9punkt - Die Debattenrundschau

Nur noch 65 Cent wert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2023. In der FAS macht der ukrainische Autor Artem Tschech klar: Der Weg von New York nach Bachmut ist kürzer als der Weg von Bachmut in die Etappe. Die Historiker Stefan Wolle (taz), Hubertus Knabe (Blog) und Ilko-Sascha Kowalczuk (taz) erinnern aus unterschiedlichen Perspektiven an den 17. Juni. Die FAZ berichtet über die neuesten mörderischen Geschichtsversionen Wladimir Putins. Und Boris Johnson hat einen neuen Job: Er ist jetzt Diätberater bei der Daily Mail.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2023 finden Sie hier

Europa

Artem Tschech 2021. Foto: Germany2019 unter cc-Lizenz
Der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech war auf ein glamouröses Literatenfest in New York eingeladen worden. Dann flog er zurück - nach Bachmut, wo er dient. Im Gepäck eine Kiste Zigarren für die Kameraden. Gehasst hatte er die Russen zunächst nicht, schreibt er in der FAS: "Menschen waren das nicht, sondern dunkle Wesen metaphysischer Art, so was wie Dementoren, die sich von menschlichen Gefühlen ernähren. Der Hass kam erst später, als wir unsere Stellungen verließen und die Leichen unserer Kameraden sahen, die wir nicht fortschaffen konnten." Dann der Rückzug: "Am letzten Tag, als wir den langersehnten Befehl zum Rückzug und Anweisungen erhielten, wann und wo wir von den Evakuierungs-Pick-ups abgeholt würden, habe ich ausgerechnet, dass wir mindestens sieben Kilometer im dichtesten Trommelfeuer würden zurücklegen müssen. Für einen Spaziergang am Wannsee oder im Grüneburgpark mag das nicht viel sein, aber an der Front ist das eine ordentliche Strecke. Deswegen habe ich alles, was ich konnte, da, an der Stellung vor Bachmut, zurückgelassen. Mitgenommen habe ich nur meine Waffe, das Nachtsichtgerät, das Funkgerät, das Tablet, die Kopfhörer, die Geldbörse, die Dokumente und... die Zigarren."

Ein Auftritt Wladimir Putins auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg zeigte, dass er mit seinen mörderischen Geschichtsversionen keineswegs aufhört, berichtet Reinhard Veser in der FAZ. Putin bezeichnete Wolodimir Selenski als eine Schande für das jüdische Volk, weil er mit Nazis kollaboriere. Die kämpfenden Ukrainer bezeichnet er als "Banderowzy", Anhänger des Nationalistenführers Stepan Bandera (der unleugbar ein Antisemit war). "Dann behauptete Putin wahrheitswidrig, die meisten der 1,5 Millionen Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine ermordet wurden, seien von den 'Banderowzy' getötet worden. An den Massenerschießungen waren zwar tatsächlich ukrainische Hilfstruppen beteiligt, doch die Hauptschuld tragen deutsche Einheiten. Auch das Massaker von Babyn Jar, während dessen in Kiew im September 1941 innerhalb von zwei Tagen mehr als 30.000 Juden erschossen wurden, schrieb Putin ukrainischen Kräften zu. Tatsächlich wurde es von SS und Wehrmacht verübt."

Die 22-jährige Kiewerin Polina Fedorenko ist von der taz gebeten worden, einen persönlichen Text über den zweiten Kriegssommer (es ist der neunte, sagt sie) zu schreiben. Sie erinnert sich zunächst an den Winter: "Morgens ist es eine Lotterie, ob ich eine Vorlesung über moderne soziologische Theorien besuchen kann oder nicht - ob ich Netz haben werde, um Zoom-Vorlesungen zu besuchen. Der Supermarkt nebenan wirbt für den Verkauf von Stromgeneratoren. Das Geräusch dieses Winters: das Brummen der Generatoren in der Dunkelheit, dazu der Geruch von Benzin. Ich weiß nicht, wie oft ich mich diesen Winter über Elektroautos lustig gemacht habe, die an einer Ladestation aufgeladen werden mussten, die wiederum von einem Generator aufgeladen wurde, der Benzin verbrauchte, um Energie zu erzeugen. Welch ein ökologischer Kreislauf!"

Geradezu rätselhaft wirkt im Licht der Ereignisse die Intensität der Kollaboration mit den Russen, die Manuela Schwesig betrieben hatte, um Nord Stream 2 zu verwirklichen. Eine Reportergruppe der SZ versucht der Geschichte auf die Spur zu kommen: "Wie konnte das alles geschehen? Und wie konnte man das alles geschehen lassen? Wer die Geschichte rekonstruiert, wer mit damals Beteiligten spricht und interne Unterlagen auswertet, stößt auf eine größenwahnsinnige Operation. Ein Untersuchungsausschuss, der im Juni 2022 in Schwerin eingesetzt wurde, hat bis heute nicht auf alle Fragen eine Antwort finden können. Aber es haben sich immerhin zwei Interpretationen herausgebildet, um das Motiv der Landesregierung zu verstehen: Entweder hat sie nur skrupellos eigene wirtschaftliche Interessen vertreten. Oder sie stellte sich in den Dienst des Kreml. In beiden Fällen drängt sich die Frage auf, warum die Bundesregierung nicht eingegriffen hat." Keine Ahnung, ob es den Verantwortlichen in der SZ schon mal aufgefallen ist: Die Texte der Samstagsrubrik "Buch zwei" sind im E-Paper unleserlich.

Außerdem: Martina Meister feiert in der Welt die Eröffnung eines neuen "Nationalen Museums für die Geschichte der Immigration" in Paris.
Archiv: Europa

Geschichte

Aufständische Arbeiter reißen an der Grenze zum amerikanischen Sektor das Sektorenschild des "demokratischen" (sowjetischen) Sektors nieder. Bild: FOTB002901, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung


Zum siebzigsten Jahrestag des 17. Juni scheint sich auch in der breiteren Öffentlichkeit das Bild des Tages nochmal zu ändern. Der Aufstand fand bei weitem nicht nur in Berlin statt: "In Halle gab es die größte Demo mit mehr als 100.000 Teilnehmenden", sagt der Historiker Stefan Wolle im Gespräch mit Simone Schmollack  von der taz. Und eigentlich ausgegangen war er von den Bauern, die sich gegen die Kollektivierung wehrten. Nach dem 17. Juni versuchte die DDR-Führung sogar, geflüchtete Bauern aus dem Westen zurückzuholen. Auf die Frage, ob das gelang, antwortet Wolle: "Darüber gibt es keine Zahlen. Ich gehe davon aus, dass im Westen blieb, wer erst einmal dort war. Den Ausgereisten haftete zudem der Makel der 'Republikflucht' an, und die war eine Straftat. Die Folgen hatten damals vor allem Angehörige zu tragen, manche konnten kein Abitur machen, andere nicht studieren. Und sie sagten: Wir werden dafür bestraft, dass wir hier geblieben sind. Die Mehrheit der Bevölkerung war gegen die DDR und den SED-Staat. Es war aber auch klar, dass das System nicht zu stürzen ist, solange die Sowjetunion existiert."


Hubertus Knabe belegt in seinem Blog mit vielen Fotos, wie massiv die Proteste in fast allen Städten in der DDR waren: "In der Rückschau steht der 17. Juni für den wohl mutigsten Versuch in der deutschen Geschichte, unter den Bedingungen einer Diktatur freie Wahlen zu erzwingen", konstatiert er. Und dies trotz des realen Terrors, mit dem die DDR-Führung zu dieser Zeit noch agierte. Zehntausende saßen zum Zeitpunkt des Aufstands in den Gefängnissen, 20.000 Menschen warteten noch auf ihren Prozess, so Knabe: "Dass sich die Proteste trotzdem in diesem Umfang Bahn brachen, zeigt, dass die Bevölkerung reale Hoffnungen auf einen Regimewechsel hatte. Dass dies heute kaum mehr präsent ist, hat vor allem damit zu tun, dass Geschichte in der Regel von ihrem Ende her betrachtet wird. Dabei verkürzen sich historische Prozesse auf ihr Ergebnis. Im Fall des Aufstands am 17. Juni geht dadurch die ungewöhnliche Kraft verloren, mit der ein Großteil der Ostdeutschen 1953 gegen das sozialistische Regime aufbegehrte."

Gestern gedachte der Bundestag des Aufstands. Nicht alle waren gekommen.
Schon im Juni 1953 setzte im Grunde auch das Desinteresse des Westens an dem, was im Osten geschah, ein, klagt in der taz der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der sich intensiv mit dem 17. Juni befasst hat. Und dieses Desinteresse herrscht bis heute: "Die meisten künftigen Geschichtslehrer verlassen heute eine deutsche Universität, ohne sich annähernd sachgerecht mit der DDR- und Kommunismusgeschichte befasst zu haben. Es gib keinen einzigen Lehrstuhl für Kommunismusgeschichte. Dabei müsste es an jeder deutschen Universität, wo Geschichtslehrer ausgebildet werden, einen solchen geben. Es gibt auch kaum Kommunismusexperten an deutschen Hochschulen.Es ist eben kein Zufall, dass es auch keine neueren Forschungen zum 17. Juni 1953 gibt."

Weitees: In der NZZ erinnert der Historiker Klaus-Rüdiger Mai. Hier ein Link zu Radioaufnahmen zum 17. Juni aus dem SWR-Archiv.
Archiv: Geschichte

Überwachung

Alexander Fanta fürchtet in Netzpolitik, dass in einem Gesetz der EU gegen Staatstrojaner ausgerechnet ein solcher eingeschmuggelt werden soll. Eigentlich soll das Gesetz die Pressefreiheit stärken, doch es wurde auf Wunsch Emmanuel Macrons ein Ausnahmeparagraf hinzugefügt, der die Überwachung von Journalisten erlauben soll, falls die "nationale Sicherheit" auf dem Spiel stehe: "Das geht aus einem Textentwurf der schwedischen Ratspräsidentschaft vom 7. Juni hervor, den wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhielten und im Volltext veröffentlichen. Der Rat geht damit über frühere Vorschläge zur Verwässerung des Textes hinaus, über die wir zuvor berichteten."
Archiv: Überwachung

Medien

Cover: M. Der Mann der VorsehungFür Antonio Scurati, Autor des Mussolini-Romans "M. Der Mann der Vorsehung", der in der SZ schreibt, ist Berlusconi die Inkarnation der von den Unterhaltungsmedien produzierten totalen Simulation: "Die Reduzierung der Welt auf das Abbild der Welt, des Lebens auf den Konsum an sich und der Realität auf Waren kennt keine Grenzen... Für diesen Traum ist ein hoher Preis gezahlt worden. In den dreißig Jahren der Berlusconi-Trugbild-Domäne ist die Staatsverschuldung explodiert, der Planet hat sich furchtbar überhitzt, Europa ist wieder zu einem Schlachtfeld geworden."

Michael Braun wirft in der taz allerdings einen eher ernüchternden Blick auf das inzwischen darbende Medienimperium Silvio Berlusconis: "Sein politischer Abstieg - Forza Italia holte bei den letzten Parlamentswahlen nur noch 8 Prozent - verlief im Gleichschritt mit unternehmerischem Niedergang. Vor sechs Jahren hatte Mediaset noch einen Börsenwert von 10 Milliarden Euro, doch mittlerweile ist sie auf nur noch 1,7 Milliarden abgestürzt. Und wurde die Mediaset-Aktie im Sommer 2021 noch mit 3 Euro notiert, so war sie unmittelbar vor Berlusconis Tod nur noch 65 Cent wert. Dabei liegen die Einschaltquoten immer noch bei rund 35 Prozent, fließen auch genügend Werbeeinnahmen, um Gewinne zu sichern."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Boris Johnson ist abserviert. Aber er bleibt nicht arm, denn er hat einen Hunderttausende Pfund schweren Vertrag abgeschlossen, um da weiterzumachen, wo er mit fatalen Auswirkungen aufgehört hatte - als Kolumnist einer britischen Zeitung. Nun schreibt er also für die Daily Mail. Und zwar über jene Wunderdroge namens Ozempic, die man sich einmal die Woche spritzen muss und die fast auch ihn zum Abnehmen gebracht hätte: "Nach vierzig Jahren des moralischen Versagens, vierzig Jahren der Schwäche gegenüber der Versuchung - der Akrasia - sollte ich eine neue und unbesiegbare chemische Willenskraft entwickeln. Ich sollte ein Vielfraß a.D. werden, ein Mensch der Mäßigung, der Anmut und der Zurückhaltung, und wie meine Kabinettskollegen sollte ich anfangen, einem in Stein gemeißelten Windhund zu ähneln..."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Ozempic, Johnson, Boris