9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Sexist, aber nie misogyn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2023. In seiner FAZ-Kolumne kommt Bülent Mümay auf die heuchlerischen Erdogan-Huldigungen westlicher Staatschefs nach den türkischen Wahlen zurück. Die Medien machen sich Sorgen um Sahra Wagenknecht, die droht, in einer neuen Partei die Ähnlichkeit "linker" und "rechter" Diskurselemente zur Kenntlichkeit zu entstellen. Eine Frau ist eine Frau, insistiert Kathleen Stock in der Welt. In der Zeit erinnern Francesca Melandri und Ezio Mauro an die Kontexte, die Berlusconi möglich machten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2023 finden Sie hier

Europa

Bülent Mumay erklärt in seiner FAZ-Kolumne, wie Tayyip Erdogan seine Wiederwahl im Jahr 2028 jetzt schon anstrebt, etwa indem er gegenüber den kritischen Metropolen Istanbul und Ankara und gegenüber dem Westen plötzlich Signale der Mäßigung gibt. Die auffällig kriecherischen Gratulationen westlicher Staatschefs wie Olaf Scholz sieht Mümay in diesem Zusammenhang: "Eine Türkei, die sich vom Ziel der EU-Vollmitgliedschaft entfernt hat und die - als Gegenleistung für gewisse Vorteile - die Wünsche des Westens erfüllt, wie etwa in der Flüchtlingspolitik, scheint zweckdienlicher zu sein. Wen interessieren noch Menschenrechte und Freiheiten? Noch vor Ende des Sommers kommt wohl auch die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens."

Sahra Wagenknecht droht eine Partei zu gründen, die "Linken" Sorgen macht, weil sie dort linke und rechte Diskurse mischen wird. Dabei ist das nichts Neues, schreibt der Politologe Thorsten Holzhauser in der taz. Alle Rechtspopulisten wollen letztlich Sozialismus, nur halt exklusiv für ihre dummen Kerls. Und Holzhauser erinnert an den Postkommunisten Robert Fico in der Slowakei: "Als langjähriger Regierungschef tat sich Fico mit Kritik an der EU und ihrer Russland-Politik hervor, versprach, die Slowakei vor Einwanderung zu schützen, und machte den amerikanischen Unternehmer George Soros als Schuldigen für die politische Instabilität im Land aus. Ganz ähnliche Positionen vertritt die Parteivorsitzende der bulgarischen Sozialisten, Korneliya Ninova. Auch sie verspricht ihren Wählerinnen und Wählern eine Alternative zum liberalen Westen: In der Wirtschaftspolitik will sie zu linken Rezepten zurückkehren, in der Gesellschaftspolitik gegen die 'Gender-Ideologie in den Schulen' kämpfen - und die 'Ehre' Bulgariens vor 'fremden Herren' schützen."

FAZ-Redakteur Patrick Bahners beobachtete unterdessen einen Auftritt Wagenknechts bei einer Diskussionsveranstaltung in der Kölner "Flora", einem Gewächshaus des botanischen Gartens: "Mit welchen Themen eine Wagenknecht-Partei im kulturbürgerlichen Milieu mobilisieren könnte, machte der starke Beifall in der Flora deutlich. Er brandete zum ersten Mal auf, als Wagenknecht sagte: 'Wissenschaft lebt auch vom Streit.' Das war ihr rückblickender Kommentar zur Debatte über die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, an der sie einen 'zutiefst undemokratischen Zug' ausgemacht zu haben meint."

"Fragen der Identität sind attraktiv, sie erlauben einen politisch radikalen Gestus, ohne Sozialpolitik betreiben zu müssen", resümiert Jakob Hayner in der Welt Wagenknechts Äußerungen in Köln. "Umverteilung wird nur im Bereich des Symbolischen angestrebt, hier ein paar Gendersternchen, dort ein Diversitätsstempel."

In Wahrheit war der Cavaliere ein dunkler Ritter, schreibt die Schriftstellerin Francesca Melandri in der Zeit über den verstorbenen Silvio Berlusconi. "Er hat das Gift der Unterhaltung in die italienischen Medien mal geträufelt, mal gepumpt". Aber er hat auch die Schwächen der anderen offenbart: "Berlusconi war ein Sexist, aber nie misogyn:Er hat viele Frauen politisch gefördert, zum Beispiel Giorgia Meloni. Für die Misogynie der linken Partito Democratico, für die Unterdrückung der Frauen dort habe ich mich immer geschämt - lange hatte dort keine Frau die Chance, nach oben zu kommen."

Auch Ezio Mauro, ehemals Chefredakteur der Repubblica verweist in der Zeit zumindest en passant auf den Kontext, der Berlusconi möglich machte, auch wenn es ein bisschen so klingt, als würde er den Boten killen wollen: "Der Prozess der Mani pulite, der 'sauberen Hände', der die Schmiergeldzahlungen der Industrie an die Politiker aufarbeitete, hatte das schützende Dach vom traditionellen Gebäude der Politik gerissen, hundertjährige Parteien wie die PSI (Partito Socialista Italiano) von ihren Anführern enthauptet und Machtgebilde wie die DC (Democrazia Cristiana),die das Land seit Jahrzehnten regiert hatten, zertrümmert. In diese Bresche, die der Staatsanwalt Antonio Di Pietro unter dem Beifall des Volkes geschlagen hatte, schlüpfte nun dieser Silvio Berlusconi."
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Medien

Beim RBB selbst legt Gabi Probst weitere überraschende Gepflogenheiten der schon legendären ehemaligen Intendantin Patricia Schlesinger offen. Sie machte gern Geschenke, mit Vorliebe an einflussreiche Figuren in ihrem Umfeld, auch an Mitglieder von Kontrollgremien - und stets natürlich über die RBB-Kasse abgerechnet: "Wolf Dieter Wolfs Aufgabe als Verwaltungsratsvorsitzender ist es, Patricia Schlesinger und die Geschäftsleitung zu kontrollieren - gemeinsam mit den anderen Verwaltungs- und Rundfunkratsmitgliedern. 2020, so geht es aus RBB-internen Abrechnungen hervor, bekommt er auf Kosten des Senders anlässlich seines Geburtstages Blumen und Torte und drei Flaschen Rotwein für rund 90 Euro. 2022 sind es vier Flaschen für 157 Euro."

Pro Sieben Sat1 möchte mit Unterstützung der Organisation der Mediaagenturen (OMG) eine gemeinsame Mega-Mediathek schaffen, die sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Sender umfasst, meldet Lisa Priller-Gebhardt auf den Medienseiten der SZ. Denn: Den Sendern gehen nicht nur Zuschauer verloren, auch die Werbeeinnahmen sind eingebrochen, schreibt sie: "Obwohl der Umfang an Werbegeld durch die gewachsene Nachfrage nach Bewegtbild gestiegen ist, hat die deutsche Fernsehwirtschaft wenig davon. Laut OMG lagen die Werbeeinnahmen im klassischen linearen Fernsehen 2022 bei knapp vier Milliarden Euro, sieben Prozent weniger als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Dagegen wandert viel Geld zu Google, Facebook und Amazon. 'Das System ist in eine Schieflage gekommen, weil das Geld vorwiegend in die Kassen der internationalen Platzhirsche fließt', sagt Dorothee Belz. Sie ist Rechtsanwältin und unterstützt die Mediaagenturen der OMG. Die kümmern sich um die Platzierung der Budgets von Werbekunden wie Nestlé und Nike." Und wie soll das aussehen? Werbegelder aus den Schmonzetten der Öffentlich-Rechtlichen unterstützen die darbenden Privaten?
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Gesellschaft

Es ist "lächerlich", dass man durch die bloße Aussage "Ich bin eine Frau" zu einer Frau wird, bekräftigt die britische Philosophin Kathleen Stock ihre Position im Welt-Gespräch mit Mandoline Rutkowski, in dem sie das auch in Deutschland geplante Selbstbestimmungsgesetz kritisiert: "Wenn Regierungen sich dafür entscheiden, die Rechte von Minderheiten zu fördern, müssen sie vor einer Gesetzesverabschiedung eine angemessene Evaluation durchführen und zuerst Beweise prüfen. Leider geschieht dies derzeit nicht. Es gibt kaum Untersuchungen zu den Auswirkungen, wenn geschlechtsspezifische Räume nicht mehr geschützt werden. Diese Gesetze werden verabschiedet, ohne dass die meisten Menschen überhaupt davon wissen. Es fehlt das Bewusstsein und das Verständnis für die möglichen Konsequenzen. Wie würden Frauen sich fühlen, wenn sie davon wüssten? Selbst die Wissenschaft ist größtenteils von dieser Ideologie geprägt. Es werden viele wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, die die geschlechtliche Selbstbestimmung loben, während kritische Artikel nicht veröffentlicht werden. Ich bin sicher, dass dies auch in Deutschland der Fall ist."
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Kulturpolitik

Matthias Alexander erzählt in der FAZ die neuesten Episoden aus dem ewigen Hin und Her um einen Neubau oder eine Sanierung der Frankfurter Bühnen. Gangbar scheint ein Arrangement mit der Hessischen Sparkasse zu sein, der man gleichzeitig ein Hochhausprojekt erlauben müsste: Kulturdezernentin Ina Hartwig habe ursprünglich diese Lösung propagiert, "ist aber inzwischen wegen fehlender Übereinstimmung mit der Helaba deutlich von ihr abgerückt. Nicht nur böse Zungen behaupten jedoch, dass die rhetorisch und konzeptionell starke, aber entscheidungsschwache Sozialdemokratin nie ernsthafte Verhandlungen mit der Helaba geführt, sondern die komplexe Materie ebenso gescheut habe wie das Risiko, dass ein 'Deal' mit einer Bank anrüchig wirken könnte. Vor Kurzem hat der neu gewählte Oberbürgermeister Mike Josef die Angelegenheit zur Chefsache erklärt und die Gespräche mit der Helaba aufleben lassen."
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Internet

In der Welt wägt Jakob Schirrmacher Vor- und Nachteile des vom EU-Parlament im Mai vorgestellten Kompromissentwurfes zur bereits 2021 veröffentlichten "Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz", auch bekannt als "AI-Act" ab: "Der 'AI-Act' spricht sich für Verbote besonders gefährlicher 'Hochrisiko'-KI-Systeme aus und definiert einen Regulationsentwurf für solche, die es werden könnten. Verboten werden sollen unter anderem KI-gesteuerte 'Social-Scoring'-Systeme, die Fehlverhalten von Bürgern analysieren und diese bewerten könnten." Aber: "In einem offenen Brief an das EU-Parlament kritisierten führende Wissenschaftler, Forscher und Wirtschaftsvertreter den 'AI-Act'. Die Initiatoren und Unterzeichner warnten unter anderem vor 'Überregulation' und befürchteten, dass europäische KI-Unternehmen dadurch kaum mit dem chinesischen oder US-amerikanischen Markt würden mithalten können. Dort setzt man auf weitaus weniger Regulation, als es der 'AI-Act' vorsieht."

Die Rufe nach Entwicklungsstopps von KI-Systemen kommen einer Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit gleich, meint Adrian Lobe, der - ebenfalls in der Welt - hinter dem Geraune auch eine PR-Strategie vermutet: "Das Sprechen über KI als Vernichtungswaffe macht eine Technik womöglich mächtiger, als sie tatsächlich ist. Der Technologiewissenschaftler Lee Vinsel hat das mal treffend als 'critihype' bezeichnet: Man baut einfach eine monströse Drohkulisse auf, um dann mit vermeintlichen technologischen 'Lösungen' Kasse zu machen."

Außerdem: In der NZZ warnt der amerikanische Ethiker Braden Allenby vor den Folgen, die der Einsatz von KI auf das menschliche Bewusstsein haben kann: "Generative KI kann heute tatsächlich jede Form von Desinformation produzieren - Texte, Memes, Bilder, Sprachaufnahmen, Deepfake-Videos oder sogar Kunst. Mittels riesiger Datenmengen wird eine Modellierung der Massenpsychologie möglich, und Social Media erlaubt maßgeschneiderte Irreführung auf individueller Ebene."
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