Vorworte

Leseprobe zu William Melvin Kelley: Ein Tropfen Geduld

Über Bücher, die kommen.
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In der Leseprobe kommen einige Figuren aus Ludlows Umfeld vor, die hier kurz eingeordnet werden. Malveen ist eine Prostituierte, die den Weg des Protagonisten kreuzte, "die Kleine" seine Tochter. Der Posaunist Hardie ist ein langjähriger Freund, Reno ein Mitmusiker in Ludlows derzeitigem Ensemble. Die Sängerin Inez Cunningham schliesslich ebnete dem jungen, blinden Musiker den Weg vom Provinzclub ins New Yorker Musikleben.


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Seit fünf Tagen umschlichen ihn Kopfschmerzen, belauerten ihn. Er wartete auf Ragans Anruf, saß in der Wohnung, wo der Geruch ihres gemeinsamen Lebens noch quälend stark in den Zimmern hing. Wenn er zur Arbeit musste, ging er unwillig, war überzeugt, dass sie anrufen würde, während er weg war. Irgendwann wurde ihm klar, dass sie genauso gut auch bei der Arbeit anrufen könnte, während er spielte. Damit er leicht zu finden war, wenn er nicht auf der Bühne stand, setzte er sich immer in ein kleines Zimmer neben der Küche, in dem die Musiker ihre Mäntel aufhängten.

"Jetzt sollte es nicht mehr lange dauern." Er sprach es laut aus, obwohl er allein war. "Bald weiß sie, was sie will." Er konnte am ganzen Körper seine Kleider spüren, überall da, wo der Stoff seine Haut streifte. Manchmal spürte er sogar die einzelnen Fasern. Um seine Ohren herum fühlten sich seine krausen Haare wie winzige Büschel an.

Frauen trugen ihre Kleider viel enger am Körper als Männer - Unterhosen, Büstenhalter, Hüftgürtel und Strümpfe. Er fragte sich, ob sie ihre Kleider spüren konnten. Wahrscheinlich nicht. Normalerweise konnte er seine auch nicht spüren. Er fragte sich, ob Ragan, im Begriff, ihn anzurufen, ihre Kleider spürte. Malveen musste ihre gespürt haben, damals, vor langer Zeit. Als er ihr den BH ausgezogen hatte, waren Muster auf ihrer Haut zurückgeblieben, kleine Rillen und Hubbel.

Ragan hatte schönere Brüste als Malveen, auch als EttaSue. Sie waren nicht so groß wie die der beiden anderen, aber sie passten perfekt in seine Hand.

Die Kleine hatte inzwischen vielleicht auch schon Brüste. Wenn er sich recht erinnerte, müsste sie nächsten Monat elf werden. Fünfzehnjährige Mädchen hatten manchmal schon große, gut entwickelte Brüste. Vielleicht würde eine Elfjährige zumindest kleine feste Brüste haben.

Draußen schluckte aufbrausender Applaus das Ende von Hardies Nummer. Wenig später begann der Posaunist ein neues Stück. Ludlow hörte eine Weile zu, versuchte zu entscheiden, ob er hinausgehen und sich an einen Tisch setzen sollte. "Nein." Hardie war gut und sein Bassist ebenso, aber der Schlagzeuger spielte zu laut, und der Pianist machte zu viele Fehler.

Vielleicht könnten Hardie und er eine neue Gruppe gründen. Aber dann würde er nicht wissen, was er mit Reno machen sollte. Ludlow klang sowohl mit Renos Tenorsaxophon als auch mit Hardies Posaune gut, aber zu dritt würden sie klingen wie ein gefälliges kleines Tanzorchester.

Sein Hintern fühlte sich taub an, die Füße waren kalt, der Ellbogen tat weh, er hatte zu lange in derselben Haltung dagesessen. Er setzte sich anders hin, konzentrierte sich auf den Schmerz im Ellbogen, und dann lachte er so laut auf, dass er Hardies Musik übertönte. "Auf meine Ellbogen muss ich aufpassen. An denen hält mich schließlich ständig irgendwer." Er stand auf und öffnete die Tür, um Hardies Solo hereinzulassen. Bei Hardie klang selbst die traurigste Ballade heiter und zufrieden. Das lag daran, dass Hardie heiter und zufrieden war, da oben in der Bronx mit seinem Garten, der nach Flieder und Rosen duftete.

Sein Ellbogen tat immer noch weh, und er rieb ihn. "Ohne meine gottverdammten Ellbogen hätte ich niemals mit Inez gespielt." An seinem ersten Tag in New York hatte ihn ein Fremder, ein Schwarzer, am Ellbogen genommen, gefragt, wo er hinwollte, und dann angeboten, ihn zu dem Theater in Harlem zu führen, wo Inez Cunningham arbeitete.

Ludlow steckte den Kopf aus der Tür. Zu seiner Linken schepperten Töpfe und Pfannen, Geschirr klapperte in einer Blechwanne, Besteck rasselte, die Kellner schrien herum, und dieses Getöse lenkte ihn ab. Er tastete sich an der Wand entlang Richtung Küche, fort von der Musik, und schob sich durch die leichtgängige Schwingtür. Ein ohrenbetäubendes Scheppern von Geschirr.

"Hey, du blöder Trampel!" Die Stimme kam vom Boden.

Ludlow brüllte bereits: "Macht nicht so einen gottverdammten Krach!"

Stille legte sich auf seine Haut, dann rauschte in der Ferne Wasser. Eine Sekunde lang erschauerte er unter einem Wasserfall.

"Du blöder, blinder Trampel. Ich muss für zerbrochenes Geschirr bezahlen, Mann." Es war kaum mehr als ein Flüstern, das vom Boden aufstieg, gerade noch hörbar inmitten des Geklappers.

"Was? Schnauze!" Bei dem Versuch, in Richtung der Stimme zu treten, verlor er kurz das Gleichgewicht, stürzte aber nicht.

Vereinzeltes Gelächter, Gebrummel. Schlurfende Schritte näherten sich, wie an seinem ersten Tag im Heim.

Ängstlich stolperte er zur Tür, schob sich hinaus in den Flur. Als die Wand endete, bog er durch die offene Tür in das Garderobenzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er setzte sich, konzentrierte sich auf Hardie. Dessen Ton war so voll, dass es Ludlow vorkam, als säße er beim Zuhören direkt im Trichter der Posaune, spürte das Blech schwingen und vibrieren. Vielleicht würde er Hardie das mit Ragan erzählen. Vielleicht konnte Hardie sie erreichen und ihr sagen, dass sie anrufen sollte.

Er war durstig und hätte sich gern in der Küche ein Glas Wasser geholt, aber die Kellner und Köche würde ihm wahrscheinlich keins geben. Er konnte an die Bar gehen und sich etwas zu trinken bestellen, an der Bar mochten sie ihn. Er stand auf und öffnete die Tür, trat hinaus und stieß gegen jemanden. "Wo willst du denn hin? - Hey, du siehst aber nicht gut aus." Es war Reno.

Er ignorierte den Kommentar und beantwortete die Frage: "Was zu trinken holen." Allerdings war er sich nicht mehr sicher, ob er das noch wollte. Er hatte plötzlich Lust auf Honig und festes Brot, wie das aus Europa. Es würde wie eine Honigwabe schmecken. Ragan und er waren mal aufs Land gefahren und hatten eine Wabe gekauft. Er wollte nicht daran denken. "Wie lang dauert's noch, bis wir spielen?"

"Eine Viertelstunde. Hey, sag mal, ist dir nicht gut? Vielleicht solltest du - "

"Kümmer dich um deinen eigenen Kram, ja?" Seine rechte Hand ballte sich zur Faust und sauste in Richtung von Renos Stimme. Er versuchte es noch zu verhindern, doch vergebens. Er traf nicht, und seine Faust zog ihn an die gegenüberliegende Wand.

"Was ist denn mit dir los, Ludlow?"

Sein Kopf und sein Magen schienen miteinander verbunden zu sein, zwischen ihnen floss Schmerz. Er stolperte auf Reno zu. "Tut mir leid, Mann. Wirklich. Das wollt ich nicht. Das weißt du doch, oder?"

"Klar, Ludlow. Sag mal, was ist mit dir?" Reno war verstört.

Vielleicht würde Reno, der immerhin auf dem College gewesen war, ihm erklären können, warum Ragan gegangen war. Allerdings hatte Ludlow nicht den Mut, ihm zu sagen, dass sie gegangen war, deshalb tarnte er die Frage. "Hör mal, ich würd dich gern was Wichtiges fragen."

"Bitte." Reno war argwöhnisch.

"Du warst doch auf dem College, stimmt's? Was glaubst du, was die Weißen von uns wollen?"

"Meinst du das ernst?"

"Ja, absolut."

Reno fing langsam an, erwartete irgendeinen Scherz. "Sie wollen, dass wir das sind, wofür sie uns halten." Er hielt inne. "Und was genau das ist, hängt von dem jeweiligen Weißen ab, mit dem man gerade zu tun hat. Kannst du mir folgen?"

"Ja. Ja." Es leuchtete ein, was der Junge da sagte.

"Die meisten von ihnen wollen uns für ungefährlich halten. Und das bedeutet, sie wollen, dass wir keine Menschen sind. Denn wenn ich eins gelernt hab auf dem College, dann dass Menschen von Natur aus gefährlich sind." Er war verlegen. "Verstehst du?"

Ludlow nickte. Reno hatte ihm soeben die Antwort gegeben. Er wusste jetzt, warum Ragan gegangen war, wusste, was er tun musste, damit sie zurückkam. "Mir ist nicht gut, Mann. Ich brauch ein bisschen frische Luft. Kannst du mich zur Tür bringen?"

"Klar, aber meinst du nicht - "

"Bring mich bitte zur Tür, ja?"

Reno nahm ihn am Ellbogen, führte ihn durch den Flur und in den eigentlichen Nachtclub. Hardie spielte gerade ein Solo, steigerte sich, ein schneller Blues. Hardie, dachte Ludlow, hatte den Weißen immer vermittelt, dass er nicht gefährlich war. Deshalb hatten sie ihm erlaubt, glücklich zu sein.

Sie erreichten den Fuß der Treppe, die zur Straße hochführte. "Schaffst du das allein?"

Ludlow nickte. "Tust du mir einen Gefallen? Wartest du hier, bis ich wiederkomme? Dauert nur fünf Minuten."

"Soll ich dich nicht lieber begleiten?"

"Nein. Muss über was nachdenken."

Er ging die Treppe hinauf, trat aus der Tür in den kalten Wind. Seine Nase begann zu laufen, es fror ihn am Hals. Er hatte seinen Mantel vergessen. Sein Stock glich einem Eiszapfen. Er wandte sich nach rechts, bog an der Ecke erneut rechts ab. Jetzt sollte er fast da sein. Er legte die Hand auf kaltes Glas, tastete sich in einen Eingang, öffnete die Tür. "Ist das ein Zauberladen hier?"

Die Stimme des Verkäufers kam hinter einem Radio hervor, in dem populäre Geigenmusik lief. "Ja?"

Ludlow schloss die Tür. "Haben Sie Schminke?" Der Verkäufer kam wütend auf ihn zugestürmt. "Euch gottverdammte Tunten will ich hier nicht haben!"

Ludlow hob die Hand mit dem Stock. "Ich mein Theaterschminke, so wie sie in Minstrel-Shows verwendet wird. Blackface." Als er noch mit Inez Cunningham gespielt hatte, waren sie in einem Programm direkt nach einer Minstrel-Show aufgetreten. In den Kulissen stehend hatte er sich die grausamen Witze angehört, die schleppende Redeweise von Weißen, die Schwarze imitierten. "Schwarze Schminke. Haben Sie so was?"

Der Verkäufer war verdutzt. "Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, oder wie?" Das gehörte wahrscheinlich auch dazu. Ein paar Leute würden so tun, als begriffen sie nicht, was Ludlow tun musste.

"Also?"

"Nehmen Sie's mir nicht übel, Kumpel, aber … Sie brauchen so was wirklich nicht."

"Haben Sie die Schminke?"

"Ja sicher. Nichts für ungut." Er ging um den Ladentisch herum. Eine Schublade wurde aufgezogen, Dosen klapperten. Dann kam er wieder. "Hier, das ist sie. Die ist schwarz wie - die finsterste Nacht." Er lachte nervös. "Nicht böse gemeint."

Ludlow hatte nicht viel Zeit. "Was macht das?"


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hoffmann und Campe