Vorworte

Leseprobe zu Gerald Murnane: Inland

Über Bücher, die kommen.
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Unvermittelt und wie im Traum findet sich der ungarische Gutsherr im ersten Teil von "Inland" ins Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies versetzt. Der "schwedische Wissenschaftler" ist sein Rivale, der Ehemann von Anne Kristaly Gunnarsen; "Hinterland" heisst die vom Institut herausgegebene Zeitschrift, deren Herausgeberschaft - wie der Ich-Erzähler vermutet - seiner Lektorin mittels übler Machenschaften entrissen werden soll.



Der schwedische Wissenschaftler hat mich immer gehasst. Er kommt mit großen Schritten aus den Falten der Traum-Prärie meiner Lektorin hervor und schreitet auf die Treppe aus grauem Marmor zu, dann die Treppe hinauf und zwischen die Säulen aus weißem Marmor und unter die eingravierten goldenen Buchstaben: CALVIN O. DAHLBERG INSTITUTE OF PRAIRIE STUDIES, dann hinein durch die hohen Türen aus schwarzem Glas. Er geht weiter mit großen Schritten über geranienroten Teppich und zwischen grünen Blättern eingetopfter Palmen. Er tritt in den Aufzugskorb. Das Dienstmädchen, in grüner oder brauner Livree mit himmelblauem Aufputz, schaut scheu auf zu den eisblauen Augen. Sie drückt einen Knopf aus Messing oder Bronze, und der Korb wird von Kabeln aufwärts gezogen. Der Wissenschaftler und das Dienstmädchen stehen in dem Käfig weit auseinander, doch sein Körper und ihr Körper schwanken und erschaudern im Einklang, ziehen vorbei an Stockwerk um Stockwerk in Geranienrot und an Fenstern um Fenstern mit Anblicken von weiterem und weiterem Land.

Mein Feind geht in langen Schritten über die alleroberste Schicht Geranienrot. Die Fenster in seinem Rücken zeigen echte und falsche Prärien der Great Plain von Amerika, und in der größten Entfernung ein weißes Gebäude mit einer goldenen Kuppel in der Stadt Lincoln im Staat Nebraska. In dem Kronleuchter über ihm scharen sich die Prismen und Zylinder aus Glas wie die Wolkenkratzer auf der Insel Manhattan. Mein Feind schreitet in Richtung einer Tür, deren Milchglasscheibe das Wort HINTERLAND in Blattgoldprägung trägt.

Ein Boy-Mann, in dunkelgrauer Livree mit Goldbesatz und mit einem seltsam abgeflachten Hut, taucht um eine Ecke auf und hält in raschem Paradeschritt auf dieselbe Tür zu, der sich mein Feind nähert. Der Boy-Mann hält seine rechte Hand nah an seinem rechten Ohr, wobei sein Handteller nach oben zeigt und seine Finger gespreizt sind. Die gespreizten Finger tragen ein silbernes Tablett. Auf dem Tablett liegt ein Päckchen in Packpapier mit kunterbunten Briefmarken, die wie militärische Orden aufgereiht sind.

Der Boy-Mann ist mit einem Vorsprung von fünf Schritten als Erster an der Tür. Er streckt seine linke Hand in Richtung eines Knopfs in einer kreisförmigen Vertiefung neben der Tür. Gunnar T. Gunnarsen erreicht die Tür. Er packt das linke Handgelenk des Boy-Mannes mit seiner braunen rechten Hand und flüstert eine Anweisung. Der Boy-Mann macht keine Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten. Der hochgewachsene Schwede bewegt auch seine braune linke Hand zum linken Handgelenk des Boy-Mannes, packt dann das schwache Handgelenk und dreht seine Hände in entgegengesetzten Richtungen um das Handgelenk. Der Schwede macht mit dem Boy-Mann das, was amerikanische Kinder als "Brennnesseln" bezeichnen.

Der Boy-Mann biegt seinen Körper heftig nach hinten. Das Silbertablett und das dekorierte Päckchen fallen auf den Teppichboden. Nichts prallt auf; alles fällt weich. Das Geranienrot ist tief und nachgiebig.

Der Schwede lässt den Boy-Mann los und beugt sich nieder. Er hebt das Päckchen auf und schreitet dann um eine Ecke und einen Flur entlang, wo der Teppich knöcheltief ist und grüngrau gefleckt.

Die mit HINTERLAND bezeichnete Tür wird still von innen geöffnet. Der Boy-Mann dreht sich und sieht sich dem Eingang gegenüber. Die Person im Inneren des Zimmers steht gerade so hinter der Tür, dass ich nur die Spitzen von Damenschuhen sehe. Weiter oben sehe ich eine weibliche Hand, die sich in Richtung der Hand des Boy-Mannes mit einer tröstenden Geste ausstreckt.

Ich bemühe mich, die tröstende Frau zu erblicken. Ich sehe die Szene aus verschiedenen Gesichtspunkten. Jenseits der offenen Tür sehe ich in dem Zimmer die Ecke eines gewaltigen Schreibtischs. Ich sehe schwarze oder violette Beschriftungen auf gelben oder lila Buchrücken, in Regalen vor einer Wand. Ich sehe Haufen grauer Wolken am Himmel jenseits des Fensters jenseits der Tür und unter den grauen Wolken das Orange-Gold einer mit reifendem Weizen bedeckten Ebene und weit unterhalb der Ebene die Worte: Gray and Gold; John Rogers Cox; Cleveland Museum of Art. Aus den grauen Wolken kommend hebt ein Sonnenstrahl den spitzen Glockenturm einer kleinen Kirche aus weißem Holz hervor, die weit entfernt im Osten steht, im Tal des Merrimack in Middlesex County; ein weiterer Sonnenstrahl langt durch das Fenster des mit HINTERLAND bezeichneten Raums hinab und berührt das Gesicht des Boy-Mannes, das von Sommersprossen übersät ist, und hebt eine einzelne Träne auf seiner Wange hervor. Die Träne vergrößert eine bestimmte rotbraune Sommersprosse. Die weibliche Hand beginnt das lehmfarbene Haar zu streicheln, das unter dem abgeflachten Hut des Boy-Mannes steif hervorragt. Die Hand wird zurückgezogen und kehrt dann, ein kleines weißes Taschentuch umfassend, ins Bild zurück. Eine Ecke des Taschentuchs trägt die Stickerei eines Zweigs mit Blättern und Früchten des Baumes, der in meiner Sprache Maulbeere heißt. Die Hand mit dem Taschentuch wischt die Träne von der Wange und dann alle Tränen von den Augen. Die Kirchenglocke beginnt zu läuten.

Jetzt stehe ich gleichfalls an dieser Stelle. Meine Füße versinken in Rot, und das Rot ist grüngrau gesprenkelt. Meine Füße sind schwer, wenn ich sie hebe, und ich frage mich, warum die Leute um mich herum so leichte Schritte machen.

Ich gehe zu einem niedrigen Tisch und einer Gruppe von Sesseln, fünf Schritte von der Tür meiner Lektorin entfernt. Ich setze mich in einen Sessel, der mich weit nach hinten kippt, und ich senke meinen Blick.

Ich schaue auf und sehe, dass die mit HINTERLAND bezeichnete Tür geschlossen worden ist. Rings um mich an dem niedrigen Tisch sitzen Männer und Frauen und halten sich Titelbilder von Illustrierten ausgebreitet vors Gesicht. Auf den Titelbildern fallen Strahlen gelben Lichts auf weiße Kirchen, auf Bäume mit orangen oder roten Blättern, neben dunkelgrünen rieselnden Bächen und auf Boy-Männer, die auf die Bäche zustreben. Die Boy-Männer haben Angelruten auf ihren Schultern und Zweige oder Grashalme zwischen ihren Vorderzähnen. Ein Sonnenstrahl berührt das Gesicht eines der Boy-Männer und hebt Tränen hervor. Ein Glöckchen läutet eintönig. Weit in den Bildern rings um mich herum suche ich nach einem anderen Ort, dem einige der Boy-Männer zustreben könnten. Aber alle Boy-Männer, und sogar der Boy-Mann mit Tränen auf seinem Gesicht, streben Bächen in Amerika zu.

Ich erhebe mich aus meinem Sessel und schaue mir die Illustrierten auf dem niedrigen Tisch an. Jeder Name auf einer Illustrierten ist amerikanisch. Auf den Titelseiten einiger Illustrierten sind Abbildungen unbestimmter Grasländer unter grauen Wolken, aber keiner der Namen auf diesen Titelseiten lautet Hinterland.

Der Boy-Mann, in dunkelgrauer Livree mit Goldbesatz, taucht um eine Ecke auf. Auf seinem Silbertablett trägt er eine Flasche mit Whisky und Trinkgläser und einen Krug mit einem silbernen Mechanismus obenauf. Er stößt die mit HINTERLAND gekennzeichnete Tür auf und geht, ohne anzuklopfen, hinein und lässt die Tür hinter sich offen. Ich sehe deutlich den Schreibtisch und die dahinter sitzende Person. Die Person ist ein Mann mit einer schwarz und weiß getüpfelten Fliege; er ist ein Fremder für mich.

Der Boy-Mann stellt das Silbertablett auf den Schreibtisch. Der Mann mit der getüpfelten Fliege schenkt Whisky für sich und eine andere Person ein, die meiner Sicht entzogen ist. Der Mann mit der Fliege betätigt den Mechanismus auf dem Krug, und schäumendes Wasser schießt in das Glas, das der Person zukommen wird, die meiner Sicht entzogen ist. Der Boy-Mann macht kehrt, um den Raum zu verlassen, doch der Mann mit der Fliege gibt ihm ein Zeichen und schenkt ihm ein wenig Whiskey ein. Der Boy-Mann lächelt schließlich.

Ich schaue wieder auf den Tisch vor mir. Ich möchte nochmals das Bild des Boy-Mannes mit den Tränen auf seinem Gesicht betrachten. Das Bild ist nicht dort, wo ich es zuletzt sah. Ich betrachte die Illustriertentitelbilder vor den Gesichtern der Leute rings um den Tisch. Ein Gesicht ist hinter Sümpfen verborgen, und darüber kreisen Vogelschwärme, im Umland von Buenos Aires, fernab, aber nicht vor so langer Zeit. Das Gesicht einer jungen Frau ist hinter den Ebenen von Melbourne County verborgen, wo spitzige und dornige Büsche wachsen und Steine und Findlinge liegen. Eine der Personen, deren Gesichter hinter Flachland verborgen sind, ist eine junge Frau mit Seidenstrümpfen. Ich vermute aufgrund der Form ihrer Beine und anderer Anzeichen, dass dies die Frau ist, die ich früher meine Lektorin nannte, als ich auf dem Großen Alföld lebte.

Vor dem Gesicht der Frau mit den Seidenstrümpfen ist die Ansicht einer Landschaft, die dermaßen eben und ausgedehnt ist, dass sie nur in den Steppen Zentralasiens liegen kann. Und jetzt weiß ich, dass diese Frau meine Lektorin ist. Diese Frau mit ihren Beinen in Seide und ihrem Gesicht hinter einer Grasödnis ist Anne Kristaly Gunnarsen, und sie schickt sich an, mich nach all diesen Jahren anzuschauen. Sie hat sich hier mit ihren Helfern versteckt, um den Raum und den Schreibtisch und die Bücher auf den Regalen, die ihre sein sollten, zurückzugewinnen, und sie schickt sich an, mich um Hilfe zu bitten.

Doch ich möchte nicht, dass die Frau mich anschaut. Sie wird mir ins Gesicht schauen, und ich werde mit ihr sprechen müssen. Ich werde ihr erklären müssen, was ich mit all diesen Seiten bezweckte, die ich mit meinem Text bedeckte, als ich ein Mann in der Bibliothek eines Herrenhauses war und sie eine junge Frau, die nahe der Stadt Ideal auf ihre Traum-Prärie hinausschaute. All das ist zu viel, um erklärt zu werden.

Ich lange auf den Tisch nach einer Zeitungsseite, um sie mir vor mein Gesicht zu halten. Die junge Frau senkt vor ihrem Gesicht die Ansicht von Dornengebüsch und Gras und Steinen auf den Ebenen von Melbourne County. Sie ist fast noch ein Kind. Sie wirft die Zeitschrift auf den Tisch. Ich hebe die Zeitschrift von dort auf, wo sie hingefallen ist. Ich schicke mich an, mein Gesicht zu verstecken.

Doch gerade jetzt wird, auf der anderen Seite des Tischs und jenseits des Haufens von Seiten mit Ansichten von Grasländern in vielen Gegenden, die Landschaft in den Steppen von Zentralasien hochgehoben, und ich sehe das Gesicht dahinter.

Das Gesicht ist nur eines von vielen Gesichtern, wie ich sie zu meinen Lebzeiten hier im Komitat Szolnok gesehen habe. Es könnte kaum das Gesicht der Frau gewesen sein, die ich so lange Zeit meine Lektorin genannt habe.

Mein eigenes Gesicht ist aus langer Gewohnheit streng, unerschrocken geblieben. Weder die junge Frau noch das Kind werden je erfahren, dass ich mich über sie getäuscht habe.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.
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