (Amerika) erzählen - nun gut, meint Burkhard Müller, der Walsers Werk nicht nur genau kennt, sondern sozusagen kritischer Fan ist (wobei seit den Siebzigern die Kritik überwog), und jetzt im Rückblick feststellt, dass die Vermutung stimmen mag, aber gar nicht so aufregend ist. "Der Augenblick der Liebe" sei nämlich eine Neuauflage von "Die Brandung" - schon damals hatte Walser einen älteren Herrn die Liebe zu einer jungen Frau erfahren lassen. Und der Blick zurück sei insofern aufschlussreich, als man erkenne, wie treu sich Walser schon damals war und seitdem geblieben ist - Figuren, die man damals für satirische Erfindungen hielt, waren wohl, meint Müller, sehr viel näher am Autor dran als gedacht. Aus dieser Nähe mache Walser nun auch keinen Hehl, sondern presche geradezu trotzig nach vorn: "Wie kommt es, so fragt das ganze Buch, dass die Liebesbedürftigkeit und auch die Liebesfähigkeit des Greises als schlechthin peinlich zu gelten hat? Wohlan denn, sei es peinlich!" Walser ist beim Schreiben schamlos, dass macht für Müller einen Teil seiner Qualität aus, und deshalb gebe es im neuen Buch allerhand Stellen, die - schön affirmativ mit der Altersgeilheit herausplatzend - weh tun: Sie sollen weh tun. Rezensent Müller findet Walser auch sonst in Hochform, lobt besonders dessen Spezialität, die ebenso hellsichtige und voreingenommene erlebte Rede. Doch hat er auch Einwände, die er sozusagen gegen seine eigene Lesart ins Spiel bringt: "Ganz so leicht, indem man einfach sagt, Walser habe den Kitsch ja so gewollt, sollte man ihn doch nicht vom kritischen Haken lassen." Zum Beispiel was die Sachen angeht, die er anderen Figuren angedeihen lässt. Zum Beispiel der jungen Geliebte, die am Ende ein Ekelpaket heiraten muss, weil der alte Liebhaber zur Gattin zurückgekehrt ist.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 22.07.2004

Ulrich Greiner gibt es zu Beginn seiner Kritik zu - er hat nach Stellen gesucht: Greift Martin Walser auch in seinem neuen Roman die Streitpunkte aus der Debatte um seine Paulskirchenrede von 1998 und um seinen letzten Roman "Tod eines Kritikers" wieder auf? Damals war ihm bekanntlich wegen seiner Reich-Ranicki-Parodie von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher Antisemitismus vorgeworfen worden. Und darum ist Walser heute letztlich auch Rowohlt- und nicht mehr Suhrkamp-Autor. Ja, antwortet Greiner dann, das Thema der Vergangenheitsbewältigung, die Frage der Schuld, werden in "Der Augenblick der Liebe" neu gestellt, aber so indirekt und so brillant verschachtelt, dass es dem Kritiker Hochachtung abnötigt: Walser filtert sie durch eine Dreiecksgeschichte, in der es um einen alternden Philosophen, eine junge Geliebte und die Liebe zur liebenden Gattin geht, und um die Frage, welche Liebe die wahre sei. Kompliziert wird das ganze durch den Rückgriff auf die Philosophie La Mettries, eines Materialisten aus dem 18. Jahrhundert, der den Mensch als Maschine begriff und darum natürlich auch - wie heute der Hirnforscher Wolf Singer - von aller Schuld frei sprach. "Schuldgefühle nützen nichts, verhindern nichts, weder vor, noch während, noch nach dem Verbrechen", zitiert Greiner aus dem Roman. Der Satz ist auf eine private Affäre gemünzt und doch bewusst mit dem Thema der deutschen Geschichte verwoben. Greiner fühlt sich durch Walser virtuose Zwiespältigkeit zu Widerspruch und Reflexion gedrängt - und kapituliert am Ende: "Das macht ihm keiner nach."