9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht Nein zu sagen zu können gegen die Unterdrückung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2022. Gilda Sahebi erklärt in der FAZ, warum die Ajatollahs im Iran so sehr auf der Einhaltung ihrer religiösen Gebote bestehen: Es bringt ihnen eine Menge Geld. Masih Alinejad erzählt auf Twitter die Geschichte der 17-jährigen Nika Shakarami, die bei den iranischen Protesten verschwand, bis die iranische Polizei ihre Leiche zurückgab. Religion hat sehr wohl etwas mit Religion zu tun, schreibt Ahmad Mansour an die Adresse Annalena Baerbocks in der NZZ. Für Peter Pomerantsev in Time wird der Keller zum Sinnbild des Krieges, der gegen die Ukraine geführt wird, in der Realität und als Metapher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.10.2022 finden Sie hier

Politik

Dies ist das Lied, das die Schulmädchen ohne Kopftuch in einem Tweet, den wir gestern dokumentierten, vor einer Schultafel rezitierten (unser Resümee).
Shervin Hajipour ist im Iran ein bekannter Popsänger. Er hat das Lied aus Slogans zusammengesetzt, die er in den letzten Tagen online gelesen oder auf Demos gehört hatte. Rosie Swash erzählt die Geschichte des Lieds im Guardian: "Jede Zeile beginnt mit dem Wort Baraye, Farsi für 'deshalb' oder 'weil'." Hajipour wurde für das Lied festgenommen, aber inzwischen auf Kaution wieder freigelassen, heißt es.

Gilda Sahebi erklärt in der FAZ den frommen Eifer, mit dem die Kleriker und ihre Büttel ihr Regime verteidigen."Es geht nicht nur um Macht, es geht auch um sehr viel Geld. In den 44 Jahren ihres Bestehens ist die Islamische Republik vor allem eines geworden: eine Kleptokratie. Die Machthaber haben in den vergangenen Jahren riesige Vermögen angesammelt. Laut Forbes ist die Anzahl der Millionäre in Iran in den vergangenen Jahren 'explodiert', trotz US-Sanktionen und Covid-Pandemie... Während also ein Großteil der Bevölkerung unfrei lebt und bedroht von der wirtschaftlichen Krise ist, werden Angehörige des Regimes immer reicher. Zum Beispiel Atefeh Eshraghi, Urenkelin des ersten Revolutionsführers Ruhollah Khomeini, die in London mit einer 3.800 Dollar teuren Handtasche fotografiert wurde." Wiederholt kritisiert Sahebi die zahme Reaktion der deutschen "feministischen Außenpolitik".

Auch der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan beschreibt in einem zweiten Artikel "die beispiellose Kluft, die zwischen der Gesellschaft und ihrer Regierung klafft. Die aktuelle Bewegung hat die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite erfasst."

Masih Alinejad erzählt in einem Twitter-Thread die Geschichte der 17-Jährigen Nika Shakarami, die bei den Protesten verschwand, bis die Polizei ihre Leiche freigab (mehr bei der BBC).

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Ideen

Die Unterdrückung der Frauen im Iran soll nichts mit Religion zu tun haben, wie Außenministerin Annalena Baerbock kürzlich behauptete (unser Resümee)? "Das ist ein neuer Tiefpunkt in der Unfähigkeit, die Ursachen für Terror, Unterdrückung und Ungleichberechtigung zu erkennen. Und zeigt: Debatten um den Islam und seine Ausprägungen sind im Westen nicht gewollt", ärgert sich in der NZZ der Psychologe Ahmad Mansour. Das sei verhängnisvoll, denn "der Imam von nebenan und der Ayatollah in Iran, teilen viele Werte, Ängste, Tabus, Abwehrstrategien, Ideale. Ihre Haltung zum Umgang mit 'Ungläubigen' oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Basis ist die gleiche. Es sind diese veralteten Inhalte, die mit der aufgeklärten Moderne derart in Kollision geraten, dass aus der Reibung Islamismus entstehen kann. Gefährlich sind die radikalen Strömungen nicht etwa, weil sie so anders sind als der vom 'Mustafa'-Normalbürger gelebte Islam - es ist vielmehr die Ähnlichkeit mit diesem Islam, der sie gefährlich macht." Und darüber müsse man endlich reden, ohne sich von Rassismusvorwürfen einschüchtern zu lassen.

Die Schriftstellerin Widad Nabi hasste es, als 13-Jährige in Aleppo unter das Kopftuch gezwungen zu werden. Aber sie machte mit, erzählt sie auf Zeit online: es war der Preis für die Erlaubnis ihres Vaters, weiter zur Schule gehen zu dürfen. In Deutschland legte sie es sofort wieder ab. Denn: "Freiheit bedeutet nicht nur die Freiheit, ein Kopftuch zu tragen, es gibt die Freiheit des Willens, es nicht zu tun, wie es die Frauen im Iran gerade beeindruckend zeigen. Sie erheben sich gegen die Autorität der Mullahs. Sie erheben ihre Stimme gegen die Macht und das Patriarchat und für die Freiheit, die ihnen geraubt wurde. Gegen die Angst und das Gefühl der Demütigung, nicht Nein zu sagen zu können gegen die Unterdrückung, weil ein Nein dich deine Ausbildung, deinen Traum und deine Hoffnung und oft auch dein Leben kosten kann."
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Medien

Internet ist für viele Medien in Deutschland noch Neuland. Besonders verdächtig ist ihnen der Link, der ja eigentlich das Wesen des Netzes ausmacht, aber deutsche Medien verlinken nicht gern, beobachtet Markus Reuter bei Netzpolitik. Stattdessen "versuchen viele Publikationen krampfhaft, ihren Leser:innen verlinkbare externe Quellen und damit weitere Informationen vorzuenthalten. Bloß keine Links im Text und erst recht nicht im ersten Drittel. Manche Medien haben sogar Listen von Medien, die Redakteur:innen nicht verlinken dürfen, weil diese Medien in direkter Konkurrenz zum eigenen Medium stehen. Oftmals müssen Journalist:innen intern genau begründen, warum ein Link nach außen notwendig ist. Das eigene Medium als Insel in einem Meer von Feinden."
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Geschichte

Der ungarische Schriftsteller Gábor Zoltán spricht mit Karl Pfeifer von Jungle World über die "Pfeilkreuzler", die ungarischen Faschisten und ihren Beitrag zum Holocaust - sie waren sehr aktiv an der Deportation und Ermordung der ungarischen Juden beteiligt. In seinem Buch "Orgie" erzählt er, wie die Pfeilkreuzler in einem Budapester Bezirk wüteten. In Ungarn besteht für Zoltán noch bedarf an Vergangenheitsbewältigung: "In Ungarn ist in den vier Jahrzehnten des Kommunismus fast nichts von dem aufgearbeitet worden, was während des Zweiten Weltkriegs geschehen ist. So wurde die Vernichtung von mehr als einer halben Million ungarischer Bürger jüdischer Herkunft, an der die Behörden und die Bürger Ungarns beteiligt waren, erst während der achtziger Jahre richtig geklärt. Im kommunistischen System geschah Unrecht, fast jeder wurde unterdrückt. Als die Freiheit kam, wurde man auch frei, ein Nationalist zu sein, sogar ein Nazi. Jahr für Jahr wurden die Hassreden lauter und lauter."
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Europa

Der Keller ist für Peter Pomerantsev zum Sinnbild des Kriegs gegen die Ukraine geworden: der Keller als Schutz- und Fluchtraum, aber auch der Folterkeller. Und der Keller als Metapher, den er in Time beschreibt: "Russland ist ein Land, das keine Anstrengungen unternimmt, um sein Erbe an Massenmord und institutionalisiertem Sadismus aufzuarbeiten, die Verantwortlichen zu benennen, um Vergebung zu bitten und sich von diesem Erbe zu lösen. Es gibt nicht einmal mehr ein Museum für die zig Millionen Toten in Stalins Gulags, geschweige denn für Russlands Kolonialverbrechen. Kurz vor der jetzigen Invasion wurde die NGO Memorial, die die sowjetischen Verbrechen zu dokumentieren versuchte, als 'ausländischer Agent' verboten. All dies Grauen bleibt im Keller des russischen Geistes eingeschlossen, eine Geschichte der Erniedrigung, die in einem sadomasochistischen Folterkeller ausgespielt wird. Und genau in diesen Keller wollen die Russen die Ukrainer sperren... Wenn wir es schon nicht geschafft haben, der Vergangenheit zu entkommen, so ist die Botschaft, dann müsst ihr sie mit uns erleiden."

Die Stimmung in der russischen Bevölkerung ändert sich, berichtet taz-Korrespondentin Inna Hartwich: "Nach Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes FOM bezeichnen knapp 70 Prozent der Befragten die Atmosphäre mittlerweile als 'beunruhigend'. Das ist doppelt so viel wie vor der sogenannten Teilmobilisierung, die die Russen als 'Vollmobilisierung' wahrnehmen. Moskaus 'militärische Spezialoperation' ist in jeder Familie in Russland angekommen. Die Menschen, die das Thema Krieg in den vergangenen sieben Monaten oft mit nahezu allen Mitteln zu umgehen versuchten, reden über kaum etwas anderes mehr. 'Soll ich meinen Sohn erst zum Arzt schicken und dann zum Anwalt oder erst zum Anwalt und dann zum Arzt?', fragen sich manche."

In der SZ fragt sich Georg Mascolo, was mehr zu fürchten ist: "die große Auslöschung" durch einen von Putin ausgelösen Atomkrieg oder "eine Welt, in der die atomare Erpressung üblich und erfolgreich ist". Antworten sucht er in den zwei großen Krisen - Kuba und 1983 -, die einen Atomkrieg ernsthaft befürchten ließen: "Bedrohlich wäre vor allem, wenn Putin - wofür es immer mehr Anzeichen gibt - wirklich selbst glauben sollte, was er in den vergangenen Monaten alles behauptet hat: Dass die Ukraine Atomwaffen entwickele, dass Nato-Kreise bereits nukleare Schläge gegen Russland diskutierten, dass auf dem Boden der Ukraine mit US- und deutscher Hilfe Bio-Waffen entwickelt würden, die gegen ethnische Russen eingesetzt würden. In einem bemerkenswerten Akt jedenfalls verzichteten die USA im März zunächst auf einen eigentlich angesetzten Test einer ICBM-Langstreckenrakete, den sogenannten 'Glory-Trip'. Manche in der US-Politik sahen darin ein Zeichen von Schwäche. Tatsächlich ist es eine der Lehren aus der 'Able Archer'-Krise von 1983."

Richard Herzinger plädiert in seinem Blog dafür, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, schon um von ihr zu lernen: "Die Ukraine demonstriert den Nato-Staaten, wie man sogar gegen einen vermeintlich übermächtigen und exzessiv grausamen Feind erfolgreich Krieg führt - und das, obwohl sie längst nicht über die waffentechnologische Ausrüstung verfügt wie diese."
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