Tagtigall

Die Angst ins Bockshorn jagen

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
08.02.2023. Die Schweizer Dichterin Ilma Rakusa, die, in der Tschechoslowakei geboren, zwischen drei Sprachen aufwuchs, hat in der Pandemie ein Tagebuch in Gedichten verfasst. Spontan wundert man sich über den Mut: Jeden Tag ein Gedicht?
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Es gibt viele Gründe, über Schnee zu schreiben. Meist fehlt er uns mittlerweile: Die Bäume, blattlos, strecken dem Himmel zu Hauf ihre Mistelnester entgegen. Die Sonne steht schräg, wenn überhaupt, und etwas wie Frühling liegt in der Luft. Die Knospen der Magnolien geilen bereits gen Himmel, und wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich den Magnolienbäumen am liebsten einflüstern, dass sie sich hüten sollten.

"Schnee" ist bekanntlich eines der Schlüsselworte in Ilse Aichingers Lyrik. Schnee sei das Gegenteil vom Boden der Tatsachen, schreibt sie einmal, was auch immer das meint. Doch das bedeutendste am Schnee bei Aichinger ist etwas anderes: Schnee wie Heu sind Schlüsselwörter in ihrer Poetik. Beide simulieren grammatikalisch einen Singular (der Schnee, das Heu), sind aber in Wirklichkeit beides: Singular und Plural. Außerdem sind sie Einsilber, ja: Primwörter, sprich, unteilbar. Einzigartig. Und beide, Schnee wie Heu, haben etwas Archaisches; sie verbinden sich mit Kindheitserlebnissen, mit Schneemännern und Heuballen. Licht und Geruch. Und Wärme in der Kälte.

Im letzten Jahr erschien der Gedichtband "Kein Tag ohne" von Ilma Rakusa. Die Schweizer Dichterin hatte es sich, so erfährt man, irgendwann in der Pandemie zur Aufgabe gemacht - getreu dem Motto "Kein Tag ohne Linie" -, jeden Tag ein Gedicht zu schreiben. Ihr Versuch war terminiert: Er begann am 22. Oktober 2020 dauerte das ganze Jahr 2021 und endete am 22. Februar 2022. Mit einem Postskriptum vom 28. Februar, vier Tage nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine.

Nun liegen die Gedichte vor, und spontan wundert man sich über den Mut: Jeden Tag ein Gedicht? Kann man das und kann man die wirklich alle dem Licht der Öffentlichkeit aussetzen? Dass die Verse vor uns Leserinnen und Lesern Bestand haben, liegt an Rakusas Könnerschaft. Sie, die zwischen Koffern und in drei Sprachen aufwuchs, hat ein starkes Schönheitsempfinden; das schärft ihr die Wahrnehmung. Und die Sprache.

Vielleicht schöpfte Rakusas die Idee aus Elke Erbs Band "Sonanz", in dem diese zwei Jahre lang täglich fünf Minuten aufschrieb, was ihr in den Kopf und unter die Feder kam. Einfach so. Die "Fünf-Minuten- Notate" waren ein großartiger poetischer Selbstversuch. Rakusas Experiment nun entstand in der Isolation der Pandemie, ja, es handelt gegen sie an. "Fragt sich wer was regiert Angst oder Virus", heißt es einmal und dass sich mit der Angst nur mehr Angst aufbaue, weshalb man sie von vorneherein "ins Bockshorn jagen" müsse.

Tag für Tag unternimmt Rakusa einen neuen Anlauf. Denn wir wissen ja: in der Angst schlägt Einsamkeit nur zu leicht in Verlassenheit um. Und so hat die Dichterin gegen Angst und Schweigen und in die Einsamkeit der Isolation hinein ihre eigenen Worte ins Gespräch gebracht - mit Texten, Bildern und Büchern, mit lebenden und toten Autorinnen und Autoren (darunter neben Aichinger auch mit Gennadij Ajgi, Thomas Kunst, der Mayröcker, Valzhyna Mort und Serhij Zhadan). Natürlich steht vielfach die Natur im Mittelpunkt, das, was Rakusas Augen sehen, Rakusas Ohren hören - dort draußen, wo alles fast wie gewohnt weitergeht, fast als sei vielleicht doch nichts geschehen. Als sei die Natur eben ein Boden der Tatsachen. Auch gegen die Angst. Die Angst vor dem Krieg schwingt dabei immer wieder hinein.

Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, hatte Rakusa sich ins Gespräch mit Friedrich Hölderlins Dichtung gebracht, und so erschien im letzten Frühjahr bereits das kleine Bändchen "FRÜHLING. Corona mit Hölderlin" - neun längere Gedichte, die in unmittelbarer, auch rhythmischer Anlehnung an den Dichter die veränderte Wahrnehmung der Umwelt durch den Lockdown thematisierten. ("Die Bäume werfen ihre Schatten und wir schatten mit.") Christian Thanhäuser hat großartige Birnholzschnitte beigefügt; einer zeigte die Fenster im Tübinger Turm.

Rakusas jüngst erschienener Band "Kein Tag ohne" ist dagegen in freie Verse gefasst. Er beginnt mit dem Himmel ("Die Sonne ist nicht eckig geworden / Sie scheint noch") und endet mit dem Himmel ("Der Himmel ist anders /über Kiew Charkiw Mariupol / Flugzeughimmel Raketenhimmel"). In dichten Bildern entfaltet sich parataktisch der bekannte Rakusa'sche Zauber. Der Schnee liegt mal "federleicht" auf den Ästen, mal droht er, in seiner Schwere die womöglich schon altersschwachen Kirschbäume zu entwurzeln. Doch dann, mit Datum des 22. Januar 2021, also noch mitten im Winter, findet sich folgendes Gedicht.

Vier Uhr
sie tschilpen
tschilpen wild
die kleinen Vögel
nach dem großen Schnee
die Schnäbel künden Frühling
sie machen Ernst
wir werden sehen
wann das graue Wasser bricht
und welche Träume
aus den Bäumen wachsen
und welche Schattenmuster mit
noch ist viel Zeit
noch glüht der Winter weiß
entzündet von den Viren
auf allen vieren kriechen wir
durchs Haus zermürbt vom Fieber
doch sie da draußen musizieren
ungefragt die Kleinchen
mit dem roten Kragen
das klingt das singt
die Zukunft hat das Sagen

"kleine Vögel", "großer Schnee", "graues Wasser", "Winter weiß", "roter Kragen" - die wenigen Adjektive evozieren die Szenerie unmittelbar. Anklänge an Archaisches auch hier. Man hört ein Klingen, ein Singen und ein Tschilpen, das ein Nach-dem-großen-Schnee verkündet. Bei "wir werden sehen, wann das graue Wasser bricht" kamen mir plötzlich Zeilen von Gottfried Keller in den Sinn: "Wenn einstmals diese Not / lang wie ein Eis gebrochen,/ dann wird davon gesprochen,/  wie von dem schwarzen Tod." Bei Keller bricht das triumphierende "einstmals" das Eis. Bei Rakusa ist es vielleicht der Vokal A. Gegen die Üs und Is (bricht, glüht, zermürbt, Fieber, Vieren, Viren), schwingt mit den As schon durch die Mundstellung etwas sich Öffnendes mit (nach, wachsen, Schatten, ungefragt, Kragen), bis am Ende die Zukunft "das Sagen" hat.
Manchmal tragen wenige Zeilen eines Gedichtes ganze Geschichten. Verknappt und von großer Anmut. In Schönheit verdichtet.

in den administrativen Ecken ihres Verstandes sitzt die Angst,
mein Leben ungeordnet zu hinterlassen,
wie ein Hündchen,
das aus dem Bild rennt,
weg und ade

Ängste zuzulassen und in keine Fronthaut zu schlüpfen, sondern mit "florettleichter Seele" (Clemens Setz) zu schreiben, das ist ihre Kunst.


*****

Zum Weiterlesen:

Ilma Rakusa, Kein Tag ohne. Gedichte, Literaturverlag Dröschl, Wien 2022

"FRÜHLING". Corona mit Hölderlin", Edition Thanhäuser, mit fünf Birnholzschnitten von Christian Thanhäuser, Ottensheim, März 2022. Hier eine Lesung aus diesem Zyklus.

Und hier noch Ilse Aichingers "Heu":

Heu,
Heu in den Kinderscheuern,
wo zu verbrennen
oder sich für immer zu verlieren
gleich leicht ist.
Gebündeltes Heu,
Heu auf den Feldern,
Heu als die bei der tödlichen Vielfalt
der Möglichkeiten gerade so
zueinander gegebenen Buchstaben,
diese Richtung,
aber keine andere.
Heu, das im Wind fliegt,
auf den dürren Stoppeln bleibt,
für immer von den anderen getrennt,
das den Schnee erwartet,
der ihm den Himmel nehmen wird,
sein unbewegtes, mattes Ebenbild.
Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt,
aber den Jubel,
Heu, Schnee und Ende.
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