9punkt - Die Debattenrundschau

Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2020. Emma.de veröffentlicht einen kleinen Appell Swetlana Alexijewitschs an die russische Intelligenzija. Ljudmila Ulitzkaja antwortet: "Uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann." Vierzig Jahre nach ihrer Gründung bleibt Solidarnosc ein Vorbild, auch für Belarus, schreibt Heinrich August Winkler in der SZ. Auf die Frage, ob es heute eine größere Sensibilität beim Thema Antiziganismus gebe, antwortet der Sinto Erich Schneeberger in der taz: "Nein, die gibt es nicht." Charlie Hebdo setzt die Berichterstattung über den Charlie-Prozess fort.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2020 finden Sie hier

Europa

Emma.de veröffentlicht einen kleinen Appell Swetlana Alexijewitschs, den sie zunächst auf den Seiten des belarussischen Pen-Clubs veröffentlichte: "Ich wende mich auch an die russische Intelligenzija - nennen wir sie einfach aus alter Gewohnheit so. Warum schweigt ihr? Nur einzelne Stimmen von Unterstützern hören wir. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern. Und meinem Volk möchte ich sagen, dass ich es liebe. Dass ich stolz auf es bin."

Und eine Antwort von Ljudmila Ulitzkaja: "Wir alle - ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt - verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann."
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Medien

Yannick Haenel setzt seine Erzählung vom Charlie-Prozess auf der Website von Charlie Hebdo fort. Am neunten Tag des Prozesses ging es um den Polizisten Ahmed Merabet, der auf offener Straße von Cherif Kouachi erschossen wurde. Nach einem Schuss ins Bein ging Kouachi auf den auf der Straße liegenden Unbewaffneten zu und erschoss ihn aus kurzer Distanz. "Die ganze Welt sieht ihn als einen liegenden Mann", sagt laut Haenel eine Angehörige im Prozess, "aber er war ein aufrechter Mann." Haenel setzt hinzu: "Die Familie hat sich zurecht beklagt, das Video vom Tod Ahmed Merabet ertragen zu müssen, bis heute. Ich zögere nicht, die permanente Ausstrahlung des Video in den Info-Sendern eine Infamie zu nennen. Bekennen wir unseren Abscheu vor Medien, die im Namen der Informatioen und gegen jeden Anstand - und das Gesetz - die Bilder eines Mords verbreiten."
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Kulturmarkt

Die Frankfurter Buchmesse wird sich "dauerhaft verändern", erklärte Buchmessen-Direktor Juergen Boos der dpa, wie der Tagesspiegel meldet. "Volle Messehallen, Gedränge in den Gängen, Besucherrekorde - 'das werden wir so schnell nicht wieder erleben'." In der Berliner Zeitung befürchtet Cornelia Geißler, dass damit das Ende der Buchmesse überhaupt eingeläutet wird. Denn: "Wer einmal ausgesetzt hat, wird sich hinterher fragen, ob der Verzicht teurer war als der ansonsten zu zahlende Messestand sowie Reise- und Hotelkosten. Nicht diskutiert wird dabei bisher die Bedeutung der Buchmesse als politischer Ort. Immerhin fehlt nun auch der direkte Kontakt zu Autoren und Verlagsleuten aus Ländern mit Zensur. Es fehlen Podiumsdiskussionen zu brennenden Fragen und andere Formen der Themensetzung."

Auch Gerrit Bartels fragt sich im Tagesspiegel, ob man die Frankfurter Buchmesse noch braucht, wenn sie nicht mehr Messe, sondern Literaturfestival ist: Denn "wie unterscheidet sich ein Literaturfestival in Frankfurt von anderen in Deutschland? Zum Beispiel von dem Internationalen Literaturfestival in Berlin, das trotz Corona immer noch noch ein internationales ist. ... Dass das ursprüngliche Messegeschehen, das, bei dem es ums Geschäft geht, um Verträge, um Abschlüsse für neue Bücher, ins Netz wandert, diese Entwicklung gibt es lange. Nur könnte es sein, dass es nun noch weniger Gründe gibt, eben auf eine 'Buchmesse' nach Frankfurt zu fahren."
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Internet

Im Interview mit der SZ erklären die Tech-Kritiker Tristan Harris und Roger McNamee, warum Google und Facebook verantwortlich sind für den Niedergang der Demokratie in den USA, Großbritannien, Brasilien und Indien (erstaunlicherweise nicht Europa). Was sie sich statt dessen wünschen: "Smartphone-Technik, die Erfahrungen von Angesicht zu Angesicht priorisiert. Ein GPS, das einen an Orte mit Menschen bringt, und so viele menschliche Ausdrucksformen wie möglich nutzt: Anrufe vor Textnachrichten, echte Treffen vor Tinder-Gewische über bearbeitete Gesichtsfotos. Mit Menschen zusammenzukommen, die einem etwas bedeuten, sollte so einfach sein wie Wikipedia zu nutzen." Daneben bespricht Simon Hurtz Jeff Orlowskis Dokumentarfilm "Das Dilemma mit den sozialen Medien", der eben diese als Monster zeichnet.

Wäre die Welt also schöner und friedlicher, gäbe es keine von Algorithmen bestimmten sozialen Medien? Am Ende sind es doch individuelle Menschen, die diese Medien benutzen und die können eben auch ganz ohne Algorithmus fies sein. Die Welt hat einen Artikel des niederländischen jüdischen Autors Leon de Winter aus der National Review übernommen, in dem er erzählt, wie es ihm nach einer Reihe von Tweets ging, die er offenbar nach einem Radiobeitrag abgesetzt hatte, der wiederum einen Guardian-Artikel zitiert hatte, wonach 97 Prozent der BLM-Proteste ja friedlich gewesen seien. Winter setzte daraufhin drei Tweets ab, deren Quintessenz in diesem Satz lag: "The Nazi occupation of The Netherlands was 99% peaceful. Did you ever think about this, you at @NPORadio1?" Daraufhin setzte der Politologe Cas Mudde ohne jeden Hinweis auf den Zusammenhang folgenden Tweet ab: "Jean-Marie Le Pen: Holocaust was detail in Second World War. Leon de Winter: Nazi occupation of Netherlands was 99% peaceful." Was dann passierte, kann man hier nachlesen.

Ein Reporterteam von Buzzfeed veröffentlicht Erkenntnisse eines internen Papiers bei Facebook, in dem die Datenforscherin Sophie Zhang politische Manipulationen des Dienstes in Ländern feststellt, die nicht so im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wie etwa Honduras oder Aserbaidschan. Es geht um gefälschte Konten und andere unzulässige Aktivitäten. Zhang glaube nicht, "dass die Versäumnisse, die sie während ihrer zweieinhalbjährigen Tätigkeit im Unternehmen beobachtete, das Ergebnis böser Absichten der Mitarbeiter oder der Führung von Facebook waren. Es sei ein Mangel an Ressourcen gewesen, schreibt Zhang, und das Unternehmen neige dazu, Aktivitäten zu verhindern, die dem öffentlichen Ansehen des Unternehmens schaden, während Risiken für die Wahlen oder das öffentliche Leben nachrangig seien. 'Facebook vermittelt nach außen hin ein Bild von Stärke und Kompetenz..., aber in Wirklichkeit basieren viele unserer Aktionen auf Willkür und Zufall' schreibt sie."
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Gesellschaft

Dominik Baur unterhält sich in der taz mit Erich Schneeberger, Chef des bayerischen Landesverbands der Sinti und Roma, der zunächst den Unterschied zwischen Sinti und Roma erklärt, und auf die Frage, ob es inzwischen eine größere Sensibilität beim Thema Antiziganismus gebe, antwortet: "Nein, die gibt es nicht. Weil wir in der Gesellschaft keine Lobby haben. Wenn ein jüdischer Mitbürger beleidigt oder verletzt wird, gibt das einen Aufschrei. Zu Recht! Das ist aber bei uns nicht so. Oder hat man etwas davon gehört, dass Angehörige der Roma in Berlin niedergestochen worden sind? Oder dass bei dem Anschlag in Hanau drei Roma unter den Opfern waren? Oder dass der Attentäter vom Münchner OEZ auch einen Sinto und zwei Roma ermordet hat?"

Aziz Bozkurt ist Vorsitzender der "AG Migration und Vielfalt" in der SPD (eine Arbeitsgruppe "Säkulare Sozis" hat die Parteiführung dagegen nicht zugelassen, mehr hier). Er begründet in der taz, warum er bei aller persönlichen Distanz für das Kopftuch und gegen das Berliner Neutralitätsgebot ist. "Was also wiegt mehr: die Angst vor den politisch Motivierten oder die Freiheit der Selbstbestimmten? Meine Entscheidung fällt mit Blick auf die Aufgabe der Sozialdemokratie eindeutig für die Freiheit aus. Zudem lassen Urteile unserer höchsten Gerichte wenig Interpretationen zu: Das Neutralitätsgesetz ist in der aktuellen Form nicht haltbar. Gerade im Bereich der Bildung. Bei Polizei und Justiz mach ich weiterhin Fragezeichen und erkenne die besondere Bedeutung staatlicher Neutralität auch im Auftritt nach außen an. Aber in der Bildung bedarf es einer Neujustierung, die trotzdem den Gedanken der Neutralität festhalten kann." Komme es künftig zu Streit wegen islamistischer Bestrebungen an den Schulen, wünscht sich Bozkurt eine Klärung durch die Antidiskriminierungsbeauftragten.
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Geschichte

In der SZ erinnert Heinrich August Winkler an die Gründung der Solidarność in Polen vor vierzig Jahren, deren nationalkonservativer Flügel heute hat das Land regiert: "Die Partei von Jarosław Kaczyński hat sich zielstrebig dem Abbau der Unabhängigkeit der Justiz gewidmet und den Rechtsstaat demontiert, für den die Pioniere der Solidarność wie Wałęsa, Mazowiecki und Geremek mit höchstem Einsatz gekämpft haben. In der polnischen Zivilgesellschaft und der parlamentarischen Opposition aber leben die freiheitlichen Ideen der Ur-Solidarność fort, und sie tun das nicht nur dort. Vieles von dem, was in den letzten Wochen von Maria Kolesnikowa und anderen Sprecherinnen der Anti-Lukaschenko-Opposition in Belarus zu hören war, erinnert stark an die von nüchternem Verantwortungsbewusstsein geprägten Analysen der gemäßigten Solidarność-Intellektuellen von 1980/81. Ein besseres Vorbild könnten Freiheitsbewegungen östlich der polnischen Grenzen auch gar nicht finden."
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