9punkt - Die Debattenrundschau

Die Alternative ist, dass wir nett sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2023. Die Welt beleuchtet die Machenschaften des "französischen Trump der Medien" Vincent Bolloré. Die taz erzählt die Geschichte des Ryyan Alshebl, der vor acht Jahren als Flüchtling aus Syrien kam und nun Bürgermeister der 2.500-Seelen-Gemeinde Ostelsheim in Schwaben ist. Für die FAZ besucht Ines Geipel den AfD-Landkreis Sonneberg und stellt fest: "Wo das Extrem einst stattfand, ist es unter entsprechendem Druck wieder aufrufbar." Im Tagesspiegel stellt der  Neurowissenschaftler Anil Seth die Frage der Fragen: Wird KI ein Bewusstsein entwickeln?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2023 finden Sie hier

Europa

Die Welt ist nicht nur schlecht. Benno Stieber erzählt in der taz die Geschichte des Ryyan Alshebl, der vor acht Jahren als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland kam und der es jetzt zum Bürgermeister der 2.500-Seelen-Gemeinde Ostelsheim in Schwaben brachte: "Der Landkreis Calw ist mindestens eine konservative Gegend. Trotzdem haben sie ihn hier gewählt. 'Wir Schwaben mögen eben Schaffer', sagt Bürgermeisterkollege Boris Palmer über ihn. Auch diese Wortmeldung des umstrittenen Kollegen mag ihm in bürgerlichen Kreisen eher genutzt als geschadet haben. Aber auch die AfD hat im Nordschwarzwald bei Bundes- und Europawahlen seit Jahren stabile Wahlergebnisse über 12 Prozent. Trotzdem haben sie hier einen Geflüchteten gewählt. Er habe kaum Anfeindungen erfahren, sagt Alshebl, und sich auf weit Schlimmeres eingestellt."

Ines Geipel besucht für die FAZ den AfD-Landkreis Sonneberg und die Stadt Raguhn, wo die AfD drankommen könnte, beides Frontstädte, wie sie erinnert, oder Städte direkt an der einstigen deutsch-deutschen Grenze und besonders sinnbildlich für "unsortiertes Leid", das zu kommunistischen Zeiten "eisern beschwiegen" wurde: "Aufarbeitungsforscher, die in postsowjetischen Nachgesellschaften wie Bulgarien oder Kirgistan unterwegs sind, schildern von dort dasselbe Phänomen: Wo das Extrem einst stattfand, ist es unter entsprechendem Druck wieder aufrufbar: die Angst, die Apathie, das Chaos, der innere Kollaps. Geschichte rutscht ineinander, Länder kippen, Gesellschaften implodieren. Das ist das Traumagesetz der Diktaturen oder auch das lange Ding mit der Unerinnerbarkeit."

In ihrer regelmäßigen Presseschau russischer Medien für die NZZ berichtet die in Russland geborene Schriftstellerin Irina Rastorgujewa von den Meldungen nach Prigoschins Putschversuch: "Das Institut für politische Studien meldet, dass die Unterstützung für den Präsidenten auf 90 Prozent gestiegen sei, während der Gouverneur der Region Rostow, Wassili Golubew, berichtet, dass die Szenen, in denen die Wagner-Leute freudig mit den Bürgern zusammengetroffen seien, von in Zivil gekleideten Söldnern selbst inszeniert worden seien. (…) Die stellvertretende Sprecherin der Staatsduma, Irina Jarowaja, teilt während einer Plenarsitzung mit, dass im Rahmen eines neuen Pentagon-Projekts 'verbündete Insekten' entwickelt worden seien, die 'genetisch veränderte Viren und Krankheitserreger' tragen könnten. Die Armee verdoppelt die Zahl abgerichteter Kampfdelfine zum Schutz der Schwarzmeer-Basis auf der Krim. In Rostow stirbt der Anti-Kriegs-Aktivist Anatoli Beresnikow in einer Haftanstalt. Ihm wurde vorgeworfen, Flugblätter des ukrainischen Projekts 'Ich will leben' verteilt zu haben, in denen Russen aufgefordert werden, sich zu ergeben. Wie Beresnikows Anwältin Irina Gak berichtet, wurde er gefoltert, erhielt Stromschläge, seine Rippen wurden gebrochen, und er wurde mit dem Tod bedroht. Sie geht davon aus, dass er an den Folgen der Folter gestorben ist. Nach dieser Aussage durchsuchte die Polizei die Wohnung von Gak, und die Anwältin verließ Russland."

Der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad war dabei, als die Schriftstellerin Victoria Amelina in einem Restaurant in Kramatorsk bei einem Raketenangriff verletzt wurde - vor einigen Tagen erlag sie ihren Verletzungen (unsere Resümees). In der NZZ widerspricht er der Behauptung der russischen Geheimdienste, das Restaurant habe als Kommandoposten ukrainischer Streitkräfte gedient: "Vor allem war das Restaurant ein Treffpunkt der Einwohner von Kramatorsk, einer Stadt, die zu Beginn der russischen Invasion 200.000 Einwohner zählte und heute gerade noch etwa 80.000. Warum also so hohe Kosten und so viel Präzision für ein ziviles Ziel? Wiktoria hat es uns einmal erklärt: als Bestrafung und Lektion für eine Bevölkerung, die weder russisch sein will noch die Russen mit offenen Armen empfängt."

Putin hat sich in seiner Selbstinszenierung bewusst als Gegenbild zur russischen "Männerkrise" stilisiert, schreibt der Osteuropahistoriker Jan Arend in der FAZ. Russische Männer trinken bekanntlich gern und sterben früh. "Das von einem Wahlkampfmanager des Präsidenten so bezeichnete 'Projekt Putin' beruhte auf der Schaffung einer männlichen Ikonografie, die die Liebhaber der Macho-Thriller ebenso ansprach wie die 'Schwiegermütter' aus dem spätsowjetischen Schlager." Dieses Bild sei mit dem Krieg allerdings in die Krise geraten.

In Schweden ist ausgerechnet an einem muslimischen Feiertag und ausgerechnet vor einer Moschee eine Koran-Ausgabe verbrannt worden. Die schwedische Regierung hat sich distanziert, in arabischen Ländern gibt es die üblichen Proteste. Die Polizei versucht solche Aktionen immer wieder zu verbieten, berichtet Julian Staib in der FAZ. Aber Schweden ist stolz auf eine radikale Tradition der Meinungsfreiheit: "Schweden war weltweit das erste Land, das Pressefreiheit garantierte, es hat die wohl umfassendsten Meinungs- und Pressefreiheitsrechte. Sie sind in der Verfassung verankert. Das Gesetz über die öffentliche Ordnung schreibt vor, dass die Erlaubnis für eine Versammlung nur dann verweigert werden darf, wenn dies im Hinblick auf die Sicherheit der Versammlung selbst oder als unmittelbare Folge davon erforderlich ist."
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Gesellschaft

Auf Twitter wird weiterhin erregt über Ahmad Mansour diskutiert, während die Medien die Debatte heute kaum aufnehmen. Die "Weltoffen"-Fraktion möchte bekanntlich seine Seriosität als Experte in Frage stellen (unser Resümee). Das ganze basiert auf einer angeblichen Recherche des Journalisten James Jackson, die durch prominente Retweets in die Aufmerksamkeit gespült wurde. Ingo Way liest sie für Cicero und resümiert trocken: "Die Recherche wirft keine Fragen auf, da der Autor gar nicht herausgefunden hat, was er herausgefunden zu haben behauptet." Mansour bringt in senem Twitterfeed Gegenbelege zu den Unterstellungen des Journalisten.

Der Supreme Court hat die Affirmative Action an amerikanischen Universitäten vergangene Woche als verfassungswidrig verworfen. Hatte das Vorhaben überhaupt Erfolg, fragt Ayaan Hirsi Ali heute in der NZZ: "Eine aktuelle Studie des Fed stellt fest, dass Haushalte von Afroamerikanern im Schnitt nur halb so viel Einkommen verzeichnen wie jene von weißen Amerikanern. Es geht schwarzen Amerikanern ökonomisch sogar schlechter als allen anderen Minderheitengruppen in Amerika, einschließlich Immigranten gleicher Hautfarbe aus der Karibik und aus Afrika. Von jenen, die sich in einer Hochschule einschreiben, machen nur 42 Prozent innerhalb von sechs Jahren ihren Abschluss - das ist weit weniger als der nationale Durchschnitt von 63 Prozent. Man möge mir die deutlichen Worte verzeihen: Als schwarzer College-Student in Amerika ist es wahrscheinlicher, dass ich mein Studium abbreche, als dass ich einen Abschluss mache." Wichtiger wäre es, den Zugang zu guten Schulen in jungen Jahre zu erleichtern, schreibt sie.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Das ARD-"Mittagsmagazin" wird künftig nicht mehr im RBB, sondern im MDR produziert. Dass dabei vor allem freie Mitarbeiter gefeuert werden und neue engagiert werden, ist normal, schreibt Carolina Schwarz in der taz. Ein gleichlautender Tweet zweier bisheriger ModeratorInnen, Aimen Abdulaziz-Said und Nadia Kailouli, löste dennoch viel Ärger aus, er lautete: "Wie ihr wisst, zieht das ARD-MIMA 2024 nach Leipzig. Ich werde die Sendung dann leider nicht mehr moderieren. Laut MDR-Chefredakteurin soll die künftige Moderation einen ostdeutschen Hintergrund haben. Das muss ich so akzeptieren. Ich wünsche den Kolleg*innen viel Erfolg." Die Irritation, so Schwarz, resultiert vor allem aus dieser angeblichen Forderung der MDR-Chefredakteurin Julia Krittian nach einem ostdeutschen Hintergrund der neuen Moderatoren. "Mittlerweile hat Krittian die Aussage öffentlich dementiert. Auf Nachfrage der taz beim MDR gibt es keine Antwort zu der konkreten Formulierung. Mehrere Anwesende der Sitzung bestätigen jedoch unabhängig voneinander gegenüber der taz, dass Krittian einen ostdeutschen Hintergrund zur Bedingung der Moderation erklärt hätte."

Nicht nur die Belegschaft des Journal du Dimanche ist seit der Ernennung von Geoffroy Lejeune in den Streik getreten (Unser Resümee). Inzwischen haben sich in einem Appell in Le Monde auch über 400 Persönlichkeiten des kulturellen, sozialen und politischen Lebens gegen Lejeune gestellt, meldet Martina Meister in der Welt: "Zum ersten Mal seit der Befreiung Frankreichs wird ein großes, nationales Medium von einer rechtsextremen Persönlichkeit geleitet", schreiben sie. Die Ernennung ist der nächste Schachzug von Neuinhaber Vincent Bolloré, Milliardär und erzkatholischer Medienmogul, der sich auf einem "fundamentalistischen Kreuzzug" befinde, so Meister: "Bolloré kaschiert nicht, dass er als gläubiger Katholik das französische Christentum durch Muslime bedroht sieht. Er gilt als der 'französische Trump der Medien' und will erklärtermaßen die Schlacht um die kulturelle Meinungshoheit gewinnen. Das Programm seines Info-Senders CNews kostet wenig Geld, weil kaum Reportagen ausgestrahlt, dafür Debattenrunden von Scharfmachern bestritten werden, die für ausreichend Widerhall in den sozialen Medien sorgen. Zemmour war Dauergast im Studio von CNews, bevor er in die Politik ging. Mit seinem Imperium erwirtschaftete Bolloré bislang 10 Milliarden Euro jährlich. Experten schätzen, dass er durch die Übernahme der Lagadère-Gruppe seinen Umsatz auf 17 Milliarden ausbauen könnte." (Mehr hier)
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Kulturpolitik

"Wann wird endlich jemand auf die Idee kommen, zwischen Kosten und Fristen einen Zusammenhang herzustellen?", fragt sich Gerhard Matzig (SZ) fassungslos mit Blick auf Baudesaster wie den BER, die Hamburger Elbphilharmonie oder jüngst das Kulturzentrum am Gasteig in München. Schuld an Baukostenexplosionen sind laut Matzig weder Inflation noch Handwerkermangel, sondern schlicht die politisch Verantwortlichen: "Es sind bei öffentlichen Bauten in aller Regel die öffentlichen Bauherren, die die Mehrkosten verursachen - darunter sehr selten Leute, die nicht Steuergelder, sondern das eigene Geld riskieren durch ihr Verhalten. Worüber sie aber immer wieder staunen - und dann vermutlich intern beraten, um sich eine Meinung zu bilden. Der Faktor Zeit ist zum entscheidenden Akteur auf den Baustellen geworden. Man muss vorher gründlich planen - und dann schnell bauen. Ist das schon höhere Mathematik? Wenn die Demokratie in diesem Tempo weitermacht, wird man sich bald wieder Könige als Bauherren wünschen."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Inflation, Elbphilharmonie

Internet

"KI weiß viel, ist aber nicht bewusst", erklärt im Tagesspiegel-Gespräch der Neurowissenschaftler Anil Seth, dessen Buch "Being You. A New Science of Consciousness" vom Economist als Buch des Jahres ausgezeichnet wurde. Dennoch hält es nicht für ausgeschlossen, dass KI irgendwann Bewusstsein entwickelt: "Ich glaube erst mal nicht, dass es bewusste KI geben kann, weil sie dafür lebendig sein müsste. Aber ich könnte auch falschliegen. KI kann jedoch, und das tut sie schon, bewusst wirken. Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger warnt auch vor einer ethischen Katastrophe: Wir könnten eine potenzielle neue Form des Leidens erschaffen, die gesellschaftsschädigend sein könnte. (…) Ich merke das an mir: Wenn ich mit ChatGPT schreibe, dann sage ich nicht 'bitte' und 'danke', ich bin sogar herrisch. So was hat einen brutalisierenden Effekt auf unsere Psyche. Die Alternative ist, dass wir nett sind, Rücksicht nehmen und der KI sogar Rechte einräumen. Wenn ich den Anschein habe, dass ein System Bewusstsein hat, verhalte ich mich anders. Das wäre schon ein seltsames Terrain, wenn wir Chatbots Rechte einräumen würden, nicht aber einem Fisch, der viel wahrscheinlicher Schmerz empfindet. So werden unsere ethischen und moralischen Bedenken verzerrt."
Archiv: Internet
Stichwörter: ChatGPT

Geschichte

Sehr beeindruckt berichtet Tilman Spreckelsen für die FAZ von einer Ausstellung mit Exponaten des "Ringelblum-Archivs" im NS-Dokumentationszentrum München. Kurz erzählt er die Geschichte des Archivs, das bereits im Warschauer Ghetto gegen die Vernichtung und das Vergessen angelegt wude. Die Ausstellung präsentiere eine kluge Auswahl: "Die schwierige Rolle des Judenrats wird ebenso beleuchtet wie die Maßnahmen der Deutschen zur Kontrolle der Ghettobewohner, die rege Untergrundpublizistik, die prekäre Versorgungslage und Versuche, in alldem noch so etwas wie Normalität zu erleben, indem Schulunterricht abgehalten und Theaterstücke und Konzerte aufgeführt wurden. Dass der Schrecken trotzdem immer präsent blieb, teilt sich in den Aufsätzen der Schüler mit, geschrieben etwa zu einem Thema, das andernorts ganz harmlos wäre, hier jedoch die deprimierendsten Ergebnisse produziert: 'Was wir auf der Straße sehen'."
Archiv: Geschichte