9punkt - Die Debattenrundschau

Gedanken zur Elitenkritik

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2018. Illiberale Demokratien gibt es nicht, nur undemokratische, warnt die NGO Democracy Reporting International in der SZ. Hat Alexander Gauland eine Rede Hitlers für seine Elitenkritik in einem FAZ-Kommentar zur Vorlage genommen? Das behauptet Wolfgang Benz im Tagesspiegel. Wer soll die Probleme denn richten, wenn nicht die Eliten, fragt der Literaturwissenschaftler Alfred Koschorke in der NZZ: Egomane Clowns? Neue Cybercrime-Gesetze machen die arabische Welt zu einem einzigen Freiluftgefängnis, warnt die jordanische Journalistin Rana Sabbagh auf Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.10.2018 finden Sie hier

Europa

Polen oder Ungarn werden gern als "illiberale Demokratien" bezeichnet - ein Begriff, den Nils Meyer-Ohlendorf und Michael Meyer-Resende von der NGO Democracy Reporting International nicht gern hören. Denn was heißt das? Doch nur, dass es zwei Arten von Demokratie gibt, die irgendwie gleichartig nebeneinanderstehen, warnen die beiden auf sueddeutsche.de: "Der Begriff der 'illiberalen Demokratie' macht unsichtbar, dass in Ungarn und Polen die Demokratie abgebaut wird. Als die polnische Regierungspartei die Rechte der Opposition im Parlament beschnitt, konnte diese sich nicht mehr, wie sonst, mit Aussicht auf Erfolg an das Verfassungsgericht wenden - das wird inzwischen von der Regierung kontrolliert. Eine Demokratie misstraut nicht ihren eigenen Bürger und der Opposition, sondern erleichtert es ihnen, ihre Rechte vor unabhängigen Gerichten durchzusetzen. Die Gleichschaltung von Gerichten ist entsprechend nicht illiberal, sondern undemokratisch."

Eine leicht bizarre Debatte hat sich um den Kommentar von Alexander Gauland in der FAZ entwickelt. Im Tagesspiegel wirft der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz dem AfD-Politiker vor, sich in seinem Kommentar eng an eine Rede von Hitler geschmiegt zu haben. Der hatte 1933 gegen eine "wurzellose internationale Clique" gewettert, die Gauland als "globalisierte Klasse" gewissermaßen recycelt habe. Der Tagesspiegel hat die beiden Abschnitte aus Hitlers Rede und Gaulands Kommentar zum Vergleich nebeneinander gestellt. Gauland selbst wies die Anschuldigungen gegenüber dem Tagesspiegel zurück. 'Ich kenne keine entsprechende Passage von Adolf Hitler', sagte der AfD-Chef dem Tagesspiegel. 'Und wenn selbst Jakob Augstein meine Gedanken nachvollziehen kann, erübrigt sich wohl jeder Vorwurf ,nationalsozialistischer' Anleihen.' Damit bezog sich Gauland auf einen Meinungsbeitrag des Verlegers Augstein, der auf Spiegel Online von einem 'klugen Text' gesprochen hatte, der aber aus richtigen Gedanken zur Elitenkritik die falschen Schlüsse ziehe."
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Gesellschaft

In der FAZ erklärt Julia Bähr, warum #MeToo und die Diskussion über sexuelle Übergriffe ein echtes Thema ist und kein künstlich aufgebauschtes, überdramatisiertes oder gar erfundenes, auch wenn viele Männer sich überrascht zeigen vom plötzlichen Ausmaß der Belästigungen. Das hat einen Grund: "Wir sind in eine Kultur hineingewachsen, in der sexuelle Übergriffe als Frauenthema gelten, so als handelte es sich um Nagellack oder Tampons, gerade bei strafrechtlich nicht relevanten Vorfällen, von denen es ungezählte gibt. Wenn eine Frau von einem Kollegen bedrängt wird, geht sie danach höchstwahrscheinlich zu einer Kollegin, der sie vertraut, und nicht zu einem Kollegen. Und wenn sie sich entschließt, es nicht öffentlich zu machen, spricht es sich unter den Frauen zwar oft herum, aber es erreicht die männlichen Kollegen nicht."

In der Debatte um Sexismus in der Führung der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen, in deren Verlauf der zuständige Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe entlassen wurde, haben sich erneut die Frauen zu Wort gemeldet, die die Belästigungsvorwürfe, erhoben hatten, meldet der Tagesspiegel. "In den zweiseitigen Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt, kritisieren sie, die öffentliche Diskussion sei 'in eine bedenkliche Schieflage' geraten. Zudem beklagen die Verfasserinnen 'Ungläubigkeit' gegenüber ihren Darstellungen, die in 'Abwehrreflexen und Leugnungsstrategien' münden würde. Sie seien schockiert, dass Politiker, Mitglieder des Stiftungsbeirates und Journalisten 'das unangemessene und belästigende Verhalten von Vorgesetzten in der Gedenkstätte weiterhin ausblenden', Knabe mit der Gedenkstätte gleichsetzen und 'uns eine Beschädigung der Diktaturaufarbeitung vorwerfen'."

Im Freitag nimmt sich Elsa Koester die "Auf-ihre-Schuhe-Glotzer" vor: Männer, die von anderen Männern verhöhnt werden, aber immer mitmachen, wenn es gegen Frauen geht.
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Medien

In Sachen Meinungsfreiheit sind die arabischen Regime so repressiv wie je, erklärt die jordanische Journalistin und Gründerin der Organisation Arab Reporters for Investigative Journalism (ARIJ) Rana Sabbagh im Interview mit Zeit online. Darüber sollte auch die gelegentlich modernere Fassade nicht täuschen: "Die Revolutionen 2011 hatten uns Hoffnung gegeben, dass es besser werden würde. Doch dann haben die gleichen autokratischen Kräfte wieder die Macht übernommen und die Fortschritte zurückgedreht. Heute werden alle abweichenden Meinungen unterdrückt. Die Herrscher stecken Kritiker ins Gefängnis oder attackieren sie. In Ägypten ist es derzeit am schlimmsten. Selbst wenn man etwas auf Facebook teilt, kann man verhaftet werden. Alle arabischen Länder, die ein Cybercrime-Gesetz verabschiedet haben, sind zu einem Freiluftgefängnis geworden. Selbst in Tunesien, wo es durchaus demokratische Entwicklungen gibt, behandelt die Polizei Reporter, die über Proteste berichten, so wie zu Zeiten von Ben Ali. Viele Geschäftsleute kaufen oder bestechen Redaktionen, damit sie in ihren Berichten Opponenten diskreditieren."
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Religion

Jetzt soll sogar Pillen-Paule heilig gesprochen werden, also jener Papst Paul VI., der die künstliche Empfängnisverhütung verdammt hatte, ärgert sich der Theologe Jan-Heiner Tück in der NZZ: "Diese Häufung von Heiligsprechungen von Päpsten durch Päpste ruft selbst bei gläubigen Katholiken Stirnrunzeln hervor. Steht die Selbstsakralisierung der Institution Kirche nicht in krassem Missverhältnis zu den Krisen und Skandalen, die in letzter Zeit publik geworden sind? Man könnte meinen, dass der anhaltende Bedeutungsverlust, den die päpstliche Autorität erlitten hat, durch eine gesteigerte Bedeutungszuschreibung auf der Ebene des Persönlich-Charismatischen aufgefangen werden soll."
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Ideen

Selbstkritik in allen Ehren, doch der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke hält in der NZZ wenig davon , dass sich die liberale Eliten jetzt angesichts populistischer Verwerfungen selbst geißeln. An der progressiven Agenda liege es bestimmt nicht, dass überall auf der Welt eine neue ökonomische Brutalität herrsche. Und überhaupt Eliten: "Worauf läuft das Verächtlichmachen politischer, diplomatischer und bürokratischer Professionalität, laufen die Verhöhnung wissenschaftlicher Expertise, die pauschale Verdächtigung gerade der seriösen Medien, die Aufkündigung mühsam ausgehandelter internationaler Vertragswerke hinaus, wenn nicht auf die Schwächung der Problemlösungsfähigkeit von Politik? Wer aber soll die Probleme sachgerecht lösen, wenn nicht die dafür ausgebildeten Funktions- und Verwaltungseliten? In welchem anderen Tätigkeitsfeld käme man auf die Idee, die Steuerung des gesamten Systems stattdessen egomanen Clowns und Verschwörungstheoretikern zu überlassen? Wenn die politischen Eliten in vielen Ländern derzeit eine schlechte Figur machen, dann hat auch das vorrangig strukturelle Ursachen. Sie werden zerrissen zwischen den nationalen Arenen, innerhalb deren sie sich verantworten müssen, und den rasant wachsenden globalen Abhängigkeiten."
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