Julia Franck

Lagerfeuer

Roman
Cover: Lagerfeuer
DuMont Verlag, Köln 2003
ISBN 9783832178512
Gebunden, 302 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde Ende der siebziger Jahre - Nadelöhr zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Die Lebenswege von vier Menschen kreuzen sich hier: Nelly, die mit ihren Kindern aus der DDR ausreist, Krystyna aus Polen und der aus dem Ost-Gefängnis freigekaufte Schauspieler Hans. Ihnen gegenüber steht John Bird, der als amerikanischer Geheimdienstler die Verhöre mit den Flüchtlingen führt. Er interessiert sich nicht für ihre ungewisse Zukunft, sondern für die verborgenen Geschichten ihrer Vergangenheit. Bis er an Nelly gerät, die selbstbewusst sein Spiel durchschaut.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 01.11.2003

Der Schauplatz von Julia Francks drittem Roman ist das Notaufnahmelager Marienfelde, die Zeit der Handlung sind die späten Siebziger, die Hauptfiguren: zwei DDR-Flüchtlinge, eine Polin, ein US-Geheimdienstler. Alle befinden sich, wie Susanne Messmer schreibt, in einer "Situation des Nichtmehr und Nochnicht". Das Interessante am neuen Buch sei weniger, meint die Rezensentin, dass Franck, zuvor als "Fräuleinwunder" der Gegenwartsbeschreibung gefeiert, sich nun auf Vergangenes einlässt. Die Stärken der Autorin nämlich bleiben dieselben und sie liegen, so Messmer, vor allem in der Figurendarstellung. Weder Nelly Senff, die noch dem Tod ihres Freundes nachgrübelt, noch Hans Pischke, irgendwas zwischen "Zwangsneurotiker" und "sensiblem Helden", entziehen sich der gewaltsamen Verfugung "zu einem schlüssigen Ganzen". Darin scheint der Roman der Rezensentin denn auch viel überzeugender als im Historischen, zu dessen Evokation sich Franck gelegentlich genötigt sehe, den Figuren Sprechblasen in den Mund zu legen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.10.2003

Außerordentlich beeindruckt ist Ulrich Rüdenauer von diesem Buch, das in verschiedenen Episoden von Menschen aus der DDR erzählt, die sich Ende der siebziger Jahre im Westberliner Auffanglager Marienfelde begegnen. Zunächst stellt er klar, dass der Roman, auch wenn die Autorin ebenfalls in den Siebzigern aus der DDR ausgereist ist und zunächst in Marienfelde leben musste, kein autobiografischer Roman ist, was der Rezensent "positiv" wertet. Insbesondere die "Kommunikationslosigkeit" und die "Angst" der verschiedenen Protagonisten, die aus dem Gefängnis der DDR in einer Art "Niemandsland" ankommen, findet der Rezensent sehr überzeugend geschildert. Er lobt die "schmucklose", mitunter "fast glatte" Sprache der Autorin, mit der die Beschädigungen der Figuren geradezu "beängstigend" zum Ausdruck kommen. Für das merkwürdige Zwischenstadium im Auffanglager hat Franck den richtigen Tonfall getroffen, lobt der Rezensent. Vor allem die "seltsame sprachliche Gefasstheit" macht ihn ganz beklommen. Es gibt durchaus auch "schwächere Szenen" in diesem Roman, räumt Rüdenauer ein, wobei er als Beispiel das Verhör der Nelly Senff, eine der weiblichen Hauptfiguren, durch den amerikanischen Geheimdienst anführt, das auf ihn wie aus "grauen Akten abgepaust" wirkt. Trotzdem ein beeindruckendes Buch, meint der Rezensent nachdrücklich, wobei er insbesondere lobt, dass sich dieser Roman wohltuend von den Büchern der letzten Zeit abhebt, die die DDR am liebsten nostalgisch oder ironisch in den Blick nehmen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 07.10.2003

Voller Bewunderung bespricht Andreas Nentwich den Roman von Julia Franck, der in einem "Niemandsland" spiele: "zwischen Nichts und Nichts". Vier Erzählerstimmen berichten aus einem Auffanglager im Jahr 1978 - keine von ihnen gehört den beiden Kindern, die mit ihrer Mutter aus der DDR in den Westen umsiedeln, denn Julia Franck, die eines dieser Kinder sein könnte, sei als Autorin längst darüber hinausgewachsen, in den Erfahrungen ihrer Figuren "nach sich zu suchen". Was die "Alltagsprotokolle" der Erzählerstimmen auffangen, "nicht plan als Botschaft, sondern über Szenen, Gesten, Wortwechsel, Selbst- und Fremdwahrnehmung, sind Reflexe der Menschenwürde auf die Zumutung, sich seelisch zu entblößen, um in den Genuss eines unveräußerlichen Grundrechts zu kommen" - eines Grundrechts namens Freiheit. Deshalb gebe es in diesem Buch zwar menschliche Schwäche und Lächerlichkeit, aber keine Witzfiguren. Franck beherrscht die Kunst, "Geschichten gleichsam aus ihren Subtexten aufsteigen und in der Außenwelt sich fangen und brechen zu lassen", schreibt Nentwich. Ein Roman, "spannend wie ein Thriller, vor allem aber: ein Sprachkunstwerk".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 30.09.2003

"Lagerfeuer" erinnert Hans-Peter Kunisch an die frühen Geschichtsromane von Böll, Koeppen, Andersch oder Walser, die mit einer versuchten Unparteilichkeit Zeitgeschichte schilderten. Auch bei Franck entstehe dieser Eindruck der "Unzugehörigkeit zu beiden deutschen Staaten", meint Kunisch und verweist anderenorts darauf, dass ein nicht unbeträchtlicher Attraktionswert des Buches in der "Authentizitätsvermutung" stecke. Wie die Ich-Erzählerin Katja ist Franck nämlich als Achtjährige aus dem Osten aus- und in den Westen eingereist und hat ein Dreivierteljahr im Auffanglager Marienfelde verbracht. Und hier spielen auch drei Viertel des Romans, verrät Kunisch. Mit ein paar kleinen Abstrichen findet der Rezensent das Personal des Romans und die Perspektivwechsel der Autorin eindrücklich. Als größte Qualität lobt Kunisch, dass ausgerechnet die schwierigsten Szenen, wie etwa die Liebes- und die Verhörszenen, auch die gelungensten seien.
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