Vorworte

Leseprobe zu "Mein Onkel, den der Wind mitnahm" von Bachtyar Ali

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Aus dem Kapitel "Mein Onkel und Gott"

Es dauerte mehr als einen Monat, bis er wieder ganz bei Sinnen war und auch alle anderen wiedererkannte. Aber in seinem Schädel drehte sich, wie in einer Spieluhr, nur noch "Gott". Er erinnerte sich daran, dass er gegen die türkische Armee gekämpft hatte, wusste aber nicht, wie und warum. Einer Sache war er sich aber völlig sicher: Bei seinem letzten Flug hatte er Gott gesehen.

Sechs Wochen später rief er Smail und mich zu sich, weil er unbedingt aufsteigen wollte, um Gott noch einmal zu sehen. Ich wies ihn darauf hin, dass die Islamisten, die zurzeit großen Einfluss hätten, seine angeberischen Geschichten sicher als Ketzerei verdammen würden. Gott zu sehen, sei den Menschen nicht gegeben, und seine Behauptungen würden schlimme Folgen haben.

Er aber erwiderte: "Gott bittet nicht um Erlaubnis, wenn er sich seinen Untertanen zeigen will. Wer weiß, was Gott tut und was er nicht tut? Wer so redet, sollte sich schämen!"

Von nun an trat Djamschid als Derwisch und Asket auf. Nichts an ihm erinnerte mehr an den Mann, der eine Zeit lang Marxist, dann Soldat und dann ein Frauenverehrer gewesen war. Nun galt sein unerschütterliches Streben dem einen Ziel: Er wollte Gott verstehen. Zudem wollte er so viele Seile wie möglich kaufen. "Je höher ich aufsteige, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ich Gott begegne", sagte er.

Eines Abends mussten Smail und ich ihn in die menschenleere Steppe außerhalb der Stadt bringen, wo wir ihn wieder aufsteigen ließen. Nach stundenlangem Warten gab er uns das Zeichen, ihn herunterzuziehen. Am Boden angelangt, sagte er, dass er bedauerlicherweise niemanden angetroffen habe. Aber er sei sich sicher, dass er Gott wiedersehen werde. Wir schlugen in der Steppe ein Zelt auf und warteten einen Monat lang auf die Gelegenheit.

Am Ende des Monats landete Djamschid schwindlig wie ein Betrunkener, seine Augen strahlten, und er rief: "Ich habe ihn gesehen! Ich habe Gott gesehen! Er war pures Licht." Er wiederholte uns die Worte, die Gott zu ihm gesprochen hatte: "Ich habe dir dein Gewicht genommen, damit du dich den Gläubigen als Wundererscheinung zeigst. Damit sie sehen, dass Gott zu allem fähig ist und alles erschaffen kann nach seinem Willen. Geh hin und verkünde den Gläubigen, dass du deinen großen Herrn erblickt hast und er dir aufgetragen hat, du mögest fliegen, damit den Menschen des Schöpfers Macht vor Augen tritt."

Ich hielt dies für eine der Halluzinationen, die er in der Luft manchmal hatte. Gleichzeitig konnte ich nachfühlen, dass er nach all den Heimsuchungen und Katastrophen, die ihm auf der Erde zu schaffen machten, nun so hoch wie irgend möglich aufsteigen wollte, um einen Retter und Erlöser im Himmel zu finden.

Bislang hatte er es abgelehnt, sich den Menschen als beflügeltes Geschöpf zu zeigen. Aber nun sah er sich als ein göttliches Wunder und wollte seine Flugfähigkeit einsetzen, um die Mitmenschen in ihrem Glauben zu bestärken. Nach seiner Rückkehr in die Stadt ließ er sich einen Bart wachsen, kaufte sich einen großen Gebetsteppich und fing an, die Gebetspflichten ernst zu nehmen.

In der Familie fand seine Hinwendung zu Gott ein positives Echo. Mein Vater und Onkel Adib waren gläubige Menschen, und Djamschids neueste Entwicklung machte sie glücklich. Sie lobten ihn und kamen bei jeder Gelegenheit auf seine besondere Verbindung zum Himmel zu sprechen.

Smail und ich sahen das alles mit Sorge. Mit seiner neuen Weltanschauung konnte Djamschid großes Unheil über uns bringen. Ich warnte von Anfang an vor der Gefahr, die in seinen Worten steckte. Aber niemand schenkte mir Gehör.

Er zwang uns jetzt, einen Gebetsteppich mitzutragen und ihn jedes Mal zu einer anderen Moschee zu begleiten, um dort zu beten. […] Anfangs konnten ihn Smail und ich dazu bewegen, sich wie jeder andere Gläubige zu benehmen, nichts zu überstürzen und sein göttliches Flugerlebnis nicht zu verraten. Mit unseren Gebetsteppichen unter dem Arm probierten wir einige Moscheen aus, bis wir schließlich die Zwei-Kuppeln-Moschee fanden, in deren großen Hof sich freitags ein Schwarm von Derwischen ergoss. Sie zelebrierten dort ihr Dhikr-Ritual, jubelten und durchbohrten sich Zungen und Wangen mit Dolchen und Spießen. Onkel Djamschid staunte: "Diesen Derwischen werden wir als Ersten meine Botschaft verkünden."

Als der Mullah der Moschee davon hörte, freute er sich und ermunterte meinen Onkel, seine besondere Fähigkeit, die ihm Gott geschenkt hatte, im großen Hof zu zeigen, damit diejenigen, die an der Macht Gottes zweifelten, zum wahren Glauben fänden. Eine Woche darauf, als die Derwische mit ihrem Ritual fertig waren, bat der Mullah die Gläubigen, den Hof der Moschee noch nicht zu verlassen, denn es gebe ein göttliches Wunder, das sie sich ansehen sollten. Smail und ich packten wie üblich unsere Ausrüstung aus und ließen Djamschid mitten im Hof unter lauten Gebetsrufen der Zuschauer in die Höhe steigen. Sobald seine Füße vom Boden abhoben, begannen die Gläubigen zu schreien und zu jubeln.

Von oben herab erzählte er dem fassungslosen Publikum seine Geschichte. Er sprach davon, wie er eines Tages in den Tiefen des Universums Gott gesehen habe, der zu ihm gesagt habe, er solle sich den Moslems zeigen und sie zum wahren Glauben aufrufen. Seine göttliche Fähigkeit beeindruckte die Gläubigen so sehr, dass viele ihn als Heiligen und Gottgesandten, einzigartig in seinem Jahrhundert, betrachteten. Von diesem Tag an schwebte er jeden Freitag im Luftraum der Zwei-Kuppeln-Moschee und berichtete über seine Begegnungen mit Gott.

Was von Anfang an Smails und meinen Argwohn weckte, waren Djamschids geheime Treffen an jedem Donnerstag mit dem Mullah der Moschee. Mullah Qasim Golscheran gehörte zu denen, die meinten, der Frevel habe die Oberhand gewonnen und die Macht in der ganzen Welt an sich gerissen, und deshalb müsse der Glauben mit allen Mitteln gestärkt werden. Mullah Qasim vertrat sehr fantasievolle Ansichten über Gott, Paradies und Hölle, die er Djamschid direkt vermittelte. Er verglich das Paradies mit einer Stadt mit gepflegten Gassen, wo niemals der Strom ausfiele und das Wasser nie abgedreht würde, die Preise wären niedrig, an jeder Ecke stünde ein Süßigkeitenladen, der vierundzwanzig Stunden offen hätte, wo Baklava gratis verteilt würde. Frauen trügen keine Kleider und würden nicht schwanger, auch ohne Pille, und Politik gäbe es nicht.

Dann war das Paradies ja das genaue Gegenteil unserer Stadt!

Jeweils am Tag darauf hob Djamschid ab und hielt von oben eine Rede über seine Zusammenkunft mit dem Allmächtigen, die er von einem Zettel ablas. Er verkündete alles, was Mullah Qasim ihm servierte. Einmal sprach er darüber, wie er in Begleitung der Engel Stufe um Stufe zum Reich Gottes aufgestiegen war, wie er auf langen Wegen an den hellen Galerien und unzähligen Büros vorbeikam, wie er von einem Engel zum nächsten weitergereicht worden sei und dass er sich einige Male im Reich des Gnadenthrons auf den verschlungenen Pfaden der Verwaltung verlaufen habe.

Smail und ich waren die Einzigen, die wussten, dass Djamschid nichts von alldem gesehen hatte. Diese Geschichten hatte Mullah Qasim ihm eingegeben, Djamschid ergänzte sie durch eigene Erfindungen und trug sie den Leuten vor. Jede Woche predigte er über einen weiteren Abschnitt seiner Reise ins Reich des Herrn und beschrieb die unterschiedlichsten Regionen und alle Arten von Engeln. In der Luft schwebend, begann er zu weinen und sagte unter Tränen: "Ich wünschte so sehr, dass ihr mich begleiten und mit eigenen Augen die göttliche Ordnung, die Schönheit und Herrlichkeit des Gnadenthrons, das Glänzen des Goldes und das Funkeln der Smaragde im himmlischen Königreich sehen könntet." Hin und wieder beschrieb er seinen Zuhörern die Hölle. Wenn er zu den Bestrafungen der Ungläubigen in der Hölle kam, schilderte er deren Qualen so beeindruckend und schauerlich, dass die Leute verzweifelt mit ihm heulten und die Hitze des Glaubens ihre Herzen entzündete. Von Mal zu Mal wuchs die Anzahl der Zuhörer, und bald konnten der Hof der Moschee und die angrenzenden Gassen die Menge nicht mehr fassen.

Smail beschrieb die Geschichten, die Djamschid erzählte, als eine wilde Mischung aus Vergils "Aeneis", der Botschaft von Abu l'Ala al-Ma'arri und Dante Alighieris "Göttlicher Komödie", die Mullah Qasim offenbar mit seinen eigenen Fantasien ausgeschmückt hatte. Djamschids Predigt schloss immer mit den folgenden Worten: "Euer kleiner Knecht, Djamschid Khan, Sohn von Hissam Khan, der am Ende seiner Himmelsreise den Allmächtigen sehen durfte. Der unantastbare, segensreiche Herr gestattete seinem demütigen Knecht, ihm zu begegnen, und sagte zu ihm: 'Teile den Gläubigen mit, dass sie Folgendes beachten sollen!'" Und dann las er Gebote ab von einer Liste, die Mullah Qasim ihm zugesteckt hatte: Gläubige dürfen kein Satellitenfernsehen schauen, ihren Ehefrauen sollen sie nicht das Autofahren beibringen, Preistreiberei ist ihnen verboten, sie dürfen ihre Töchter nicht Verkehrspolizistinnen werden lassen … Einmal stand auf der Liste, was der Allmächtige den Männern zu erwerben verbiete: "Weibliche Unterwäsche, Antibabypillen, Schminkzeug und Videokameras. Unser Herr erlaubt nicht, dass Ehefrauen ohne Wissen ihrer Ehemänner mit Schleppern verhandeln, um das Land zu verlassen, dass sie zu männlichen Schneidern gehen, Friseurläden führen, Gurken kaufen oder allein ins Taxi steigen."

Im Anschluss hielt Mullah Qasim eine hitzige Predigt gegen die Ungläubigen und die Trinker, die tiefen Eindruck machte. Einmal kam es sogar so weit, dass Djamschid von oben herab zwei Parfumlisten verlas: Bei der einen handelte es sich um Parfums, welche die Menschen nicht verwenden dürften, weil sie ihren Glauben beeinträchtigten, und bei der anderen um Parfums, die ihren Glauben stärkten. Ein Parfumhändler hatte dem Mullah Schmiergeld gezahlt, um seinen Umsatz zu steigern und die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.

Mit freundlicher Genehmigung des Unionverlags.