9punkt - Die Debattenrundschau

Wie ein Diskurs krank wird

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.08.2023. "Apartheid ist Realität in Israel", erwidert Amos Goldberg in einer scharfen Attacke auf Felix Klein. In Bergkarabach droht ein "Genozid" an der armenischen Bevölkerung, warnt die Soziologin Tessa Hofmann im Tagesspiegel. Heute soll das neue Selbstbestimmungsgesetz beschlossen werden: Im Spiegel fürchtet Alice Schwarzer ein "Recht auf Selbstzerstörung", Ferda Ataman erkennt zu viele Diskriminierungen im Gesetz - und die SZ verweist ganz nüchtern auf viele einschränkende Klauseln. Keine Angst vor Liberalismus, ruft die Philosophin Elif Özmen in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.08.2023 finden Sie hier

Politik

Die Nahostexpertin Muriel Asseburg hatte in einer Analyse für die Stiftung Wissenschaft und Politik geschrieben: "Prima facie begeht Israel in den besetzten Gebieten das Verbrechen der Apartheid, das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft ist." Daraufhin hatte Felix Klein in einem von uns leider übersehenen Interview in der Welt Anfang August erwidert: "Israel Apartheid zu unterstellen, delegitimiert den jüdischen Staat und ist daher ein antisemitisches Narrativ, an dessen Verwendung Kritik geübt werden kann und soll." Seit einigen Tagen sorgt nun die Petition "The Elephant in the Room" für Debatten, in der inzwischen mehr als 1900 jüdische und israelische Wissenschaftlern Israel ebenfalls Apartheid vorwerfen.

In der FAZ putzt der israelische Historiker Amos Goldberg den Antisemitismusbeauftragten der Bundesrepublik, Felix Klein, nun herunter, weil der den Apartheidvorwurf gegen Israel antisemitisch nennt. "Apartheid ist Realität in Israel", ruft er. "Hätte Felix Klein recht, wären einige der namhaftesten Holocaust- und Antisemitismusforscher aus Israel, Amerika, Europa und der ganzen Welt Antisemiten", behauptet Goldberg mit Verweis auf die von mehr als 1.900 Universitätsleuten unterzeichnete Petition "The Elephant in the Room": "Klein erkennt an, dass Israel als jüdischer Staat ein Apartheid-Staat sein könnte, findet es aber antisemitisch, in Bezug auf Israel von Apartheid zu sprechen. Mit dieser Haltung ist er nicht mehr weit entfernt von jenen rechtsextremen Politikern, die der aktuellen israelischen Koalitionsregierung angehören und offen fordern, dass der jüdische Charakter des Staates über seinem demokratischen Charakter stehen müsse. (...) Wenig überraschend also, dass die jüngsten Entwicklungen in Israel seit Bildung der offen rassistischen und antidemokratischen Regierung, die ihre Apartheid-Politik täglich praktiziert, bei Klein nicht einmal für eine Spur an Irritation gesorgt haben. Und das, obwohl die Regierung die faktische Annexion der besetzten Gebiete weiter vorantreibt und die Millionen Palästinenser, die dort leben, ihrer Rechte beraubt, während die israelischen Bewohner dieser Gebiete, also die Siedler, volle Bürgerrechte genießen."

"abhs" hat in einem Leserkommentar zur gestrigen Perlentaucher-Presseschau den Gebrauch des Worts "Apartheid" in Bezug auf Israel aufgespießt. Das Wort sei im Kontext des Nahost-Konflikts "immer ein postkolonialer Kampfbegriff. Er dogwhistlet: 'Die (weißen) Juden' machen mit 'den (indigenen) Palästinensern', was 'die Weißen' mit 'den Schwarzen' gemacht haben. Wenn es nur darum ginge, der arabisch-nichtjüdischen Bevölkerung angetanes Unrecht präzise zu benennen, könnte man das ja tun, ohne auf Südafrika zu rekurrieren. Wer sich solche Kampfbegriffe zu eigen macht und sich mit ihrer Hilfe profiliert, nimmt billigend in Kauf, dass er die Salonfähigkeit des globalen Antisemitismus befördert, indem er als Token israelbezogener Stereotype wirkt. Kritik an israelischer Politik ist wichtig. Aber sie sollte strikt an der hochkomplexen Sachlage orientiert sein. Israelkritiktheater, wie es von manchen Juden mit großem Eifer auf die Bühne gebracht wird, steht für das Gegenteil: Taktische Anbiederung bei den Goyim, um den eigenen Identitätswidersprüchen zu entfliehen."
Archiv: Politik

Europa

An die "Mär vom Protestwähler" glaubt niemand mehr - und auch Unsicherheiten, die Versprechen der Demagogen, Idenitätssucht oder die sozialen Medien geben keine hinreichende Erklärung dafür, dass Menschen nur ein "Lebensalter nach Auschwitz" wieder eine faschistische Partei wählen, schreibt Georg Seeßlen, der sich in der taz das Wählen der AfD nur mit "Politischer Paranoia" erklären kann: "Politische Paranoia meint ein Denken und Wahrnehmen, das auf diese ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zurückzuführen ist: Menschen, Milieus, Meinungen und Mythen begeben sich auf eine Seite neben der Vernunft. Das heißt: Wir sehen zu, wie ein Diskurs krank wird. Wie eine Sprache krank wird. Wie eine Kultur krank wird. Diese Krankheit hat nicht nur Symptome, sie hat auch Ursachen. Und sie hat diese Dialektik: Die krankhafte Reaktion ist ein missglückter Versuch der Selbstheilung. Wenn also aus der Paranoia Propaganda und aus der Propaganda das Verbrechen wird, geht es, wie im richtigen Leben, darum, mit etwas fertigzuwerden, was man nicht erkennen darf. Paranoia ist eine Reaktion auf Angst, und Angst entsteht durch die Unmöglichkeit, das zu erkennen, was einen bedroht. Eine Flucht vor der Wahrheit."

Im FAZ-Feuilleton berichten die Soziologen Christian Sperneac-Wolfer und Ferdinand Sutterlüty von einem Projekt des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das die katastrophalen Arbeitsbedingungen rumänischer Wanderarbeiter in Deutschland aufdeckt: "Die Rumänen hier beschreiben sich bisweilen selbst als 'Arbeitssklaven'. Sie unterliegen Arbeitsbedingungen, in denen die Ausbeutung System hat. Allenthalben begegnen wir Erzählungen von Lohndiebstahl in erheblichem Umfang. Geleistete Arbeitsstunden werden oft nicht abgerechnet. Arbeiter werden durch falsche Meldungen an die SOKA-BAU gänzlich um ihr Urlaubsgeld betrogen. Andere werden noch während ihrer Tätigkeit auf dem Bau durch ihre Arbeitgeber von den Krankenkassen abgemeldet, die mitunter auch Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall verweigern und Arbeitsunfälle vertuschen. Arbeitsverträge umfassen häufig nur zwanzig Stunden wöchentlich, während die Arbeitszeit 55 Stunden und mehr beträgt."

Im Südkaukasus droht ein Genozid an der armenischen Bevölkerung, warnt die Armenologin Tessa Hofmann im Tagesspiegel. Seit Dezember isoliert Aserbaidschan die umkämpfte Region Bergkarabach, indem es deren einzige Landverbindung zu Armenien blockiert. Seit Juni wird die Zufuhr von Lebensmitteln und Medikamenten verhindert, die Lage für die 120.000 dort lebenden Armenier verschlimmert sich stetig, so Hofmann. Die Hungerblockade soll die Bergkarabach-Armenier zur Anerkennung des aserbaidschanischen Regimes zwingen - oder sie vernichten, so Hofmann. Auf Hilfe von Außen können sie nicht zählen, denn sowohl Russland als auch der Westen haben Interesse an einer guten Beziehung zu Aserbaidschan: "Russland galt bislang als Schutzmacht der Armenier, doch das ändert sich gerade. In der internationalen Politik hat nämlich Aserbaidschan an Bedeutung gewonnen - auch für Russland. Der Grund ist Gas: Aserbaidschan ist sowohl selbst Lieferant als auch wichtiger Umschlagplatz für russisches Erdgas und Öl."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Heute soll das neue Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht werden. "Trans zu sein ist Mode und gleichzeitig die größte Provokation", erklärt Alice Schwarzer im Spiegel-Gespräch das Phänomen des sprunghaften Anstiegs der Zahl transsexueller Teenager. Das Gesetz geht ihr viel zu weit: "Man sollte sich immer auch fragen, inwieweit Menschen das Recht zur Selbstzerstörung haben." Aber sie findet eigentlich die ganze Diskussion über Transsexualität verquer: "Früher haben wir sprödere Mädchen, die keinen Bock auf rosa Tüll hatten und lieber Fußball spielten, dazu ermutigt, sich einfach dieselben Freiheiten zu nehmen wie Jungen. Das sind sowieso die schlausten Mädchen: die, die keinen Bock haben, Frauen zu werden. Aber heute suggeriert man diesen Mädchen, wenn sie keine richtige Frau sein wollten, seien sie eben ein Mann. Statt der Befreiung von der Geschlechterrolle nun das totale Gegenteil: zwei Schubladen und nichts dazwischen. Binärer geht nicht."

Es handelt sich um ein "Gesetzeswerk mit vielen einschränkenden Klauseln", beruhigt Constanze von Bullion in der SZ: "Um sicherzustellen, dass niemand leichtfertig seinen Geschlechtseintrag ändert, sieht der Entwurf vor, dass Änderungswünsche drei Monate vorher angemeldet werden müssen. Ein Jahr lang kann die Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden. Für Kinder unter 14 Jahren können nur Sorgeberechtigte einen Antrag stellen. Ab 14 Jahren kann das jede und jeder Jugendliche tun, allerdings wird dem Wunsch nur stattgegeben, wenn Sorgeberechtigte zustimmen - oder ein Gericht." Und: "Der Entwurf sieht vor, dass sämtliche Sicherheitsbehörden von der Bundespolizei bis zu Verfassungsschutz und Zoll von jedem Antrag auf Änderung des Geschlechtseintrags informiert werden. Erst wenn es keine Sicherheitsbedenken gibt, soll den Wünschen stattgegeben werden - und die Daten werden gelöscht. Auch wenn ein Aufenthaltstitel demnächst erlischt, kann der Antrag abgelehnt werden."

Das Gesetz begünstigt Diskriminierungen, kritisiert indes die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman berichtet Zeit Online : Die Datenübermittlungspflicht an eine Vielzahl von Sicherheitsbehörden möchte sie aus dem Gesetzesentwurf ebenso entfernen wie das Hausrecht und die Vertragsfreiheit, etwa von Frauenhäusern und Frauensaunen.
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Der Liberalismus stellt heutzutage ein Feindbild für viele politische Lager "von ganz recht bis ganz links" dar, erklärt die Philosophin Elif Özmen, die auch ein Buch zum Thema geschrieben hat, im FR-Gespräch. Viele setzten ihn fälschlicherweise mit dem Neoliberalismus gleich, der soziale Fragen gänzlich ignoriere. Eine funktionierende Demokratie, so Özmen, baut sowohl auf liberalen Grundsätzen als auch auf deren staatlicher Regulierung auf: "Eine gerechte Gesellschaft ist eine liberale Demokratie mit sozialen Grundsätzen. Das heißt, es gibt eine Verfassung der Freiheit, die dem politischen Handeln Grenzen setzt bzw. es liberal 'zurichtet'. Hierzu gehören neben Menschen- und Bürgerrechten oder Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit auch Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, die bestimmten Formen der Verarmung und Prekarisierung entgegenwirken. Es braucht aber auch eine Bürgerschaft, die den Liberalismus als Lebensform schätzt, als die Freiheit zur individuellen Lebensgestaltung und Persönlichkeitsentfaltung."
Archiv: Ideen

Religion

Die Vorsitzende des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken Irme Stetter-Karp fordert einen Ausschluss von AfD-Mitgliedern für kirchliche Ehrenämter. Kirchenrechtlich gibt es dafür keine Grundlage, erklärt der Jura-Experte Gregor Thüsing in der Welt: Jeder Gläubige darf solche Ämter bekleiden, solange er nicht aus der Kirche ausgetreten ist oder exkommuniziert wurde. "Rechtsextreme Positionen sind mit christlichem Denken unvereinbar", das ist für Thüsing klar, trotzdem ist er gegen ein Verbot: "Dem Auftrag der Kirche widerspricht es, Menschen zurückzuweisen, die sich zu Gott und seiner Gemeinschaft bekennen - mögen sie auch in wichtigen gesellschaftlichen Fragen anders denken als kluge kirchliche Verlautbarungen. Alle Menschen sind zum Heil berufen - auch solche, die einer Partei angehören, die die Mehrheit der Gesellschaft aus guten Gründen für gefährlich, destruktiv oder zumindest unappetitlich hält."
Archiv: Religion
Stichwörter: Katholizismus, Kirche, AfD

Medien

Der Springer-Konzern und Julian Reichelt haben sich im Streit um vertrauliche Informationen, die der ehemalige Bild-Chef der Berliner Zeitung zugespielt hat (unsere Resümees), überraschend außergerichtlich geeinigt. Anna Ernst vermutet in der SZ, dass Springer-Chef Mathias Döpfner bei der Vorstellung, was Reichelt noch alles über ihre interne Kommunikation hätte auspacken können, kalte Füße bekommen hat: "Schon beim Gütetermin im Juni hatte Reichelts Anwalt Stephan Pötters einen kleinen Vorgeschmack auf das gegeben, was er und sein Mandant womöglich in der Hinterhand hatten... Man ahnt: Da hätte womöglich noch eine Menge Material auf Reichelts Smartphone geschlummert, das vor Gericht hätte Erwähnung finden können. Und man ahnt auch: Es könnte Döpfner und seinem Unternehmen nun womöglich doch zwei Millionen Euro wert gewesen sein, das alles unter der Decke zu halten."
Archiv: Medien