Vorworte

Hinter den Bergen der Nacht

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
16.08.2022. Nein, so naiv sind wir nicht, dass wir einen Titel wie "Das Leben ist kein Abgrund" zum Nennwert nehmen würden. Die Amerikanerin Jean Stafford, die ihn über eine ihrer erschütterndsten Short Stories setzte, hat auch im eigenen Leben mehr Abgründe ausgelotet als Höhen erstiegen - ausser in ihrem Schreiben. Eine Auswahl ihrer Erzählungen erscheint demnächst bei Dörlemann.
Jean Stafford. Bronx Zoo, 1947. Photograph courtesy of Robert Giroux
Sie sei ein stilles Kind gewesen, das im Gegensatz zu den Geschwistern nicht jammerte, schrie oder tobte, erinnert sich Marjorie Stafford an ihre kleine Schwester Jean. "Normalerweise hielt sie ihren Protest zurück, bis sie die treffenden, vernichtenden Worte dafür gefunden hatte." Blitzend geschliffene Sprache ist nicht die einzige, aber wohl die beste Waffe, wenn man es als Jüngste mit einem zerstrittenen Elternpaar und drei älteren Geschwistern aufnehmen muss; und vielleicht hat die 1915 geborene amerikanische Autorin Jean Stafford aus dieser Erfahrung heraus Kindheit, Schreiben und Ironie in ihrem späteren Denken zur Trias verbunden. "Meine Theorie über Kinder ist auch meine Theorie über das Schreiben", sagt sie 1957 im Interview mit dem Boston Sunday Herald. "Ironie ist das Wichtigste beim Schreiben, und wir finden Ironie am klarsten ausgeprägt bei Kindern. Auch und gerade die kindliche Unschuld ist Ironie."

Tatsächlich finden sich zahlreiche Kinderfiguren in Staffords Œuvre; aber die Ironie, die sie umspielt, ist nur ausnahmsweise - etwa bei den Auftritten der so kecken wie leselustigen Kleinstadtgöre Emily Vanderpool - von heiterer Art. Wenn dagegen die unscheinbare Molly in "The Mountain Lion" Heiratspläne und Paarkonstellationen entwirft, die Erwachsene erbleichen lassen, dann drückt sich darin letztlich die Not eines unwissenden, nach Zuneigung hungernden Herzens aus; wenn ihr Bruder Ralph, mit dem sie als Kind noch Valentinskarten getauscht hat, ihr später nach einem Streit die Schädel zweier Hirsche schenkt, die beim Kampf mit verkeilten Geweihen gestorben sind, dann ist die vermeintliche Versöhnungsgabe faktisch das schiere Gegenteil, nämlich ein bitteres Epitaph auf die einzige Liebe, die Molly erfahren hat.

Im Gegensatz zu Molly ist die fünfjährige Hannah in der Kurzgeschichte "Cops and Robbers" ein reizendes Geschöpf - bis ihr der Vater in einem eigentlich gegen seine Frau gerichteten Racheakt die prächtigen Locken scheren lässt. Hannah ist zwar zu klein für eine ironische Sicht aufs Leben, nicht aber für das Leiden an ihrer paradoxen Situation: Zwar gibt es im Familienkreis kaum mehr ein Thema ausser ihrer Schmach, doch mit ihr selbst spricht niemand. Sie spürt, wie ihr Recht, wahrgenommen und geliebt zu werden, verfällt; wie sie, obwohl nackter und exponierter als je in ihrem Leben, unsichtbar geworden ist.

Einen ähnlichen Härtegrad weisen die Ironien auf, die sich in Jean Staffords Biografie ausmachen lassen. Nimmt man ihre im Original 1969 erschienenen "Collected Stories" zur Hand - neben "The Mountain Lion" ihr kostbarstes literarisches Erbe -, dann mag man wohl über der Vorbemerkung der Autorin stutzen. Zwei Drittel des kurzen Texts sind den literarisch völlig unbedeutenden Schriften ihres Vaters und einer entfernten Verwandten gewidmet, das eigene Schaffen wird mit drei am Schluss hingeworfenen Sätzen eher weggewischt als beleuchtet. In diesem seltsamen Zeugnis lässt sich der lange Schatten ahnen, den der Vater über das Leben der Schriftstellerin warf. Als Jean fünf Jahre zählte, verjuxte er binnen Jahresfrist sein Vermögen mit dilettantischen Börsenspekulationen und verbiss sich fortan in die Schriftstellerei: Erfolglosen Western-Romanen folgten nicht minder erfolglose Versuche, als Kommentator und Kolumnist zu Ruhm und Geld zu kommen. Mit ihren mehrfach ausgezeichneten Werken scheint Jean Stafford auf den ersten Blick das schiere Gegenteil des Vaters; doch hinter und unter den publizierten Romanen und Short Stories liegt eine ganze Anzahl abgelehnter oder gescheiterter Romanentwürfe, mit denen sie sich teils über Jahrzehnte abquälte. Und gegen Ende ihres Lebens, als die literarische Inspiration endgültig versiegte, verlegte sie sich, wie einst der Vater, auf Essays, die eine ziemlich überholte Weltsicht propagierten.

Als so grimmige wie tragische Realsatire stellen sich auch die ersten Männerbeziehungen der Schriftstellerin dar. In ihrem literarisch ambitionierten Mitstudenten James Robert Hightower fand sie einen Geistesverwandten und Vertrauten, der sich von der Beziehung freilich mehr erhoffte. Noch als Stafford bereits mit ihrem künftigen Ehemann, dem Dichter Robert Lowell, liiert war, mutete sie Hightower eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Annäherung und eisiger Zurückweisung zu, deren Krönung der Brief war, mit dem sie ihm im Dezember 1939 ihre Verlobung mit Lowell ankündigte. Der Erwählte, so schrieb sie, "tut eben, was man mit mir seit jeher hätte tun müssen: Er dominiert mich". Allerdings ahnte sie da noch nicht, welche Form diese Dominanz schon bald annehmen sollte. Lowell wandte sich dem Katholizismus zu und nötigte Jean - die ehrlich, und gerade deshalb mit beschränktem Erfolg, um den Glauben rang - eine rigorose religiöse Praxis auf. Zwei Rosenkränze pro Tag, Morgenmesse, Abendsegen, freitags Fisch, und bitte nur ernsthafte Literatur.

Ein hässlicher, für Stafford folgenreicher Autounfall war dieser Ehe wie ein Warnsignal vorausgegangen, verschuldet vom damals noch ganz weltlichen, stockbetrunkenen Lowell. Sie endete, nicht minder hässlich und ziemlich unchristlich, in Streit, Untreue des Gatten, einer Scheidung, durch welche die Schriftstellerin auch ihr geliebtes Heim verlor: ein altes Haus im ländlichen Damariscotta Hills, erworben mit dem Geld, das ihr unverhofft erfolgreicher Debütroman, "Boston Adventure", eingetragen hatte. Ein ganzes Jahr verbrachte sie nach der Trennung in der Klinik, um den physischen und seelischen Zusammenbruch zu überwinden; es sollte nicht der einzige in einem von Alkoholsucht, Selbstzweifeln und Einsamkeit unterwühlten Leben bleiben.

Ein Maß an emotionaler Sicherheit fand Stafford erst 1956, als sie den zehn Jahre älteren Abbott Joseph Liebling kennenlernte, der wie sie selbst für den New Yorker schrieb und der ihre Arbeit bewunderte. Als Reporter für ein breites Themenspektrum - von Politik und Kriegsberichterstattung über das New Yorker lowlife bis zu Sport und Kulinarik - zuständig, war Liebling ein robuster Mann, der auch zu leben wusste; unter seiner Fürsorge blühte die fragile Schriftstellerin auf, drei Jahre später heiratete das Paar. Ihrer Schaffenskraft allerdings kam die glückliche Zeit nicht zugute - im Gegenteil: Staffords Biografin Ann Hulbert spekuliert, dass gerade die Produktivität ihres Mannes sie blockiert haben könnte. Anfang der 1960er Jahre wendete sich das Blatt auch für ihn. Liebling erkrankte, begann an Depressionen zu leiden, die Mittel wurden knapp; nach seinem Tod im Dezember 1963 stürzte Jean Stafford erneut in eine akute gesundheitliche Krise.

Ihre letzten fünfzehn Lebensjahre waren von Krankheit und Orientierungslosigkeit überschattet, und zweieinhalb Jahre vor ihrem Tod holte das Schicksal zu einem letzten Schlag aus, der sich ebenfalls im Zeichen einer grausamen Ironie lesen lässt. Jean Stafford, die für das Wort gelebt und mit ihm gerungen hatte, verlor nach einem Schlaganfall im November 1976 weitgehend die Sprache. In der Therapie ging sie - sich selber treu - dennoch den härtesten Weg: Sie neige dazu, "nach einem mehrsilbigen Wort zu suchen, statt sich des gewöhnlichen, umgangssprachlichen zu bedienen, das ihr problemlos zu Gebot stünde", notierte einer ihrer Ärzte.

2020 hat der Dörlemann Verlag mit einer von Adelheid und Jürgen Dormagen besorgten Neuübersetzung von "The Mountain Lion" (dt. "Die Berglöwin") auf die im deutschen Sprachraum längst vergessene Autorin aufmerksam gemacht. Messerscharf und dennoch zutiefst einfühlsam zeichnet der im Original 1947 erschienene Roman den quälenden Zerfall einer symbiotischen Geschwisterbeziehung nach; in seiner herben Schlankheit markiert er einen bemerkenswerten Entwicklungsschritt gegenüber dem drei Jahre zuvor erschienenen "Boston Adventure". Ihren Erstling hatte Stafford selbst als "eine bewusste Nachahmung Prousts" bezeichnet; die subversive Schilderung der Bostoner Elite weist aber auch der Einfluss von Henry James aus. Allerdings setzt Stafford mit dem ersten Teil des Romans einen markanten Kontrast zum Schaffen der beiden Meister: Die Kindheitsgeschichte der Protagonistin Sonie, die als Tochter armer europäischer Immigranten in einem Fischerdorf nahe Boston aufwächst, ist eine sinistre, von Zwietracht, Hass und Wahn durchwirkte Milieustudie, deren psychologische Dimension sich im zweiten Teil in einem faszinierenden Motiv weiterentwickelt.

Gegenüber den ersten beiden Werken wirkt "The Catherine Wheel" (1952), Jean Staffords dritter und letzter Roman, seltsam konstruiert und blutleer. Er bietet, wie "Boston Adventure", reiche und detailliert ausgearbeitete Gesellschaftsporträts, fixiert aber die Hauptfiguren - insbesondere den zwölfjährigen Andrew - in einer Obsession, die nicht durchs ganze Geschehen trägt; zudem leistet sich die Schriftstellerin gegen Ende einiges an melodramatischer Symbolik. Dass ihr lebenslanges Ringen mit der großen Form nur gerade zwei überzeugende Romane hervorbrachte, mag schon ein Hinweis sein, dass ihre eigentliche Stärke im Kondensat der Kurzgeschichte lag. Zu Recht hat Joyce Carol Oates in ihrer Einführung zu den "Collected Stories" Staffords Erzählungen für ihren weiten, europäische wie auch unterschiedliche amerikanische Schauplätze übergreifenden Horizont und ihre stimmliche und stilistische Bandbreite gepriesen; mit "Das Leben ist kein Abgrund" legt Dörlemann nun eine erneut von den Dormagens besorgte und mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen abgerundete Auswahl dieser Texte vor.

Während die übergreifende englischsprachige Sammlung die Erzählungen anhand der Handlungsorte sortiert, bot sich für die schmalere deutsche Ausgabe die chronologische Reihenfolge als Ordnungsprinzip an, da nicht alle Themenbereiche in gleicher Breite repräsentiert sind. Die in Europa handelnden Geschichten etwa, die mit dem "transatlantischen Thema" auch die Nähe der Schriftstellerin zu Henry James markieren, sind nur mit einem - allerdings meisterlichen - Beispiel vertreten. In einem heruntergekommenen belgischen Spielkasino demontiert ein Mann sacht und klug eine keimende Liebesbeziehung; als Kulisse setzt Stafford eine grimmige Skizze des Badeorts Knokke-le-Zoute dahinter, mit von plumpem Zierrat überwucherten Häusern und grotesken Gärten: "Selbst die Blumen täuschten etwas vor, die Hortensien sahen wie Küchenutensilien aus, und die Geranien schienen Essbares zu sein, wenn auch nicht gerade schmackhaft."

Den Kontrapunkt zu solch überzüchteten Settings markiert die von der Kindheitswelt der Schriftstellerin geprägte Landschaft am Fuß der Rocky Mountains, wo "Dunkler Mond" angesiedelt ist, der erste erzählerische Text, mit dem sie 1944 an die Öffentlichkeit trat. Die Handlung ist auf ein Minimum reduziert: Die elfjährige Ella reitet abends zu Bekannten, wo sie die Kinder hüten soll, und beobachtet dort eine Mondfinsternis, allein - die Kleinen schlafen längst - und ohne zu wissen, was sich da abspielt. Wer einmal erlebt hat, wie Sonne oder Vollmond vom Erdschatten aufgezehrt werden, kann den Schauder nachempfinden, der das Mädchen packt; der in Panik umschlägt, als auch noch die Kerosinlampen im Haus eine um die andere erlöschen. Das Hauptereignis bettet Stafford in weitere Naturmotive ein, in denen sich die nächtlich-bedrohliche Atmosphäre verdichtet und mittels deren zugleich der Charakter der Protagonistin herausmodelliert wird.

Auch in "Ein Sommertag" spielt ein einsames Kind die Hauptrolle, doch vom Setting her mutet die Erzählung an wie eine Kippfigur von "Dunkler Mond". Unter dem Sonnenglast breitet sich die wie ausgeräumte Landschaft aus, in die der achtjährige Jim Littlefield geworfen wird: Man setzt den Cherokee-Jungen, der seine ganze Familie verloren hat, mit nichts als Hemd, Hose und etwas Proviant versehen in den Zug, mit dem Versprechen, "Onkel Sam" werde sich seiner annehmen. Am Ende der Reise wartet der Bub lange an einer Bahnstation mitten im Nirgendwo, bis ihn ein Wagen aufliest und in ein Waisenheim im Indianerreservat bringt. Still ist es dort, menschenleer der Spielplatz, auf den man den Neuankömmling - durstig und hungrig, wie er ist - schickt. "Eine Rutsche, ein paar Schaukeln und eine Wippe waren da, doch sie sahen aus wie abgenagte Knochen." Schliesslich stößt Jim auf einen Jungen mit flammend entzündeten Augen, fragt ihn, wo es etwas zu trinken gebe. "Das Wasser ist giftig", kommt es zurück. "Es gibt hier eine Seuche."

"Ich kann nur über Einsamkeit schreiben - wenn ich nicht frontal attackiere -", notiert Jean Stafford im Juni 1947 in ihrem Tagebuch, "nur über eine halb wahnsinnige Abgeschiedenheit." Um dieses Kernthema kreisen auch zwei Stories, die sich ganz der gründlichen Demontage ihrer Titel widmen, nämlich "Ich liebe jemanden" und "Das Leben ist kein Abgrund". Durch den Schleier von Komik, den die Autorin über den Anfang der letzteren Erzählung breitet, tritt immer deutlicher die trostlose Szenerie eines Armenhauses hervor, und der aus dem Radio tönende Song, dem die Titelzeile entnommen ist, zerschellt auf dem dramatischen Höhepunkt förmlich im Echo, das er bei einer Insassin auslöst. Blind, stumpf, mit "toten, weit offenen Augen" im bis auf die Knochen ausgezehrten Gesicht, wird sie durch das Lied aus ihrer Lethargie gerissen, doch kein Leuchten scheint in ihrer hektischen Freude auf - nur mehr "etwas Nacktes und Unmenschliches und Unnennbares". Der New Yorker mochte dieses ins Herz schneidende Bild seiner Leserschaft seinerzeit nicht zumuten.

Einen Schwerpunkt legt die deutsche Auswahl auf autobiografisch grundierte Erzählungen. "Die Philosophiestunde" zeigt Cora Savage, ein Alter Ego der Schriftstellerin, in ungewohnter Pose, nämlich als Aktmodell vor einer Zeichenklasse. Bar aller lasziven Sinnlichkeit thematisiert der Text die Qual des endlosen, reglosen Ausharrens, das seltsame Gefühl, wenn Cora nach dem Weggang der Studentinnen und Studenten zwischen den Staffeleien herumstreift und die vielfältigen Zerrbilder ihrer selbst mustert. In der geschilderten Lektion lenkt der draußen fallende Schnee sie für eine Weile von der körperlichen Pein und Anspannung ab, sie denkt an Berkeley, der mit seiner radikalen Erkenntnistheorie "die Welt der eigenen Wirklichkeit beraubt" hatte - bis die Nachricht vom Suizid eines Kommilitonen in die Stille des Zeichensaals bricht. Cora hat ihn gekannt, sein scheinbar vollkommenes Glück stand ihr noch am Vorabend vor Augen. Hinter der Männerfigur darf man Jean Staffords engste Studienfreundin vermuten, die brillante, eigenwillige Lucy McKee. Stafford war in ihrem Haus zu Gast, als Lucy sich 1935 das Leben nahm.

Gleich drei Erzählungen umkreisen die Zeit mit Robert Lowell. "Ein Andrang von Dichtern", der letzte zu Lebzeiten der Schriftstellerin veröffentlichte Text, schildert faktennah und eindringlich, aber ohne Wehleidigkeit den Niedergang und Zerfall dieser Ehe, während "Eine ländliche Liebesgeschichte" die Entfremdung und innere Vereinsamung der weiblichen Hauptfigur in ein stark abgewandeltes und fiktionalisiertes Setting transponiert. Die außergewöhnlichste der drei Stories ist zweifellos "Die innere Burg". Den Titel übernahm Stafford von einer Schrift der Mystikerin Teresa von Ávila, inhaltlich aber geht es um den schweren Autounfall ein gutes Jahr vor der Heirat, bei dem die Autorin massive Kopfverletzungen erlitt. Die Erzählung schildert eine besonders komplizierte und qualvolle Operation, der sie sich in der Folge unterziehen musste; von Anästhetikum und Beruhigungsmittel nur halb betäubt, bekommt sie mit, dass der Arzt dicht am Hirn operiert. Panik packt sie; während das Skalpell wühlt und schabt, fühlt sie hinter einer letzten, spinnwebdünnen Schutzschicht ihr Gehirn um sein Leben zittern - und dann der magische Moment der Transzendenz: "Dieses Mal, und nur dieses Mal, sah sie ihr Hirn in einem muschelrosa Seidenfutteral liegen. Es war eine rosa Perle, nicht größer als ein Nadelöhr, aber es war so schön und so rein, dass seine Kleinheit nichts ausmachte."

Das bittere Erwachen folgt schnell - und in einem der unpublizierten Manuskripte findet sich ein spätes, makabres Gegenbild zu dem Motiv. Zwar ist es eine Figur, die spricht, doch lässt sich die Passage als erschütterndes Selbstzeugnis der Schriftstellerin lesen: "Inmitten der sich herabsenkenden Berge der Nacht", heisst es dort, "begann ich, der Sucht derjenigen zu frönen, die wunden Herzens sind, dieser verbissenen Jagd nach der falschen Abzweigung, dem mühseligen, beharrlichen Nachverfolgen der erratischen, strauchelnden Schritte, die uns zum Tiefpunkt unserer Welt führten. (…) Die Trümmer meines zerschmetterten Selbst lagen in einem blutigen Haufen in meinem Schädel, jenseits aller Heilung, jenseits aller Wunder."

Hinter den "Bergen der Nacht" aber, in Jean Staffords literarischem Werk, ist die Perle bewahrt geblieben.

***

Jean Stafford: Das Leben ist kein Abgrund
Stories.
Aus dem Amerikanischen
von Adelheid und Jürgen Dormagen, mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen.
Dörlemann Verlag, Zürich 2022. 336 Seiten, 26 Euro.

Erscheint am 24. August 2022

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