Vorworte

Leseprobe zu Mohamed Mbougar Sarr: "Die geheimste Erinnerung des Menschen"

Über Bücher, die kommen.

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Frankreich hat die Fußballweltmeisterschaft gewonnen und unter einem sternklaren Himmel seinen zweiten Stern gefeiert. Ich habe das Spiel zusammen mit Musimbwa angesehen, anschließend sind wir in ein kleines afrikanisches Restaurant essen gegangen, wo die Küche okay, der Service mittelmäßig und für Atmosphäre gesorgt war durch einen alten Koraspieler, dessen Repertoire sich auf die ständige Wiederholung einer langen Mandinka-Ballade beschränkte.

Musimbwa hat einst auf dem Thron des "vielversprechenden jungen afrikanischen Schriftstellers" gesessen. Er stammt aus der Demokratischen Republik Kongo, ist drei Jahre älter als ich, sein Werk umfasst bereits vier Bücher, die im Ghetto und in den Feuilletons der literarischen Welt gleich nach Erscheinen gelobt worden sind. Nach dem Erfolg seines Erstlings hat er seine Arbeit als Barkeeper aufgegeben, und seither widmet er sich der Literatur wie eine Nonne dem Gottesdienst.

Ich erinnere mich, dass ich ihm anfangs misstraute, wenn nicht gar ihn verachtete, als er wie ein roher Meteorit in die Literaturszene einschlug und mit einer Gleichgültigkeit, von der ich nicht wusste, ob sie an Demut oder Arroganz grenzte, Preise, Bewunderung und Lorbeeren einheimste. Dieser Musimbwa ist nur eine Mode, dachte ich, sein Erfolg liegt in der Luft, deshalb wird er sich erkälten und enden wie viele andere, die nach salbungsvoller Beweihräucherung vom Sockel fielen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich natürlich noch keinen einzigen Satz von ihm gelesen. Es nachzuholen hatte genügt, damit meine Eifersucht sich in Neid, der Neid sich in Bewunderung verwandelte, und diese Bewunderung mauserte sich bisweilen zu völliger Verzweiflung, so sicher war ich, dass ich niemals an sein Talent heranreichen würde. Ich halte ihn ohne Einschränkung für unseren primus inter pares, den Besten unserer Generation.

Als ich Anatomie der Leere veröffentlichte, war er der erste Schriftsteller, der über das Buch sprach, ohne mich zu kennen. Er war von der Lektüre begeistert und empfahl es, und obwohl seine Besprechung nicht dasselbe Gewicht hatte wie der Miniartikel in Le Monde Afrique, maß ich seinem Wort, dem Wort eines Schriftstellers, den höchsten Wert bei. Wir begegneten uns, und so begann unsere Freundschaft, geschmiedet aus gemeinsamen Lektüren, geteilter Ablehnung, kleinen Streitigkeiten, ähnlichen Leidenschaften, gesundem Wettstreit, freundschaftlicher Rivalität, die notwendig, männlich und manchmal stürmisch war, dem geringen Altersunterschied und dem endlosen gemeinsamen Herumstromern im buntgemischten und wunderlichen Volk der Nachtschwärmer. Was mich jedoch vor allem mit ihm verband, war der gemeinsame verzweifelte Glaube an die Entelechie des Lebens, die die Literatur für uns verkörperte. Wir dachten keinesfalls, dass Bücher die Welt retten könnten; hingegen hielten wir sie für das einzige Mittel, um nicht vor ihr davonzulaufen.

Nach dem Spiel speiste ich also mit ihm und kam sehr schnell auf meinen Mann zu sprechen.

"Wer noch mal?"

"T.C.Elimane."

"Nein, sagt mir echt nichts. Und wie heißt das Buch? Das unmenschliche Labyrinth?"

"Das Labyrinth des Unmenschlichen!" Ich zitierte und rezitierte den Eingangssatz, "Am Anfang gab es eine Prophezeiung und es gab einen König; und die Prophezeiung …" Es half nichts: Musimbwa kannte es nicht. Ich wollte ihm den Inhalt erzählen, zumindest den unbedeutenden Teil, den ich kannte. Doch ich sah schnell ein, dass man keine Inhaltsangabe machen könnte: Sie würde den Bericht eines Kannibalen ergeben, dessen Zähne mich von innen zernagten. Es ist eine Geschichte, die man unmöglich zugleich erzählen, vergessen und verschweigen kann. Doch wie umgehen mit einem Werk, das weder vergessen noch nacherzählt noch zum Schweigen gebracht werden kann? Hat Wittgenstein etwas dazu gesagt? Er behauptete, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen; ja, das kann man gelten lassen, aber was tun, Herr Wittgenstein, wenn man weder davon sprechen noch darüber schweigen noch es vergessen kann? Ich habe keine Ahnung, aber eines weiß ich: Was der Mensch weder vergessen noch erzählen, noch verschweigen kann, daran leidet er, und letzten Endes stirbt er daran; das wollte ich auf keinen Fall, weder das eine noch das andere. Ich erzählte also, was ich wusste, alles in allem wenig, doch als ich endete, fühlte ich mich nicht erleichtert oder traurig, eher wund an Leib und Seele, als wöge dieses Seinsfragment Tonnen, Jahrtausende, als wäre es mit dem Gewicht seiner Zeitalter über mich hereingebrochen, während ich versuchte, von ihm zu erzählen. Nach meinem Bericht sagte Musimbwa mit dem feierlichen Ernst eines Geständnisses, dass er nie an diese Geschichten von verfemten literarischen Genies geglaubt habe, die beim Schreiben angeblich den Kern des Schweigens oder den tiefen Grund des Vergessens gesucht hatten. Er ließ etwas Zeit verstreichen, sah durch das Fenster nach draußen und fuhr dann fort, als redete er nicht mit mir, sondern mit der Nacht, mit einer unsichtbaren Kreatur der Nacht:

"Sich in seinem Werk auslöschen zu wollen, ist nicht immer ein Zeichen von Demut. Selbst die Sehnsucht nach dem Nichts kann eine eitle Sache sein … Aber sag mal: Hast du dieses Labyrinth des Unmenschlichen schon gelesen? Wohl eher nicht: Du hast gesagt, das Buch sei seit Jahrzehnten nicht mehr aufzutreiben."

"Ich habe es gefunden."

Ich erzählte ihm von der Nacht mit Siga D., zog dann das Buch aus meiner Tasche und hielt es ihm hin. Musimbwa sah mich einen Augenblick an, als wollte er sich versichern, dass ich keinen schlechten Scherz machte, dann nahm er das Buch. Er schlug es sofort auf.

Ich ließ ihn lesen und ging, um es mit der Pariser Nacht aufzunehmen, mit ihrem Fieber, ihren Strömen von Bier, ihrer unbeschwerten Freude, ihrem unbeschwerten Lachen, ihren harten Drogen, ihren Illusionen. Aber sehr schnell überkam mich die Schwermut, die jedem Fest innewohnt, und mein Elan erlosch. Ich war nie fähig gewesen, lange zu feiern. Massenveranstaltungen, Volksfeste, große, stürmische Begeisterungsausbrüche stürzten mich sehr häufig in eine heillose Melancholie, die mich unter sich begrub. Kaum geriet ich in Rausch oder Hochstimmung, fiel mir ihre erbärmliche Kehrseite vor die Füße. Deshalb bin ich nie so lange fröhlich, dass mir die Tristesse der Dinge erspart bliebe: die Tristesse vor dem Fest, die Tristesse nach dem Fest, die triste Aussicht, dass auch dieses Fest unabänderlich enden würde (ein Moment so scheußlich wie der, in dem ein Lächeln in einem Gesicht verblasst), der Anteil, den wir alle an der Tristesse der Menschheit haben und mit dem sich jeder, so gut er kann, herumschlägt wie mit einem Schatten. Manchmal passte ich mich dem Unausweichlichen an. Oder ich setzte mich ganz einfach darüber hinweg und hüpfte mit rasender Unbekümmertheit durch die Runde der erhitzten Tänzer. Meistens jedoch ebbte alles in mir wieder ab. So war es auch an diesem Abend. Ich setzte mich auf eine Parkbank mit dem einzigen Ziel, so wenig niedergeschlagen wie möglich wieder von ihr aufzustehen, ja, überhaupt wieder aufzustehen. Dann holte ich tief Luft und schlüpfte mühelos wie ein Zäpfchen in den bereits geschmierten Arsch der Welt - man hat, um mit Pascal zu sprechen, genug Erfahrung damit, sich ins Unausweichliche zu fügen.

Die Literatur trat mir in Gestalt einer Frau von furchterregender Schönheit vor Augen. Ich stammelte, dass ich sie gesucht hätte. Sie lachte grausam und sagte, sie gehöre niemandem. Ich fiel auf die Knie und flehte sie an: Bleib eine Nacht bei mir, eine einzige erbärmliche Nacht. Sie verschwand wortlos. Ich jagte ihr voller Entschlossenheit und Stolz hinterher: Ich krieg dich schon, ich werde dich auf meine Knie setzen, dich zwingen, mir in die Augen zu sehen, ich werde Schriftsteller sein! Doch immer wenn man sich mitten in der Nacht aufmacht, kommt der schreckliche Moment, in dem eine Stimme ertönt und wie der Blitz auf einen niederfährt; und sie enthüllt einem oder erinnert einen daran, dass der Wille allein nicht genügt, dass Talent nicht genügt, dass Ehrgeiz nicht genügt, dass schöne Sätze nicht genügen, dass es nicht genügt, viel gelesen zu haben, berühmt, umfassend gebildet und klug zu sein, dass Engagement nicht genügt, dass Geduld nicht genügt, dass es nicht genügt, sich ins nackte Leben zu stürzen, so wenig, wie es genügt, sich im Leben aus allem rauszuhalten, dass es nicht genügt, an seine Träume zu glauben oder die Wirklichkeit herauszuschälen, dass Intelligenz nicht genügt, dass es nicht genügt, die Herzen zu bewegen, dass Strategie und Kommunikation nicht genügen, dass es nicht einmal genügt, etwas zu sagen zu haben, so wenig, wie es genügt, erbittert zu arbeiten; und die Stimme sagt auch, dass alles dies eine Bedingung, ein Vorteil, ein Merkmal, eine Kraft sein kann und sicher oft auch ist, doch nichts davon ist wesentlich, wie sie sogleich hinzusetzt, wenn es um Literatur geht, genügt keine dieser Eigenschaften jemals, denn zu schreiben erfordert immer noch etwas anderes, etwas anderes, etwas anderes. Dann verstummt die Stimme und lässt einen einsam zurück auf dem Weg, mit dem Widerhall von diesem "etwas anderes", mit etwas anderem, das sich entzieht und verschwindet, Schreiben erfordert immer etwas anderes von einem, etwas anderes in dieser Nacht mit ungewissem Ausgang.

Zwei Stunden später rührte ich mich wieder. Die Heimsuchung war zu Ende. Ich fand die Kraft, mich zu schütteln wie ein wildes Tier auf dem Trockenplatz und mich von der metaphysischen Beize der Parkbank loszureißen. Ich kehrte in das afrikanische Restaurant zurück. Der Koraspieler spielte weiter seine endlosen Skalen. Musimbwa hatte an unserem Tisch Wurzeln geschlagen. Es fehlten ihm noch eine Handvoll Seiten bis zum Ende des Buchs. Ich bestellte einen Ristretto und wartete. Zwanzig Minuten später sah er auf, richtete seine zugleich erschrockenen und anerkennenden Augen auf mich und meinte dann: "Verdammt, wo ist der Rest?" "Weiß niemand", sagte ich. Ein großer, trauriger Schatten legte sich über seinen Blick, ich wusste nicht, was am Labyrinth des Unmenschlichen diesen Schatten warf - das schmerzliche Bedauern über den fehlenden Schluss oder die unvollendete Schönheit. Wir verharrten einen Augenblick stumm und ernst. Der Wirt entschuldigte sich, er müsse bald schließen, der Koraspieler räumte sein Instrument weg, Musimbwa zahlte, wir gingen.

Nachdem wir auf der Straße wortlos zwei oder drei Minuten gegangen waren, meinte Musimbwa plötzlich voller Überschwang, als hätte er einer Epiphanie beigewohnt, man müsse Das Labyrinth des Unmenschlichen unbedingt Leuten unserer Generation zu lesen geben. Es würde uns befreien. Ich antwortete nicht, doch in meinem Schweigen schwang ein gewaltiges Ja mit.

Aber warum weiterschreiben, es auch künftig probieren nach Tausenden von Büchern wie dem Labyrinth des Unmenschlichen, wenn man den Eindruck hat, dass ihnen nichts hinzuzufügen ist? Wir schrieben weder wegen des romantischen Schriftstellerlebens - die Wirklichkeit ist eine Karikatur davon - noch für Geld - das wäre Selbstmord -, noch für den Ruhm - ein überkommener Wert, den unsere Zeit durch Berühmtheit ersetzt hat -, noch für die Zukunft - sie hat uns nichts aufgetragen -, noch um die Welt zu verändern - es ist nicht die Welt, die verändert werden muss - oder um das Leben zu ändern - es ändert sich nie -, auch nicht aus Engagement - das überließen wir lieber den Schriftsteller-Heroen -, so wenig, wie wir die zweckfreie Kunst feierten - die eine Illusion ist, denn irgendetwas leistet Kunst immer. Aus welchem Grund also schrieben wir? Wir wussten es nicht; und das war vielleicht unsere Antwort: Wir schrieben, eben weil wir es nicht wussten, wir schrieben, um auszudrücken, dass wir nicht mehr wussten, was wir auf der Welt anderes tun sollten als zu schreiben, ohne Hoffnung, aber ohne uns einfach damit abzufinden, unbeugsam, mit Freude und bis zur Erschöpfung, mit dem einzigen Ziel, so gut wie möglich daraus hervorzugehen, das heißt mit offenen Augen: alles sehen, nichts verpassen, nicht blinzeln, sich nicht hinter den Augenlidern verstecken, lieber riskieren, sich die Augen zu verderben, weil man unbedingt alles sehen will, nicht so, wie ein Zeuge oder ein Prophet sieht, sondern so, wie ein Wachsoldat sehen will, ein auf sich allein gestellter, zitternder Wachsoldat in einer bettelarmen und dem Untergang geweihten Stadt, der trotzdem in die Dunkelheit späht, aus der sein Todesblitz aufsteigen und das Ende seiner Stadt kommen wird.

Mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags

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