9punkt - Die Debattenrundschau

Schubweise ins Irre

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2018. Die französischen Medien streiten über die "Gilets jaunes": Wird die Bewegung in sich zusammenbrechen? Offenbart sie die Schwäche von Emmanuel Macrons Aktionismus? In Deutschland streitet man dagegen mal wieder über das Zentrum für politische Schönheit, das Rechtsextreme an den Pranger stellt. Denunziation, meint die SZ. Im Gegenteil, die FR. In der New York Times erzählt die Dalit-Aktivisten Thenmozhi Soundararajan, wie Twitter zu einem Mittel der Kastengewalt wird. Dlf Kultur fragt, ob chinesische Handys spionieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.12.2018 finden Sie hier

Europa

Der Anwalt und Autor Patrick Klugman, Mitglieds des Stabs der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, ist sich in La Règle du Jeu sicher, dass die Bewegung der "Gilets jaunes" kollabieren werde: "Die Gewalt der Gelben Westen machte sie stark. Aber sie kündigt auch ihr Ende an. Denn die Gelben Westen sind keine Protestbewegung, sie markieren einen Moment der Entrüstung. Die Wut treibt sie zusammen, aber diese Wut hat nicht eigentlich ein Objekt. Jeder hat seinen Zorn, seine Verzweiflung und Frustration. Es gibt so viele Forderungen wie Gelbe Westen. Diese einzelnen bilden eine - bunte und beeindruckende - Masse, aber keine Bewegung."

Für Jérôme Fenoglio in Le Monde wirft die Krise allerdings ein Schlaglicht auf Emmanuel Macrons Art  der Regierungsführung: "Die aktuelle Krise zeigt, dass sich alle Prinzipien, die den Erfolg des Präsidentschaftskandidaten Macron im Wahlkampf ausmachten, nun gegen ihn gekehrt haben und seine Fragilität offenbaren. Was  einst als Kommandoaktion erschien, ist heute eine Tabula rasa mit ein paar Getreuen an den Schlüsselposten."

Macron muss unbedingt von seinem hohen Ross steigen und mit den Leuten reden, meint der Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Jean-Yves Camus in der SZ. Dass man nicht Steuern senken und gleichzeitig die Staatsausgaben beibehalten oder sogar erhöhen kann, wissen die Leute eigentlich, so Camus, doch spüren sie hinter den jüngsten Erhöhungen eine große Verachtung für ihre Probleme: "Macrons Reform der Vermögensteuer war ein großer psychologischer Fehler. Sie wird hauptsächlich als Mittel der Unterdrückung wahrgenommen, obwohl sie eine Erhöhung des Hebesatzes für die reichsten Haushalte vorsieht und die Abwanderung von Unternehmern verhindern soll. Der Präsident hat es jedoch nicht geschafft, diesen Sachverhalt ausreichend zu erklären. Und so ist der Eindruck entstanden, er sei ein Präsident der Reichen."

"Die neue Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) ist - ein Denunziationsportal", erklärt ein empörter Jens Bisky in der SZ. Das Zentrum hat auf soko-chemnitz.de Bilder rechtsextremer Demonstranten hochgeladen, die den Hitlergruß zeigen oder ähnliches und fragt: "Wo arbeiten diese Gesinnungskranken? Wer beschäftigt sie? Warum haben Sie die Zeit, ihren Hass auf Minderheiten zu verbreiten, die Presse zu attackieren und die Kunst mit Gewalt zu bedrohen?" Oder: "Denunzieren Sie noch heute Ihren Arbeitskollegen, Nachbarn oder Bekannten und kassieren Sie Sofort-Bargeld." Das ist wirklich übel, findet Bisky: "Soko-chemnitz.de erinnert an das Ich-verpetze-meinen-Lehrer-Projekt der AfD und wäre leicht auch in eine Anzeigeplattform gegen Ausländer oder Linke oder Schwule in der Nachbarschaft zu verwandeln. Sprachlich müsste man nicht viel ändern, das ZPS spricht von: 'Volksverrätern', 'Gesinnungskranken', 'Vaterlandsverrätern', 'rechten Deutschlandhassern', 'Drückebergern' und setzt diese in Gegensatz zu den 'Normalen'. Diese Sprache hätte man in den Achtzigerjahren 'faschistoid' genannt. Selbstverständlich wird hier satirisch übertrieben, ist alles unter dem 'Kunst'-Vorbehalt formuliert. Aber das macht es nicht besser."

Denunziatorisch? "Wer in den sozialen Medien mit seinem Rechtsradikalismus prahlt, hat sich erst einmal selbst an den Pranger gestellt", findet Arno Widmann in der Berliner Zeitung. Und überhaupt: "Wenn die sächsischen Behörden nach einem Blick auf 'soko-chemnitz.de', erklären könnten: Wir kennen all diese Leute, wir haben sie überprüft und festgestellt, die Rechercheure den Zentrums für Politische Schönheit haben sich getäuscht, dann wäre diese Aktion überflüssig, dann wäre sie ein Stück Gesinnungskunst und nichts sonst. So aber stellt sie den Behörden, der Politik und uns die Frage: Warum schaffen die dafür existierenden, dafür bezahlten Dienststellen es nicht, vorzugehen gegen rechtsradikale Straftäter, die nicht nur mit ihrer Gesinnung, sondern auch mit ihren Taten prahlen?"

"Denunziation ist, auch wenn es widerwärtige Figuren trifft, eine Art Selbstjustiz mit dem Telefon", meint dagegen Frank Jansen im Tagesspiegel. "Das ist mit demokratischen Werten nicht zu vereinbaren. Die Bundesrepublik bekämpft ihre Feinde grundsätzlich nicht mit zweifelhaften Methoden. Und Chemnitz wird nicht befriedet, wenn Rechtsextreme ihre Arbeitsstelle verlieren und auf der Straße stehen. Die dann für Migranten noch gefährlicher wird, als sie es schon ist."
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Kulturpolitik

Jürg Altwegg verteidigt in der FAZ den Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, der eine weitgehende Rückgabe afrikanischer Kunst fordert und bezieht sich auf eine Antwort an ihre Kritiker, die die beiden in Le Monde veröffentlichten: "Ihre politische Meinung mag ihren Arbeitseifer bestärkt haben; an ihrer Bestandsaufnahme gibt es sachlich nichts zu bemängeln. In ihrer Replik in Le Monde verweisen sie darauf, dass der Kolonialismus Afrika seiner Identität und Kultur beraubt habe. Ihr Anliegen ist legitim. Über die Vorschläge muss man diskutieren und streiten."

Im Tagesspiegel meldet Caroline Fetscher Zweifel an, allerdings weniger an dem Bericht als an einer postkolonialen Ideologie, die etwa von "Menschenrechtsimperialismus" spricht.
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Gesellschaft

Der ADAC möchte gern, dass wir unsere Städte den SUVs anpassen, die immer fetter werden, informiert ein nur halb amüsierter Gerhard Matzig in der SZ. "Seit Jahrzehnten wachsen Fahrzeugbreite, Länge und Höhe der Neuwagen in Deutschland schubweise ins Irre. Das ist kein Wunder: Zwischen 1995 und 2016 stieg die Zahl der Zulassungen der deutlich breiteren und längeren SUV bundesweit von knapp 68 000 auf mehr als 735 000 Stück. Das entspricht einem aktuellen Marktanteil von 22 Prozent. ... Auf die Idee, wonach die Städte sich den bizarren Autowünschen anpassen müssten, kann man nur kommen, wenn man das seit Jahrtausenden kaum größer gewordene menschliche Hirn ständig andieselt."
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Stichwörter: SUVs, Autoindustrie

Internet

Thenmozhi Soundararajan ist eine Dalit-Aktivistin aus Indien. In der New York Times beschreibt sie, wie Dalits - einst als "Unberhührbare" bezeichnet - zuerst auf Twitter als Instrument der Meinungsfreiheit setzten, bis sie feststellten, dass sie auch dort zu Opfern von entfesselten Hasskampagnen indischer Kasten werden: "Angesichts des Ausmaßes der kastenbasierten Aggression und Belästigung auf Twitter ist Blindheit  des sozialen Netzes gegenüber Kasten in Indien alarmierend. Die Plattform hat die Verantwortung, nicht nur die freie Meinungsäußerung zu fördern, sondern auch die Meinungsfreiheit und Sicherheit ihrer schwächsten Nutzer zu gewährleisten. Koordinierte Angriffe auf verletzliche Stimmen schließen diese aus und machen Twitter zu einem weiteren Instrument der Verfolgung." Tiwtter hat bisher acht Millionen Nutzer in Indien und gilt als der am stärksten wachsende Markt.
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Überwachung

Werden in China hergestellte Smartphones, etwa der Marke Huawei, als Spionageinstrumente genutzt? Es gebe zwar keine Beweise dafür, aber Sicherheitslücken in den Handys, die sich ausnutzen ließen, sagt Anna Holzmann vom Mercator Institute for China Studies im Gespräch Jenny Genzmer und Marcus Richter von Dlf Kultur: "Die USA weisen ... immer wieder auf Artikel 7 in Chinas nationalem Geheimdienstgesetz hin. Dort heißt es: 'Jede Organisation oder jeder Bürger sollte nach dem Gesetz die Bemühungen der nationalen Nachrichtendienste des Staates unterstützen und mit diesen zusammenarbeiten.' Es gebe Gesetzeswerke, in denen 'tatsächlich angesprochen werde, dass jeder Staatsbürger und jedes Unternehmen in die Verantwortung gezogen' und auch 'zur Kooperation mit dem chinesischen Geheimdienst angehalten wird', bestätigt. Huawei hat in einer Stellungnahme dieser Interpretation widersprochen, sie seien nie zu Spionage aufgefordert worden."
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Geschichte

Vor fünfzig Jahren wurde mit der KPD/ML in einer Hamburger Kneipe die erste K-Gruppe gegründet, erinnert Bernd Ziesemer auf einer Doppelseite der taz und präzisiert: "Bis heute gelten die deutschen K-Gruppen und ihre maoistischen Schwesterparteien in aller Welt als dogmatischer Endpunkt der Studentenbewegung - und zugleich als Produkt des Bruchs mit den Idealen der Achtundsechziger. In Wahrheit geht ihre Entstehung bis in die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre zurück - und ihre Entwicklung verlief zunächst vollständig getrennt von der Studentenbewegung. Erst ab Anfang 1970 übernahmen ehemalige SDS-Führer wie der spätere taz-Redakteur Christian Semler oder Joscha Schmierer (später Chefstratege des Auswärtigen Amts) die Leitung maoistischer Organisationen. Bei der Gründung der KPD/ML im 'Ellerneck' war noch kein Einziger von ihnen dabei."

Stefan Mayr besucht für die SZ Stuttgarts ehemalige Gestapo-Zentrale, die unter dem Namen "Hotel Silber" als "Lern- und Gedenkort" wiedereröffnet wurde. Eigentlich sollte es vor zehn Jahren abgerissen werden, aber eine Bürgerinitiative verhinderte das - "trotz erheblichen Widerstands des CDU-Ministerpräsidenten und des CDU-Rathauses" - und setzte außerdem durch, dass sie bei der Ausstellungskonzeption mitreden durften. "Das Abenteuer hat sich gelohnt", lobt Mayr. "Die Ausstellung zeigt nicht nur eindrückliche Exponate des Mordens und Sterbens. Sondern auch der zweiten Karrieren der Nazischergen nach dem Ende des Dritten Reichs. Wie sie sich zunächst wegduckten, dann wiederauftauchten und die Postenleiter emporkletterten in der jungen Bundesrepublik."
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Ideen

Im Interview mit der NZZ spricht der Anthropologe Joseph Henrich über "weired people", Polygamie und den Homo oeconomicus, der ein Fehlkonzept sei: Zum einen wegen der "Annahme, dass die Menschen rational handeln. Dabei leiten uns alle möglichen Glaubenssysteme, nicht nur die Religionen oder die Magie, sondern zum Beispiel auch das Vertrauen in unsere Regierung, obwohl es die empirische Evidenz nicht unbedingt rechtfertigt. Zum anderen die Annahme, dass die Menschen nur egoistisch denken. Es gibt inzwischen mehr als genug Belege dafür, dass wir nicht nur im Eigeninteresse handeln, sondern als soziale Wesen vor allem aufgrund von internalisierten Motiven und Normen. Insgesamt verhalten wir uns also im realen Leben schlicht nicht so, wie es ein Ökonom vom Homo oeconomicus erwartet."

Weiteres: Im Interview mit der FR spricht der Politologe Herfried Münkler über seinen Werdegang, über Machiavelli, Clausewitz, Terrorismus und die AfD. In der NZZ denkt Daniel Haas über den plötzlich wieder so beliebten "Anstand" nach.
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