Vorworte

Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schief

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
02.02.2022. Ein überzeugender Charakter? Brandaktuelle Thematik? Um derartige literarische Kriterien schert sich Gerald Murnane nicht. Der lange kaum wahrgenommene australische Schriftsteller hat eine einzigartige Poetik entwickelt, die sein Buch "Inland" in einem Kaleidoskop von Bildern und Reflexionen sichtbar macht.
In loser Folge stellt Angela Schader wichtige Neuerscheinungen vor - immer einige Zeit, bevor sie herauskommen." D.Red.

=======

Gerald Murnane. Foto: © Timothy Hillier/Suhrkamp Verlag
Ein Dreihundert-Seelen-Kaff im Westen des australischen Bundesstaats Victoria. Dort, an einem Seitensträßchen, ein zementierter Hinterhof, flankiert von einem Wellblechzaun. Darin ein Bau aus schmucklosen Sandsteinquadern, "bunkerartig" nennt ihn der Reporter des New York Times Magazine. Das eine Zimmer, das er birgt, ist ringsum vollgestellt mit Aktenschränken. Die Pritsche lehnt tagsüber in der Duschkabine, die dünne Matratze und ein paar Decken liegen auf den Schränken, dann gibt es noch eine rudimentäre Küche, den winzigen Schreibtisch in der Ecke, einen Campingstuhl.

Der Bewohner dieser Unterkunft besucht regelmäßig den lokalen "Men's Shed", eine gemeinnützige Einrichtung, wo pensionierte Männer sich tagsüber treffen und werkeln können, um nicht in Depression und Suff zu versinken. Er kümmert sich dort um die Küche, putzt das Klo, verwaltet die Vereinskasse.

Ein Sozialfall? Dagegen würden einige Leute die Stimme erheben, Leute mit klingenden Namen. Der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee zum Beispiel. Oder junge, auf der Höhe der Zeit arbeitende Autoren wie Joshua Cohen, Ben Lerner, Teju Cole. Manche sehen den Mann als valablen Nobelpreis-Kandidaten. Und egal, wie es um die ihm anvertraute Vereinskasse oder sein privates Konto bestellt sein mag: Gerald Murnane ist reich. Jedenfalls nach seinen eigenen Maßstäben. Denn er weiß, "dass die endlos scheinenden Landschaften meiner eigenen Gedanken und Empfindungen ein Paradies gewesen sein mussten, verglichen mit den eintönigen Gegenden, in denen andere ihr Selbst oder ihre Persönlichkeit oder was immer sie als ihre geistigen Territorien bezeichneten, angesiedelt hatten".

Das tönt arrogant - solange man nicht selbst von den Früchten dieses Paradieses gekostet und zugleich vom harschen Terrain Kenntnis genommen hat, dem sie abgewonnen wurden. Denn Einschränkungen, aufgebürdete ebenso wie frei gewählte, waren von Anfang an Gerald Murnanes Lebensgesetz. 1939 in Melbourne geboren, erlebte er eine von zahlreichen Ortswechseln zerrissene Kindheit: Sein Vater, besessen von Pferdewetten und glücklos dabei, musste immer wieder die Flucht vor seinen Gläubigern ergreifen. Zugleich prägte ein strenger Katholizismus die Jugendjahre des Schriftstellers, der den Priesterberuf für sich erwog, das Seminar dann aber nach nur drei Monaten verließ. Stattdessen arbeitete er als Primarlehrer und Beamter, heiratete, wurde Vater dreier Söhne.

Besessen vom Schreiben, aber glücklos dabei - zumindest wo es um öffentliche Anerkennung ging -, hatte Gerald Murnane mit seiner Frau Catherine eine bedingungslos loyale Verbündete. Als er beschloss, sich ganz der Literatur zuzuwenden, ging sie auf Broterwerb aus, während er sich um die Buben kümmerte und dabei auf dem Küchentisch oder dem Bügelbrett seine Manuskripte ausbreitete. Manuskripte, die in kleiner Auflage gedruckt und bestenfalls mit einem wenig strahlkräftigen Preis dekoriert wurden; darunter der Patrick White Award, gestiftet für Autoren, die "einen bedeutenden, aber unterschätzten Beitrag" zur Literatur des Fünften Kontinents geleistet haben. Ungetrübte Freude kann eine solche Auszeichnung schwerlich bereiten.

Und doch. Und doch änderte sich etwas, obwohl Murnane Anfang der 1990er Jahre seine Hoffnung auf eine literarische Karriere so gut wie begraben hatte. Nach der Jahrtausendwende wurden vergriffene Bände neu aufgelegt, beim australischen Kleinverlag Giramondo fand sein Schaffen eine Heimat. Auch im Ausland wurde man auf den kantigen Eigenbrötler aufmerksam, seit 2017 übersetzt Rainer G. Schmidt seine Werke für den Suhrkamp Verlag ins Deutsche. Nach "Die Ebenen", "Grenzbezirke" und "Landschaft mit Landschaft" steht nun "Inland" - im Original 1988 unter demselben Titel erschienen - auf dem Plan, am 14. Februar geht das Buch in den Handel.

Als Einstieg ins Œuvre eignet sich dieses Werk trotz des behexenden ersten Teils nur bedingt; generell ist Murnanes grüblerisch und manchmal fast schon provokativ in sich kreisender, an ausgreifenden Assoziationsketten orientierter und nie auf Effekt und Entertainment zielender Stil nicht Sache jeder Leserin und jedes Lesers. Aber für diejenigen, die sich in diesen Kosmos hineinziehen lassen, ist "Inland" ein Schlüsselwerk. Denn hier gewinnt ein Literaturverständnis Kontur, das man umkreist wie einen Polyeder, auf dessen Seiten immer neue Spiegel- und Vexierbilder aufscheinen; eine Poetologie, die in diesem Buch selbst noch Dichtung ist und die der Schriftsteller dann gut 20 Jahre später in "Barley Patch" (2009) und "A Million Windows" (2014) weiter ausformulieren wird.

Seine Werke - die Romane und Erzählungen wie auch die zwei zuletzt genannten, zumindest teilweise im Erzähltheoretischen verankerten Titel - möchte Murnane nicht mit Gattungsnamen, sondern insgesamt als "Fiktionen" bezeichnet sehen. Darauf ist zu achten, gerade weil ihre Komponenten längst nicht immer dem entsprechen, was man gemeinhin mit dem Begriff "Fiktion" verbindet - also Darstellungen, die nicht im belegbar Faktischen verhaftet sind. Als "echte" Fiktion dürften in Murnanes Schaffen gemäß diesen Kriterien Werke wie "Die Ebenen", die eine und andere Kurzgeschichte oder der erste Teil von "Inland" gelten, während in anderen Büchern und auch im zweiten Teil von "Inland" das autobiografische Substrat sicht- und greifbar ist; doch hält man mit diesem zwar die Substanz, nicht aber die Essenz des betreffenden Werks in Händen.

Die Rückbindung ans persönliche Erleben wiederum hat mit Murnanes willentlicher Selbstbeschränkung auf die "endlos scheinenden Landschaften meiner eigenen Gedanken und Empfindungen" zu tun. Der Schriftsteller - der sich selbst übrigens jegliche Einbildungskraft abspricht - widmet sich in seinem Schaffen vorab der Erkundung der inneren Bilder, in denen sich Gelesenes, Gehörtes, äußerlich Wahrgenommenes in ihm niederschlugen. Schon als Kind sei er sich bewusst gewesen, notiert er in "Barley Patch", dass gewissen Landschaften, Gesichtern, Melodien, dass Buntglasfenstern oder den farbigen Blousons der Jockeys ebenso wie manchen literarischen Passagen eine besondere Qualität eignete, die ihn zwang, sich diese Dinge dauerhaft einzuprägen. Worin aber diese Besonderheit bestand, konnte das Kind nicht ergründen; unwissentlich häufte es den Schatz an, von dem der Schriftsteller ein Leben lang zehren sollte.

In jedem seiner Werke fächert Murnane diese Bilder anders auf. So spielen etwa in seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten, von der eigenen Kindheitsgeschichte geprägten Erstling "Tamarisk Row" (1974) Pferderennen eine zentrale Rolle: Gerald Murnane hatte - zum Entsetzen der Mutter - die unselige Passion des Vaters geerbt, transformierte sie aber in heimliche, spielerische Formen, die sich im Lauf seines Lebens ins Phantastische weitern sollten: In der Erzählung "The Interior of Gaaldine" wird ein ziemlich irrwitziges Renn-Spiel skizziert, bei dem die Pferde literarisch inspirierte Namen tragen und der Protagonist ihre wechselnden Positionen auf der Bahn anhand eines komplizierten, auf der numerischen Auswertung der Wörter eines literarischen Texts beruhenden Systems bestimmt. Dieses Spiel hat Murnane selbst über Jahre entwickelt, in den Archivschränken seiner Wohnstatt ist es umfassend dokumentiert.

In "The Plains" (1982, dt. "Die Ebenen"), dem Roman, der als Murnanes Meisterwerk gilt, zollt er seiner idealen Landschaft - der endlosen, allenfalls durch eine ferne Baumreihe subtil gebrochenen Weite des australischen Herzlands - in einem nicht minder subtil gebrochenen Szenario und bestechenden Sprach-Bildern Tribut. In "Border Districts" (dt. "Grenzbezirke"), mit dem er 2017 laut eigenem Bekunden sein Œuvre abschließen wollte, wendet er sich Fragen nach Religion und Glaubensverlust zu, ganz im Zeichen seines intensiv visuell geprägten Denkens: So notiert er, wie nach seiner Abkehr vom Katholizismus der reiche, damit assoziierte Bilderschatz plötzlich "ohne Nutzen und Belang" gewesen, aber dennoch "auf irritierende Art präsent" geblieben sei.

Zwischen jenen religiösen Inbildern und denen, welche die Literatur erschafft, zieht eine der Schriftstellerfiguren, die Gerald Murnane in "A Million Windows" als Meinungsträger vorschickt, eine direkte Linie. "Inland", das hier anzukündigende Werk, lässt sich - unter anderem - auch als ein Dokument dieses Glaubensbekenntnisses lesen.

Zunächst aber versetzt das Buch den Leser in ein "echtes" Romanszenario, das zudem - mit Gruß an Italo Calvino - virtuos auf der Klaviatur der literarischen Postmoderne spielt. Der notorisch reisescheue Murnane, der die Grenzen Victorias nach Möglichkeit nicht überschreitet und zeitlebens kein Flugzeug bestiegen hat, spannt hier eine ungewohnt weiträumige Topografie aus: Der erste Charakter, der im Buch das Wort ergreift, sitzt in der Bibliothek eines Landguts im ungarischen Landkreis Szolnok und spinnt Geschichten um seine Lektorin Anne Kristaly Gunnarsen, die am Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies in South Dakota tätig ist. Aber schon auf der ersten Seite scheint beim Blick des Gutsbesitzers über seine Ländereien eine Reminiszenz an Murnanes Ideallandschaft auf, und dies ist nicht das einzige Motiv, das die ungarische Tiefebene, die amerikanische Prärie und die Heimat des Schriftstellers verbindet. Da sind die Farben der ungarischen Flagge, deren Rot-Weiß-Grün dann in unterschiedlichsten Kontexten aufgerufen wird. Da sind die Flusspaare, welche die Geburtsregionen von Hauptfiguren in Ungarn wie in Melbourne umgreifen, oder einige der beziehungsreichen Ortsnamen, die bei einer imaginären Reise über die amerikanische Landkarte aufscheinen: Nebst Disappointment Creek und Paradox finden sich dort auch Balaton, eine Reverenz an den ungarischen Plattensee, oder Bassett - so heißt in "Tamarisk Row" einer der Kindheitsorte des Autors.

Von Anfang an verschwimmt in "Inland" die Grenze zwischen dem, was als Wirklichkeit suggeriert wird, und den Tagträumen des Gutsherrn. Während Ehefrau, Kinder und Hausgesinde ihm seit jeher nicht ganz real erschienen sind, gewinnen nicht nur die Lektorin mit dem funkelnden Namen, sondern auch deren schwedischer Gatte und die intrigante Belegschaft des Instituts Präsenz, bis der Erzähler selbst sich unversehens in dessen teppichgepolsterten Korridoren wiederfindet. Die surreale Szene gibt Gelegenheit für einen der verblüffenden Zoom-Effekte, wie Murnane sie schon in seinem Erstling bot: Aus dem Institutsgebäude reicht der Blick bis zum State Capitol Building in der 400 Kilometer entfernten Hauptstadt des benachbarten Bundesstaats Nebraska.

Der ungarische Gutsbesitzer, der da zwischen Bücherschränken seinen Phantasien nachhängt, dabei immer den Schatten einer nur angedeuteten Schuld im Nacken, ist seinerseits aber lediglich - was: ein Geschöpf? eine Selbstprojektion? ein Double? - des australischen Autors, der nach dem ersten Viertel des Buches das Wort ergreift. Und wie sich das Rätsel jener Schuld am Ende klärt und den ersten Teil in neuem Licht erscheinen lässt - das ist mehr als nur ein postmoderner Zaubertrick. Die Geste illustriert ein zentrales Credo Gerald Murnanes, das "Inland" unter der Hand thematisiert und durchspielt: die Vorstellung, dass jede Fiktion, jede Lektüre Schauplatz einer Art literarischer Seelenwanderung ist.

Für Lesarten, die fiktionale Charaktere in irgendeiner Weise an der Realität messen, hat Murnane nur Verachtung übrig. Nicht einmal im rein literarischen Rahmen betrachtet kann eine Figur seiner Ansicht nach als quasi finite, durch das betreffende Buch definierte Existenz erfasst werden; vielmehr ist sie nur eine der zahllosen Manifestationen dessen, was er "casters of fictional shadows" nennt. Diese "Schattenwerfer" ließen sich - auf die Gefahr hin, der Idee mit dem bei Jung entlehnten Begriff eine etwas falsche Färbung zu verleihen - als eine Art Archetypen beschreiben, die der Literatur übergeordnet sind und sich in einzelnen Texten oder bei deren Lektüre manifestieren. Das Lesen und Schreiben fiktionaler Werke, heißt es in "A Million Windows", sei mehr als nur eine Transaktion, in deren Rahmen eine Person einer anderen Anlass gebe, im Geiste eine Art schattenhaften Film zu sehen. Vielmehr existiere das ganze Unterfangen der Literatur hauptsächlich zu dem Behuf, jene übergeordneten Wesenheiten von Ort zu Ort und von Geist zu Geist huschen zu lassen, als wären fiktionale Texte lediglich Brücken oder Treppen, errichtet, um ihnen diese Reisen zu ermöglichen.

Er sei kein "mumbo-jumbo man", also nicht einer, der sich Aberglauben und Phantasterei hingebe, betont Murnane, als ihn Shannon Burns in einem für die Sydney Review of Books verfassten Autorenporträt auf diese "seltsamen und geisterhaften Präsenzen" anspricht. Dabei kommt die Rede rasch auf eine von ihnen: die junge Frau, deren Schatten über den Seiten von "Inland" liegt und deren Schicksal sich am Ende mit der Wucht eines Blitzschlags offenbart. Wer die Bedeutung dieses Moments bis zum Grund ausloten will, der sollte sich nach der Lektüre des Buches das auf der Website von Giramondo aufgeschaltete Video ansehen (nach unten scrollen), das ein Gespräch zwischen Murnane und seinem Verleger Ivor Indyk festhält. Auch dort ist von jenem Mädchen die Rede; und die Stimme des Schriftstellers lässt dabei jenseits aller Worte ahnen, dass hier das Herzstück seines Schreibens berührt wird.

Indem Murnane in "Inland" diese junge Frau einerseits in einem von anderer Hand verfassten literarischen Werk verortet, sie andererseits aus diesem Kontext löst und in wechselnder Gestalt in die eigene Fiktion und in dahinter liegende Räume projiziert - etwa die Schlafkammer, in der die gespenstische Szene am Anfang von "Wuthering Heights" spielt -, beschwört er einen literarischen Kosmos, den er jedoch raffiniert in der Schwebe hält: Im Bild der Bibliothek wird er zugleich konkretisiert und aufgelöst. So öffnet der ungarische Gutsbesitzer kaum mehr die verglasten Bücherschränke, die ihn rings umgeben; stattdessen betrachtet er die im Glas sich spiegelnden Wolken und sieht vor seinem inneren Auge, wie bedruckte Seiten und Wolken sich zunehmend vermischen und "auf die Himmel und Bibliotheken anderer Länder zu" driften. Auch der australische Erzähler im zweiten Teil lässt die Bände in den Regalen stehen und begnügt sich mit dem Panorama der farbigen Buchrücken, in deren Anordnung er immer ausgedehntere Muster auszumachen sucht. Eine dritte Figur blickt, als sie ein Buch ins Regal zurückstellt, in den Freiraum hinter den gereihten Bänden - und sieht dort eine Szene, die den Schluss der eben gelesenen Geschichte ganz anders darstellt als das gedruckte Happy End.

Verliert das Buch, verliert also, was wir als Leserinnen und Leser gerade in der Hand halten, seine Substanz, Bedeutung, Autorität? Nein. Es kommt, geht man nach "Inland", nur auf den Standpunkt an. Die richtige Sicht, so sagt der australische Schriftsteller im Buch, hätte einer, "der meine Seiten aus seinen Augenwinkeln beobachten und der nicht die Reihen meiner Worte untersuchen würde, sondern die Formen des Papiers, die sich zwischen den Worten zeigten - solch ein Mann könnte schon das Bild einer Mädchen-Frau oder das Bild eines Graslandes oder die Geister solcher Bilder sehen".

"Tell all the Truth but tell it slant", schrieb Emily Dickinson: Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schief. Gerald Murnane zeigt uns den Blickwinkel auf, der solche Wahrheit kenntlich macht.

Hier gehts zur Leseprobe.


Gerald Murnane: Inland.
Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2022. 240 Seiten, gebunden, 22 Euro.

Erscheint am 14. Februar 2022

(Bestellen bei eichendorff21)


Leseprobe