9punkt - Die Debattenrundschau

Die Leiden von Fabian

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2023. Putin sucht nicht nach einem Ausweg aus seinem katastrophalen Krieg, sondern bereitet sich im Gegenteil intensiv auf seine Ausweitung vor, schreibt der Politologe Alexander Gabuev  in der Financial Times. Unterdessen expandieren Putins wichtigste Bündnispartner im Westen, die Rechtsextremen. Die Gefahr dabei ist nicht ein neuer Faschismus, sondern die Normalisierung rechtsextremer Diskurse, meint Kenan Malik im Observer. Can Dündar zeigt in Zeit online am türkischen Beispiel , wie eine solche Normalisierung funktioniert. Ebendort analysiert Meron Mendel den Casus Fabian Wolff.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.07.2023 finden Sie hier

Europa

In der Duma wurde gerade ein neues Gesetz verabschiedet, das die Mobilisierung weiterer Männer für den Krieg erlaubt - und daraus lässt sich für den Politologen Alexander Gabuev vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin nur eine Folgerung ziehen; "Wladimir Putin ist weit davon entfernt, einen Ausweg aus seinem katastrophalen Krieg in der Ukraine zu suchen, sondern bereitet sich auf einen noch größeren Krieg vor", schreibt er in  der Financial Times: "Von nun an kann die Regierung in aller Ruhe Einberufungsbescheide an so viele Männer verschicken, wie sie für notwendig hält. Die obere Altersgrenze für die Wehrpflicht wird von 27 auf 30 Jahre angehoben und könnte in Zukunft noch weiter angehoben werden. Sobald ein elektronischer Einberufungsbescheid ergangen ist, werden die Grenzen Russlands für den Empfänger sofort geschlossen, um eine massive Abwanderung von Männern im wehrfähigen Alter zu verhindern, wie sie Russland im letzten Herbst erlebt hat. Auch die Strafen für die Verweigerung des Dienstes wurden verschärft. Diese Maßnahmen in Verbindung mit massiven staatlichen Investitionen in den Ausbau der Waffenproduktion dürften Putin helfen, eine größere und besser ausgerüstete Armee aufzubauen."

Deutschland hat zahlreiche russische Spione ausgewiesen, die es über Jahrzehnte geduldet hatte, berichtet Markus Wehner in der FAZ: "Das ist eine einschneidende Wende ... Da große Teile der politischen und wirtschaftlichen Eliten russlandfreundlich gestimmt waren, konnte Putin im Zentrum der deutschen Politik, vor allem in der Union und in der SPD, seinen Einfluss geltend und Deutschland energiepolitisch erpressbar machen. Putin verschaffte sich durch die Buddy-Freundschaft zu Gerhard Schröder und den angespannten, aber doch engen Kontakt zu Angela Merkel über zwanzig Jahre lang möglichst viel Beinfreiheit." Besonders in der AfD, so Wehner, vermuten Sicherheitsdienste allerdings neue Einflussagenten.

Ist es sinnvoll, bei Warnungen vor der AfD immer wieder an Weimar zu erinnern? Im Interview mit der NZZ empfiehlt der Historiker Thomas Weber, nicht immer nur auf die Katastrophen zu blicken: "Die Geschichtswissenschaft zeigt leider an Konflikten mehr Interesse als an deren Vermeidung oder Meisterung. Es ist irgendwie cooler, ein Buch zu schreiben über Diktaturen und Revolutionen als darüber, wie etwas verhindert worden ist. Wir vergessen so, dass es auch in den 1930er Jahren die Krisenwahrnehmung in Ländern gegeben hat, in denen die Demokratie überlebt hat. Ein gutes Beispiel sind die Niederlande. Es gab dort damals auch ein großes Krisengefühl. Die konservative Elite des Landes sprach sich zwar nicht immer frenetisch für die Demokratie aus, hat aber aus Eigeninteresse auf das Überleben innerhalb der Demokratie gesetzt. Man hielt ganz bewusst Distanz zum Radikalismus, egal ob links oder rechts. Es durfte zwar radikale Parteien geben, aber sie wurden als unehrenhaft dargestellt." Eine Strategie, die Hilmar Klute heute in der SZ auch Friedrich Merz empfiehlt.

In Europa droht kein neuer "Faschismus", meint der Observer-Kolumnist Kenan Malik angesichts des Aufstiegs rechtpopulistischer und -extremer Parteien in fast allen Ländern. Gefährlicher ist die Normalisierung ihrer Diskurse: "Sie sind von einer verachteten, marginalisierten Gruppe zu einer zentralen Kraft in der europäischen Politik geworden. Rechtsextreme Denkweisen, insbesondere in Bezug auf Einwanderung und Identität, sind in den Mainstream eingesickert. Im Bereich der Einwanderung wurden viele rechtsextreme Kernpunkte - die Militarisierung der Grenzkontrollen, die massenhafte Inhaftierung und Abschiebung von Migranten ohne Papiere, die Forderung, dass Flüchtlinge nur außerhalb der EU Asyl beantragen dürfen - in die Politik übernommen worden, und zwar nicht nur in der EU."

Beim jüngsten AfD-Parteitag, wo der rechtsradikale EU-Abgeordnete Maximilan Krah zum Spitzenkandidaten für die AfD-Liste zur Europawahl aufgestellt worden ist, bot die Partei zugleich ein bizarres Bild, berichtet Gareth Joswig in der taz: Man schwimmt oben. Noch inniger als der Hass auf den "Mainstream" ist aber der Hass der einen auf die anderen AfD-Leute: "Es ist das erste Mal auf einem AfD-Bundesparteitag, dass sich das völkische Lager auf offener Bühne derart streitet - das ist auch Ausdruck einer neuen Machttektonik innerhalb der extrem rechten Partei. Die Radikalisierung zu einer geschlossen rechtsextremen Partei mag abgeschlossen sein, die großen programmatischen Debatten vorbei - befriedet ist die AfD deswegen aber noch lange nicht."

Kann auch in Deutschland die Brandmauer gegen rechtsextremistische Parteien bröckeln? Das geht ganz leicht, erklärt Can Dündar auf Zeit online am Beispiel Erdogans: 1998 wurde der heutige Präsident der Türkei für seine islamistische Politik noch vom Militär verhaftet. Daraufhin nahm er eine "Lagebeurteilung" vor, in deren Folge er sich zum vorgeblich "gemäßigten Islamisten" wandelte. Mit großem Erfolg, wie wir heute wissen: "Aus dem Westen regnete es Lob. In der Politik war die Bahn frei für ihn. Großkapital und Establishment, die sich zuvor ferngehalten hatten, begannen, ihn zu unterstützen. Mit diesem Rückhalt kam er nach drei Jahren, (...), an die Macht. In seinen ersten Regierungsjahren festigte er mit liberalen Maßnahmen die Unterstützung des Westens wie auch seine Macht im Inneren. Aufgrund dessen konnte er die Justiz und die laizistische Armee, die er als größtes Hemmnis für sich betrachtete, ausschalten. Nachdem diese Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, streifte er das alte radikale Hemd wieder über und verwandelte sich in einen Autokraten. Nun verfügte er über die absolute Machte und brauchte in keine andere Rolle mehr zu schlüpfen, um irgendjemandes Unterstützung zu erhalten."
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Religion

Die katholische Kirche befindet sich momentan in einem "Bürgerkrieg", sagt Publizist Marco Politi im Zeitonline-Interview mit Raoul Löbbert. Währenddessen befördert Papst Franziskus Vertraute in wichtige Ämter und versucht die Kirche im Stillem zu reformieren. Dabei begegnet dem Papst viel Angst: "Selbst viele Reformer wollen nicht die Einheit der Weltkirche aufs Spiel setzen. Da dient die anglikanische Kirche als Negativbeispiel: Im Norden ist sie liberal, da können Frauen und Homosexuelle Priester und Bischöfe werden. Im Süden, vor allem in Afrika, ist das völlig undenkbar. Da können Anglikaner mit Anglikanern nicht mehr miteinander reden. Und bei den Protestanten, die all das haben, was die Deutschen wollen - Frauenpriestertum et cetera - sind die Kirchen ebenfalls leer. "
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Stichwörter: Papst Franziskus

Kulturpolitik

Der Theologe und SPD-Politiker Richard Schröder, einst Fraktionsvorsitzender der SPD in der letzten frei gewählten Volkskammer der DDR, ist heute Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss. In einem ganzseitigen FAZ-Artikel weigert er sich in der Inschrift an der Kuppel des Schlosses, die bekanntlich fordert, "dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind", eine Provokation zu erkennen. Der "angeblich giftige Hintersinn der Inschrift" löse sich in Luft auf, wenn man bedenke, dass die Inschrift keineswegs als Antwort auf 1848 gemeint sei. Und was ist an der Berufung auf Gott überhaupt falsch? "Nach der völlig unverantwortlichen Willkürherrschaft der Nazizeit haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes es für geboten gehalten, in der Präambel an die Verantwortung vor Gott zu erinnern. Den Revolutionären war das allein - verständlicherweise - zu wenig Machtkontrolle. Aber wir gäben viel darum, wenn uns die zwei Diktaturen enthemmter Herrschaft ohne Gewissenbindung erspart worden wären."

In Chemnitz laufen die Vorbereitungen für das Kulturhauptstadtjahr, berichtet Lennart Laberenz in der FAZ. Einige kulturelle Missverständnisse sind aber noch abzubauen: "Im März wurden Kulturmanager nach einer Konferenz von polizeibekannten Rechten bedrängt, einer heftig verprügelt: Sie hatten in der Innenstadt Englisch gesprochen."
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Gesellschaft

Zeit online beschäftigt sich laut eigener Aussage gerade mit der umfassenden Aufarbeitung der Causa Fabian Wolff und der eigenen Rolle dabei. In der Zwischenzeit wurde Meron Mendel als Israeli um eine Außenansicht zur Sache gebeten, welche er auch liefert. Nach einer sehr sehr langen Einleitung kommt er zum Punkt: Die Zeit, meint er, betreibt ja schon ihr Framing. "Opfer sind nicht die Menschen, die von Wolff zu Unrecht angegangen wurden, das Opfer ist Fabian Wolff selbst. Dazu reicht aus, den melodramatischen Vorspann zum jüngsten Essay Mein Leben als Sohn zu lesen: 'Ein Leben stürzt ein, jede Gewissheit wird brüchig, und die Angst hört vielleicht nie auf.' Wer spricht da zu uns? Wolff selbst? Sein Über-Ich? Die Redaktion? Egal. Eines ist klar, es geht um die Leiden von Fabian. Und wer da nicht mitfühlen kann, ist doch kein Mensch. Mit einem rhetorischen Flickflack macht sich Wolff zum eigentlichen Opfer des Stücks - und Zeit online lässt ihn 70.000 Zeichen lang gewähren. In der Fachsprache spricht man von Täter-Opfer-Umkehr." Mendel braucht von der Zeit "keine weiteren 70.000 Zeichen Text dazu. Mir würde eine kurze Stellungnahme völlig ausreichen."
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Stichwörter: Wolff, Fabian, Mendel, Meron

Politik

Vieles spricht dafür, dass der hohe iranische Geistliche Hossein Ali Nayyeri im Privatkrankenhaus des Neurochirurgen Majid Samii in Hannover behandelt wird, berichtet Michael Trammer in der taz - Nayyeri war Ende der achtziger Jahre für Tausende Hinrichtungen verantwortlich und könnte nach dem Weltrechtsprinzip verklagt werden. Interessant dabei ist auch der Arzt, der gute Beziehungen zum iranischen Regime unterhält und zugleich in Deutschland bestens vernetzt ist: "Der 1937 im Iran Geborene präsentiert sich auf Instagram als Mann von Welt: beim Geburtstag des Anwalts Götz Fromberg mit Gerhard Schröder oder beim Handshake mit dem Sprecher des iranischen Parlaments Mohammad Ghalibaf. Zahlreiche Ehrungen hat Samii sein chirurgisches Können bereits eingebracht - unter anderem das Bundesverdienstkreuz. Drei Dependancen hat das INI weltweit. Anteile am Unternehmen halten der Klinikbetreiber Asklepios und die Norddeutsche Landesbank. Ein Betreten des Glaskomplexes ist seit 19. Juli wegen 'krankenhaushygienischer Maßnahmen' nicht möglich."
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Stichwörter: Schröder, Gerhard

Internet

In der NZZ warnt Adrian Lobe mal wieder vor KI und Metaversum. Dass Silicon Valley das auch tut, bringt ihn aber kurz aus dem Konzept: "Geht es den Tech-Vordenkern etwa doch um politische Macht? Lassen sich in Krisenzeiten Technologien mit dystopischem Sound besser verkaufen?", fragt er. Darauf hat die Informatikerin Katharina Zweig im Interview mit Zeit online eine knappe Antwort: "Der Begriff künstliche Intelligenz war schon vor 50 Jahren ein Werbemittel, um Forschungsgeld zu bekommen."
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Stichwörter: Künstliche Intelligenz