9punkt - Die Debattenrundschau

Das vermutete Empörungspotenzial

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2023. In der taz plädiert Georg Seeßlen für eine Ökologie des Denkens. Der Guardian würde gern den Vorwurf des "Ausverkaufs" wiederbeleben, um die Popmusik zu revitalisieren. Die FAZ fragt sich, ob die Spanierinnen am Sonntag zur Wahl gehen werden, die von allen Parteien im Stich gelassen wurden. NZZ und Jüdische Allgemeine widmen sich dem Phänomen des "richtigen" Juden Fabian Wolff, der ein falscher war. Hpd fragt, wie lange der Staat noch die Kirchensteuer einziehen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.07.2023 finden Sie hier

Ideen

In der taz denkt Georg Seeßlen über das Denken nach. Anstrengend, gibt er zu, und ganz was anderes, als eine Meinung haben. "Die Rolle des Denkens beim Meinung-Haben nimmt, wie es scheint, rapide ab. Parallel zur Rolle von Faktizität, Logik, Common Sense. Die libertäre Vorstellung von Freiheit besteht darin, dass jede und jeder seine Meinung als Waffe im sozialen Hegemonie-Kampf einsetzen darf. Möglichst laut, drastisch und obszön. Darin gerinnen Restdenken, Biografie, Interesse und Wahn zum Spektakel. Wer eine Meinung hat, braucht sich mit dem Denken nicht mehr lange aufzuhalten. Das Denken selbst ist zu einem Produktionsmittel für Meinungen verkommen. Selbst jene, die berufsmäßig für öffentliches Denken zuständig wären, die Intellektuellen und, nun ja, Philosophen, treten nur noch als Meinungs-Kasperle der Medien auf. Kehren wir also der Ökonomie des Denkens den Rücken und widmen uns einer Ökologie des Denkens, nämlich als einer natürlichen, von Zerstörung und Vergiftung bedrohten Ressource. Dann gälte es, wie im Slow Food zu einer Achtsamkeit der Nahrung, im Slow Travelling zu einer Achtsamkeit des Reisens, im Slow Thinking zu einer Achtsamkeit des Denkens zu finden. Das Denken würde vielleicht zu seiner natürlichen Würde zurückkehren."

Im Guardian denkt Dan Brooks über den Begriff des "Ausverkaufs" nach - ein Vorwurf, der in den Neunzigern wichtig zur Selbstbestimmung war, den man heutzutage aber nicht mehr oft hört. Dass "alternative" Bands sich oft saugut verkauften, was den Vorwurf des Ausverkaufs gegen andere ziemlich albern machte, versteht er inzwischen. Aber so ganz möchte er den Begriff nicht aufgeben. Denn Ausverkauf bedeute auch, Musik zu machen, die erwartet wird, und das sei doch eigentlich ziemlich traurig: "Mit der Populärkultur des 21. Jahrhunderts stimmt doch etwas nicht, oder? Man muss kein Punk mittleren Alters sein, um zu denken, dass sie sich weniger überraschend und lebendig anfühlt, als sie es einst war. Die Unterhaltungsindustrie im Allgemeinen und die Musikindustrie im Besonderen sind außerordentlich gut darin geworden, so viele Einheiten wie möglich zu verkaufen, aber der Verkauf von Einheiten ist nicht die Aufgabe der Musik. So fehlerhaft die Idee des 'Ausverkaufs' auch war, so hat sie doch eine unumstößliche Wahrheit auf den Punkt gebracht: Nur ein Narr würde einen Song schreiben, um Geld zu verdienen. Man schreibt einen Song, um sich selbst zu überraschen, um anderen Menschen etwas zu geben, von dem sie nicht wussten, dass sie es wollen. Was der Popkultur des 21. Jahrhunderts vielleicht fehlt, ist eine ausreichende Verachtung für diejenigen, die uns das geben, was wir bereits haben wollen."

Außerdem: In der FR schreibt Harry Nutt zum Tod des Philosophen Harry G. Frankfurt.
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Europa

Was Gleichstellung von Frauen angeht, hat die linke Regierungskoalition in Spanien unter Pedro Sánchez eigentlich ziemlich geliefert, meint Elena Witzeck in der FAZ. Aber dann gab es das "Nur Ja heißt Ja"-Gesetz, das so lückenhaft war, dass "haufenweise Sexualstraftäter" freikamen. Dabei ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Spanien nach wie vor sehr verbreitet, oft genug werde Vergewaltigung nur als Kavaliersdelikt angesehen, so Witzeck. Da kann einem die Lust am Wählen vergehen, und genau davon könnten die Rechten profitieren: "Am Sonntag wird nun ein neues Parlament gewählt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die konservative Partido Popular (PP) nach einem Wahlsieg entscheidet, mit Vox zu koalieren. Aber selbst Frauenrechtlerinnen sind so frustriert, dass sie lieber einen leeren Stimmzettel abgeben oder bei der Hitze gar nicht wählen gehen, als sich noch einmal auf eine Linkskoalition einzulassen. Die Folgen der 'Solo sí es sí'-Gesetzgebung, die Erweiterung des Transgesetzes, die Aussicht auf einen düsteren Gegner, an dem man sein Profil schärfen kann, die Vermutung, dass politische Führung die feministische Sache instrumentalisiert: Gründe finden sich genug."
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Gesellschaft

Noch so ein Israelkritiker, der auf das falsche "Judenticket" setzt, seufzt der Historiker Michael Wolffsohn in der NZZ nach dem Outing Fabian Wolffs (unser Resümees), nur milde erstaunt darüber, dass sich hier jemand als Jude ausgegeben hat, der keiner war. Offenbar erfüllte Wolff damit ein Bedürfnis: "Als zentraler Störfaktor gilt in der öffentlichen Meinung Deutschlands und des Westens Israel. Israel-Bashing ist daher außen- und geschichtspolitisch willkommen, besonders wenn von Juden vorgetragen. Diese Juden gelten als die richtigen Juden, jüdische Israel-Freunde als die falschen Juden. Von nichtjüdischen Israel-Freunden und -Fans ganz zu schweigen. Sie gelten als 'unterbelichtet' oder unethisch. So gesehen, hat das Judenticket jüdischer Juden- und Israel-Kritiker einen besonders hohen Wert an der deutschen und gesamtwestlichen Beliebtheitsbörse. Von diesem sowohl strukturellen als auch konjunkturellen Hoch im Hauptstrom profitierte bislang offenbar auch Fabian Wolff. Nur Weltfremde wie ich, die vorzugsweise in Nebenströmen schwimmen, ließen sich das Vergnügen solcher, freilich nicht aller, jüdischen Juden- und Israel-Kritiker entgehen."

Dass Fabian Wolff ein "Kostümjude" ist, wusste man eigentlich schon seit September 2021, bekennt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, in der Wolff zuvor jahrelang als Autor veröffentlicht hatte. Man wollte es nur nicht bekannt machen, weil sich in einem ähnlichen Fall eine Bloggerin umgebracht hatte. Aber der Text in der Zeit lässt Engel doch den Kamm schwellen: Keine Entschuldigung, nirgends. "Fabian Wolff war jahrelang Autor der Jüdischen Allgemeinen, bis es zum öffentlichen Bruch seinerseits mit unserer Redaktion kam. Diesen Bruch verkündete er auf seinen Social-Media-Kanälen ebenso lautstark und wortgewaltig. Er 'als Jude' fände es unerträglich, dass die Redaktion neben dem Antisemitismus von rechts, links und der Mitte der Gesellschaft auch vor dem Judenhass unter der muslimischen Community warnte. Der Applaus eines bestimmten politischen Spektrums war ihm fortan gewiss. ... Besonders perfide: Juden, die andere politische Positionen als er vertreten, brandmarkte er als rechts, rassistisch und blind pro-israelisch."
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Medien

"Unterstützt von seinem Förderer, dem CDU-nahen Milliardär Frank Gotthardt" hat Julian Reichelt das Medienportal Nius eröffnet, wobei er Journalisten wie Jan Fleischhauer oder Judith Basad als Mitarbeiter gewonnen hat. Dabei setzt das Portal auf rechtspopulistische Themen, die mehrheitsfähig gemacht werden sollen, diagnostiziert Marlene Gürgen nach einem ersten Blick in der taz: "Das ist kein Zufall: Nach dem Vorbild weitaus reichweitenstärkerer Medien in den USA wie Fox News werden Nachrichten ausgewählt, bei denen das vermutete Empörungspotenzial möglichst große Teile der Bevölkerung umfasst. Kritik an der Transbewegung ist bis in feministische Kreise hinein anschlussfähig, das wissen auch Jan Karon und Judith Sevinç Basad, die dem 'vielleicht gefährlichsten Zeitgeist-Phänomen' gleich eine anderthalbstündige 'Dokumentation' widmen. Worum es bei den Ausschreitungen in Gießen ging, spielt auch in der Berichterstattung etablierter deutscher Medien kaum eine Rolle, genauso wenig wie die Frage gestellt wird, ob zwischen Neuköllns unterfinanzierter Jugendhilfe und Neuköllns randalierenden Jugendlichen ein Zusammenhang bestehen könnte." Dass Medien eine bestimmte politische Haltung haben, kennt Gürgen auch von der taz, bekennt sie, aber hier sei das doch anders: "Die Luft, in der sich Nius bewegt, riecht allerdings nach Rassismus, nach Hetze gegen Minderheiten, nach Leugnung der Klimakrise, und das ist das Problem."
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Religion

Genüsslich zitiert Inge Hüsgen bei hpd.de eine (hier bereits erwähnte) Umfrage, die besagt, dass fast drei Viertel der Menschen in Deutschland (74 Prozent) das Einziehen der Kirchensteuer als nicht mehr zeitgemäß betrachten. "Wie die Befragung weiter zeigte, denken viele Kirchenmitglieder über einen Austritt nach. 43 Prozent von ihnen gaben an, dass die Kirchensteuerzahlungen sie zum Austritt bewegen könnten. Nur der Missbrauchsskandal hat größeres Potenzial, die Gläubigen aus den Kirchen zu treiben: Immerhin 49 Prozent würden deshalb ihrer Glaubensgemeinschaft den Rücken kehren. Als weitere Gründe wurden schwindender Glaube (25 Prozent) und Reformstau (20 Prozent) genannt." Trotz der sinkenden Mitgliederzahlen sind die Kirchensteuern wegen der guten wirtschaftlichen Lage Deutschlands auf ein Rekordniveau von 13 Milliarden Euro gewachsen.
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Stichwörter: Kirchensteuer