Vorworte

Leseprobe zu Jonathan Escoffery: "Falls ich dich überlebe"

Über Bücher, die kommen.

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Auf Ihre Frage Wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? müsste ich gestehen, betagte Menschen zu jagen. Wenn ich sie fange, zwinge ich sie zunächst auf unbequeme, lädierte Stühle. Dann quetsche ich aus ihnen heraus, ob sie einen Job haben oder monatlich Schecks von einer Nichte bekommen. Ich entlocke ihnen, ob sie eine Katze halten oder rauchen, und wenn ja, ob sie dies in ihren vier Wänden tun. Ich zwinge sie, diverse Formulare zu unterschreiben, vor allem die Eigenständigkeitsvereinbarung, die besagt, dass man in Silver Towers als Mieter unerwünscht ist, wenn man nicht mehr für sich selbst sorgen oder die erforderliche Hilfe nicht finanzieren kann. Ich jage Mieter. Und zurzeit mache ich Jagd auf den Schnellsten.

Carlos Rodriguez bewegt sich ausschließlich rennend fort. Unterhalb des Halses erinnert seine Haut an Dörrfleisch, aber der Typ ist drahtig, und wenn er in Silver Towers an seinen Nachbarn vorbeiflitzt, könnte man ihn glatt für einen jugendlichen Langstreckenstar halten. Wenn ich ihn - als dies noch möglich war - im Fahrstuhl erwischte, lief er stets auf der Stelle. Während er zusah, wie das kleine gelbe Licht von vier auf drei auf zwei sprang, riss er die Knie in der Kakihose hoch, rechtslinks-rechts-links-rechts, seine Sneaker zappelten wie Fische auf dem Trockenen, und wenn ich ihm mitteilen wollte, dass seine jährliche Zertifizierung anstehe, schoss er zur Fahrstuhltür hinaus und warf mir über die Schulter ein schelmisches, wenn auch etwas zahnfauliges Lächeln zu.


Sollten Sie sich beim Manager von Silver Towers erkundigen, dann würde er antworten, dass ich in diesem staatlich subventionierten Wohnprojekt für Senioren als Verwaltungsassistent tätig bin. Und dass ich diese Tätigkeit seit etwas mehr als einem Jahr ausübe. Ich war gerade mal ein halbes Jahr dabei, als seine Assistenz - ursprünglich für die Befragungen der Mieter zuständig - spurlos von der Bildfläche verschwand, und seither erfülle ich zusätzlich ihre Aufgaben, ohne in die entsprechende Position und ohne auf die angemessene Gehaltsstufe aufgerückt zu sein.

Der Manager jagt keine Mieter, sondern knöpft ihnen im Rahmen dessen, was das Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung erlaubt, jeden Cent ab, und das durch Mieterhöhungen - als Grundlage dienen die Resultate meiner Befragungen und der Papierkram, den ich weiterleite.

Papierkram heißt: Legen Sie Ihre kompletten Einkünfte und Ihr Vermögen offen, damit ich die Gewissheit habe, dass Sie nicht lügen. Es heißt: Packen Sie aus, dann kann ich sagen, ob Sie hier weiter wohnen dürfen oder nicht. Ich könnte von den Bestätigungsformularen erzählen, die wir an die Banken und Arbeitgeber unserer Mieter faxen - Guthaben und Einkommen bilden die Berechnungsgrundlage für die rechtlich zulässige Miete. Aber gut, diese Details interessieren Sie sicher nicht. Sie wollen wissen, warum ich mich abends in die Winkel des Gebäudes drücke, wieso ich durch finstere Flure husche wie eine Ratte durch den Ocean Drive. Dazu gleich mehr.

Wichtig ist dies: Sollte es uns in diesem Fiskaljahr gelingen, die Mietsteigerungen bis zur Grenze des Erlaubten auszuschöpfen, dann, so mein Manager, werde er die Verantwortlichen in der Hauptgeschäftsstelle dazu bewegen, mich zum Stellvertretenden Manager zu befördern. Als solcher müsste ich nicht mehr im Auto hausen, sondern könnte mir eine Wohnungsmiete leisten; dann würde ich das Leben eines vollwertigen nordamerikanischen Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts führen. Und das brauche ich.


Der Nachteil daran, in einem Wohngebäude für geringverdienende Menschen die Verkörperung der Mieterhöhungen zu sein, besteht darin, dass einem jeder den Tod an den Hals wünscht. Kein Monat ohne Hasspost, meist in Form von Briefen, verfasst von Angehörigen der Mieter: Wie kommen Sie dazu, die Miete meiner Mutter zu erhöhen? Wollen Sie, dass sie verhungert?, fragen die Briefe. Wenn es Ihnen nicht um Gewinn geht, warum sind Sie dann so verdammt gierig?

Dies ist, staatlich geförderten Wohnraum betreffend, der größte Irrtum überhaupt. Die Leute meinen, es wäre unsere moralische Verpflichtung, älteren Leuten möglichst wenig Miete abzuknöpfen. In Wahrheit hat Silver Towers drei Aufgaben: Immobilienwert steigern, hohe Auslastung sicherstellen, stete Mieterhöhungen gewährleisten.

Nicht nur Letzteres empört die Angehörigen unserer Mieter. In einem Brief hieß es doch tatsächlich: Mein Vater hätte nicht allein sterben dürfen. Wie konnten Sie das zulassen? Wie konnte ich das zulassen.

Die handschriftlichen Botschaften sind am schlimmsten.

Die letzte, vor etwa einer Woche im Briefkasten unseres Büros, lautete schlicht: stirb. Durch die Kleinbuchstaben war es aus irgendeinem Grund noch schlimmer. Hätte es geheißen: STIRB!!!!, dann hätte ich von rasch verrauchendem Jähzorn ausgehen können. Das schlichte stirb dagegen sprach für einen kühlen Kopf. Der Verfasser hatte gründlich über seine Wortwahl nachgedacht.

Zum Glück werden die Pöbeleien oft durch eine katastrophale Orthografie oder eine Fremdsprache gemildert. Vor nicht allzu langer Zeit erhielten wir jedoch ein Blatt Millimeterpapier, dessen Botschaft die Hürden von Rechtschreibung und Sprache geschickt umging. Sie bestand in der Zeichnung eines Strichmännchens, das am Galgen hing. Eine erhobene Hand umklammerte den gekonnt gezeichneten Strick. Ein Pfeil verband den Kopf mit dem Wörtchen . Als ich das Blatt umdrehte, las ich auf der
Rückseite El Jefe.

Gott sei Dank, dachte ich und übergab die Botschaft an meinen Chef mit den Worten: "Ist für Sie."


Würde ich behaupten, mich mit unseren Mietern zu identifizieren, meist Asylsuchende und Flüchtlinge, dann wäre das sicher eine Übertreibung, aber Mitgefühl habe ich schon. Meine Eltern waren keine Wirtschaftsflüchtlinge, sie wollten der Gewalt entrinnen, die die US-Regierung im Rahmen ihres Krieges gegen den Sozialismus während der 1970er auf Jamaika finanzierte. Wenn ich gegenüber Nicht-Jamaikanern das Wort Jamaika erwähne, denkt niemand an CIA-Agenten, Strohpuppen-Premierminister oder historische Kontinuitäten. Stattdessen assoziieren die Leute wild herum, als hätte ich sie mit einer Rap-Chiffre konfrontiert: Bob Marley, irie, ganja, arme Leute, Sandalen, 'ey Mann! Im günstigsten Fall glauben sie, die Geschichte Jamaikas hätte in dem Moment ihren Anfang genommen, als sie ihren Pauschalurlaub buchten.

Der Unterschied zwischen Exilanten und meinen Eltern - und, wenn man's genau nimmt, auch der Unterschied zwischen mir und meinen Eltern - besteht jedoch darin, dass Letztere ein Heimatland haben, in das sie zurückkehren können.

Wenige Wochen vor meinem Collegeabschluss, ich war schon auf dem Sprung nach Hause, wünschte meine Mutter Miami und das ganze verdammte Land zum Teufel - mitsamt Konkurrenzkampf und allem -, nahm die Zwangsvollstreckung und den Verlust ihres Hauses in Kauf und verschwand nach Jamaika. Sie sagt, endlich könne sie wieder atmen. Sie hat das Gefühl, durch das Privileg der relativen Gleichstellung wieder frei zu sein. 2009 war die Mordrate in Kingston so hoch wie nie, und meine Mom erklärte, dorthin zurückkehren zu wollen, um sich endlich wieder sicher zu fühlen.

Die Adresse, die ich in Stellenbewerbungen und auf meinem Lebenslauf angab, war die meines Vaters. Nach etwa drei Wochen bei ihm zu Hause - die Wogen zwischen uns hatten sich so weit aufgetürmt, dass ein Tsunami drohte - zog ich in meinen Raider, parkte an den wenigen Orten, wo weder Gebühren fällig wurden noch Sicherheitsleute lauerten, und fuhr stets kurze Strecken, um Sprit zu sparen und nicht abgeschleppt zu werden. Am Tag des Bewerbungsgesprächs für meinen jetzigen Job füllte ich eine Tasse für Ketchuptuben, die ich in einem Fast-Food-Restaurant geklaut hatte, mit flüssiger Seife und wusch mich einen Block weiter, am South Beach, unter einer Dusche. Ich lüftete meinen Anzug auf der Ufermauer und wartete, bis meine Unterhosen in der Sonne getrocknet waren.

Sie glauben vielleicht, das Beste an einem Job mit Gehaltsscheck bestünde in der Würde fester Arbeit, regelmäßiger Nahrungszufuhr und der Verheißung sozialen Aufstiegs, aber nichts da. Das Beste an einem festen Job besteht darin, ein Klo zur Verfügung zu haben, wo man seinen verknoteten, knallvollen Darm entleeren kann, ohne so zu tun, als wollte man einen Double McFuckery mit Pommes bestellen.

Würden Sie sich bei uns umschauen, dann würden Sie merken, dass die Mieter genau solche Torturen durchlitten haben - vermutlich noch schlimmere. Man sieht es ihren Gesichtern an, den verzerrten Grimassen, den Zuckungen. Sie sind ausgelaugt, von Armut gebeutelt, und das Altern tut sein Übriges. Jene, die ihre letzten Jahre einsam verleben müssen, sind zu bedauern. Jene, die noch familiäre Verpflichtungen haben, sind verflucht. Was mich auf den eingangs erwähnten Typen bringt.
Carlos. Carlos zählt zu den Verfluchten.

Carlos, dessen Einkommen demnächst neu überprüft werden muss, widmet den Großteil der ihm verbleibenden Zeit der Pflege seiner schwer kranken Frau. Vermutlich liegt es an ihr, dass er ständig in Bewegung ist. Wenn er das Gebäude verlässt, dann mit federnden Schritten, dann wirft er die Beine voller Optimismus aus. Wenn er wieder hineinsprintet, liegt aber Sorge in seinem Blick, die Kiefermuskeln sind angespannt, dann wirkt er wie jemand, dem siedend heiß eingefallen ist, dass die Gasflamme noch unter der Bratpfanne züngelt. Stellen Sie sich vor, jahrelang mit einer solchen Belastung leben zu müssen. Bedenken Sie die Folgen.

Wir haben nie ein Prozedere zur Erfassung katatonischer Ehepartner erstellt, und so etwas wie eine Handlungsvollmacht hat uns auch nie interessiert. Also gab ich Carlos im vergangenen Jahr Blankoformulare für die Eigenständigkeitsvereinbarung und alle anderen Formalitäten, die im Rahmen der Einkommensprüfung anstanden, denn seine Frau musste auch unterschreiben. Er kehrte viel zu rasch zurück, und ihre Unterschrift ähnelte viel zu sehr der seinen. Ich hakte nicht weiter nach.

Als ich ihn an unseren diesjährigen Termin erinnerte, meinte er, seiner Frau gehe es nicht gut.

"Trotzdem - es muss bis Dezember erledigt sein."

"Ende Dezember", sagte er und zeigte seine schiefen, grau-braunen Zähne, eine ganze Reihe angekokelter Streichhölzer, dann flitzte er im Flur davon. Während er den Nachbarn auswich, tanzte seine rote Baseballkappe auf und ab wie der Hüpfball eines Kindes, der durch eine Woche alten Schnee springt.


Mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags

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