9punkt - Die Debattenrundschau

Höchster Champagner-Konsum je Kopf

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2023. Die taz fragt fünf Jahre nach der Hetzjagd auf Migranten in Chemnitz: Wann beginnt endlich der Prozess gegen die Täter? Konservatismus und Ökologie sind kein Widerspruch, versichert in der NZZ der Philosoph Edward Kanterian. Die Konservativen müssten nur etwas langfristiger denken. Die FAZ erzählt, wie sich die Familie Bongo die Reichtümer Gabuns unter den Nagel gerissen hat. Die NZZ erklärt, warum die nigrische Elite Russland als Befreiungsmacht sieht. Ab heute dürfen in Berlin auch Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten, hpd sammelt dazu kritische Stimmen säkularer Muslime.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2023 finden Sie hier

Europa

In der taz erinnert Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V., an die Hetzjagd auf Migranten in Chemnitz vor fünf Jahren. Was hat sich seitdem getan? Nichts, stellt sie fest. "Zum fünften Jahrestag des Angriffs warten die Verletzten noch immer auf einen erstinstanzlichen Prozessbeginn. Die Angegriffenen fühlen sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen und zeigen sich überzeugt davon, dass eine konsequente Verfolgung der Neonazis von Chemnitz den Mord an Walter Lübcke möglicherweise hätte verhindern können. Nur die angeklagten Neonazis profitieren von der langen Verfahrensdauer. So wie auch im Fall des antisemitisch motivierten Angriffs eines Dutzends Neonazis auf das koschere Restaurant 'Schalom' am 27. August 2018 in Chemnitz. Die vermummten Angreifer hatten unter anderem 'Hau ab aus Deutschland, du Judensau' gerufen, den Besitzer des Restaurants verletzt und eine Fensterscheibe zertrümmert. Ein einziger von ihnen ist inzwischen rechtskräftig verurteilt worden: zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe. Vier weitere Ermittlungsverfahren gegen organisierte Neonazis schleppen sich seit fünf Jahren hin."

Koran-Verbrennungen stellen Länder wie Dänemark, denen an freier Meinungsäußerung liegt, vor heikle Fragen, schreibt Kenan Malik im Observer. "Nichtsdestotrotz ist die Verbrennung von symbolischen Objekten, seien es Bücher oder Fahnen, seit langem Teil der Protesttradition, und in einer Zeit, in der das Recht auf Protest ständig beschnitten wird - selbst in liberalen Demokratien - sollten wir nicht leichtfertig darauf verzichten. Das vorgeschlagene dänische Gesetz zielt jedenfalls darauf ab, nicht nur Bücherverbrennungen zu kriminalisieren, sondern jede 'unsachgemäße Behandlung von Gegenständen mit erheblicher religiöser Bedeutung' - ein weitgehendes Verbot der Blasphemie." Von diesem Recht haben bisher vor allem Gruppen Gebrauch gemacht, denen nichts anderes blieb, als gegen die religiösen Eliten zu demonstrieren. Statt solche Gesetze auf den Weg zu bringen, sollte Dänemark zuerst die eigenen illiberalen Migrationspraktiken hinterfragen, schlägt Malik vor.

Im NZZ-Gespräch unterhalten sich der Übersetzer Mark Belorusez und der Historiker Anatoli Holowko über die schwindende Bilingualität in der Ukraine - Ukrainisch wurde nach der Unabhängigkeit zur Staatssprache - Russisch nicht. Anatoli Holowko: "Bis zur Besetzung der Krim und von Teilen des Donbass durch Russland 2014 hatte diese gesetzliche Regelung keine besondere Bedeutung. Das Land war de facto zweisprachig. Die Hälfte der Abgeordneten im Parlament sprach kein Ukrainisch und hielt ihre Reden auf Russisch. In den Städten kommunizierten die meisten Bewohner weiterhin auf Russisch. Dies ist die unvermeidliche, jahrzehntelange Trägheit bei der Umwandlung der halbkolonialen Ukraine in ein unabhängiges Land. Den Machthabern der Russischen Föderation ist entgangen, dass sich nach und nach eine neue ukrainische Gesellschaft herausgebildet hat und eine Zivilgesellschaft entstanden ist. Sie haben nicht erwartet, dass sich die Gesellschaft im Kampf gegen die Invasion solidarisieren und die 'Befreier' nicht mit Blumen empfangen würde."

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat einen Film über Frauen gedreht, die in Polen Flüchtlingen an der grünen Grenze - solchen aus Syrien, nicht aus der Ukraine - helfen. Sie spricht im Interview mit Viktoria Großmann von der SZ kritisch über das politische Klima in Polen, in dem sich auch viele Künstler duckten. Dass es vor allem Frauen sind, die Flüchtlingen helfen, wundert sie nicht: "Sie sind sensibler, wenn es um Ungerechtigkeit geht. Gerade hier in Polen, wo die Frauen in der Mehrheit sind, aber wie eine Minderheit behandelt werden. Es gibt schon auch Männer, die sich an der Grenze engagieren. Trotzdem: Wenn in Polen nur Frauen wählen würden, hätten die rechten Parteien keine Chance."

Nun hat der bayerische Ministerpräsident entschieden: Aiwanger darf bleiben. Die SZ konnte nicht nachweisen, dass das berüchtigte antisemitische Flugblatt von Hubert Aiwanger war, und Aiwanger hatte sich entschuldigt, wenn auch ohne zu benennen, wofür, und ohne die Gerüchte über eine rechtsextreme Vergangenheit entkräften zu können. Die 25 Fragen, die ihm Söder gestellt hatte, beantwortete Aiwanger mit impertinenter ständiger Berufung auf seine Gedächtnislücken.

Ein kleines bisschen wankelmütig klingt der Kommentar von Detlef Esslinger in der SZ: "Eine Entscheidung, die bei der Jury gut ankommt, hätte verheerende Folgen haben können, für die CSU, aber mutmaßlich auch für das Land - gesellschaftliche Polarisierung, neue Systemskepsis, vielleicht das Ende der Freien Wähler als Partei der Mitte. Aber: Können nicht auch die Folgen der Entscheidung, die Söder letztlich getroffen hat, verheerend sein?" Auf der Seite 3, der berühmten Reportageseite der SZ, die heute aber wieder eher kommentierend ist, schreiben die Autoren dagegen: "Die Flugblattaffäre wäre Söders Chance gewesen, sich aus Aiwangers Ketten zu lösen. Nun hat er die Kette noch fester gezurrt. Die zahlreichen Aiwanger-Fans in der eigenen Partei hat er damit beruhigt. Wie groß für die CSU der Schaden ist, den er jetzt begrenzen will, wird Söder am Wahlabend sehen."

"Für Hubert Aiwanger beginnt jetzt die Phase der tätigen Reue, da hat er erheblichen Nachholbedarf", meint Hannes Hintermeier im FAZ-Feuilleton. "Sein Umgang mit den Vorhaltungen war kleinmütig. Sich als geerdeten und von den Medien gehetzten Menschenfreund hinzustellen, ist, mit oder ohne Kommunikationsberater, keine überzeugende Idee gewesen."

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Geschichte

In der taz erinnert Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, an das Osloer Abkommen, das vor dreißig Jahren zwischen dem israelischen Premierminister Jitzchak Rabin und dem PLO-Chef Jassir Arafat geschlossen wurde. Damals sah es kurz so aus, als könnten sich beide Seiten auf Kompromisse einigen. Aber es sah eben nur so aus: "Lange vor dem offensichtlichen Scheitern des Oslo-Prozesses haben viele prominente Fatah-Führer sich dazu hinreißen lassen, ihr eigentliches Ziel auszuplaudern. Berühmt geworden ist die Formulierung von Faisal el-Husseini, einem der wichtigsten, stets zum 'moderaten' Flügel gerechneten PLO-Vertreter, der die Oslo-Vereinbarungen als 'trojanisches Pferd' bezeichnete, das die Palästinenser durch ihre Zustimmung zu den Verträgen in die israelische 'Festung' hineingeschmuggelt hätten und durch das man langfristig die 'Befreiung ganz Palästinas' erreichen werde. Arafat stellte klar, dass er das Abkommen mit Israel ganz im Sinne jener schon von Mohammed mit einem verfeindeten Stamm geschlossenen zehnjährigen Hudna verstehe, also einer zeitlich begrenzten Waffenruhe, die nicht auf Frieden abzielt, sondern der Konsolidierung der eigenen Kräfte dient, um den bewaffneten Kampf gegen den Feind erneut aufzunehmen. 1996 huldigte Arafat dem Chefbombenbauer der Hamas, Yahya Ayyash, und die von der Fatah kontrollierten Medien verbreiteten die gesamten 1990er Jahre hindurch antisemitische Propaganda, die mit Ausbruch der Zweiten Intifada nochmals intensiviert wurde und jener der Hamas und anderer Islamisten in fast nichts nachstand."
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Ideen

Konservatismus und Ökologie seien kein Widerspruch, meint der Philosoph Edward Kanterian in der NZZ. Der Widerspruch ergibt sich erst durch politische Interessen. "Ein Grundproblem des Konservatismus liegt in der Unbestimmtheit dessen, was bewahrt werden soll. In der langfristigen Perspektive müssten es, pathetisch formuliert, Mensch und Natur sein. Die meisten Konservativen denken heute aber viel kurzfristiger. Ihre Fürsorge gilt dem je aktuellen Status quo, untrennbar verbunden mit den Tagesgeschäften der Wirtschaft. Schon die alte Tory-Partei sperrte sich nicht aus reiner Naturliebe gegen eine übereilte Industrialisierung, sondern weil sie, bis zirka 1834 (Tamworth Manifesto), auch den niederen englischen Landadel vertrat."
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Politik

In der FAZ erzählt Claudia Bröll in einem wegen seiner Trockenheit umso staunenswerteren Artikel, wie die Familie Bongo jahrzehntelang Gabun ausnahm: "Wie die französische Zeitung Le Monde einst berichtete, floss in den Siebziger- und Achtzigerjahren ein Viertel der Staatseinnahmen direkt an die politische Elite und ihren Zirkel. Zwischenzeitlich konnte sich Gabun mit dem höchsten Champagner-Konsum je Kopf auf der Welt brüsten. ... In einem Gerichtsverfahren in Genf etliche Jahre später trat zutage, dass Omar Bongo und sein Sohn Ali innerhalb von fünf Jahren mehr als 100 Millionen Dollar für Flüge mit Privatjets ausgegeben hatten." Das Geld wurde aber auch gebraucht, "um Loyalität zu erkaufen. Nahezu alle wichtigen Posten im Militär und im Staat sind bis heute aus dem riesigen Bongo-Clan - Omar Bongo hatte mehr als 50 Kinder - besetzt." Dazu gehören der Vorsitz des Verfassungsgerichts ebenso wie der Posten des Oppositionskandidaten. Der Putsch wird an diesem krakenhaften Zugriff auf den Staat nur wenig ändern: "Tatsächlich ist auch der neue Machthaber Nguema kein Außenstehender, sondern ein Vetter von Ali Bongo und der frühere Bodyguard von Omar Bongo." Für die Gabuner, die kaum von den Bodenschätzen des Landes profitieren, keine guten Aussichten.

Die westliche Welt wurde vom Putsch im Niger überrumpelt und verlor einen wichtigen Partner in der Sahel-Zone. "Da war viel Wunschdenken im Spiel. Etwa in dem Sinn: 'Diese Regierung handelt in unserem Interesse, also muss sie gut sein.'", sagt der Politikwissenschaftler Abdourahmane Idrissa im NZZ-Interview mit Samuel Misteli. Man habe vor allem nicht wissen wollen, was die nigrischen Eliten zum Westen stehen. "Gewöhnliche Leute in Niger wussten nichts über Russland, (...). Aber die intellektuelle Elite ist geprägt von der Idee, dass Afrika während der Zeit des Unabhängigkeitskampfs von der Sowjetunion gegen den Westen unterstützt wurde. Viele sehen Russland noch immer als Befreiungsmacht - was schon immer Unsinn war, weil die Sowjetunion ein Imperium war. Aber diese Idee ist eine ideologische Goldmine, die Moskau ausbeutet."
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Gesellschaft

Es ist Schulanfang. Seit diesem Jahr dürfen Lehrerinnen auch in Berlin mit Kopftuch unterrichten, was Ferda Ataman, die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, in einem Post auf Linkedin und anderen sozialen Medien ausdrücklich begrüßt:



Säkular denkende Menschen in Berlin haben sich gegen diesen Post vehement gewehrt, schreibt Gisa Bodenstein bei hpd.de und zitiert unter anderem Naïla Chikhi von den "Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung". "Das Kopftuch sei kein muslimisches Gebot, sondern die Materialisierung einer sexistischen ideologischen Interpretation des Islam durch streng konservative bis fundamentalistische religiöse Kräfte. 'Es segregiert Frauen von Männern (Mädchen von Jungen) sowie Frauen und Mädchen untereinander (muslimisch und sittsam versus nichtmuslimisch und sündig gelesene Frauen/Mädchen)', erläutert Chikhi gegenüber dem hpd." Es gehe an den Schulen vor allem darum die Mädchen aufzuklären, dass sie die gleichen Rechte haben wie Jungen: "Eine Lehrerin mit Kopftuch könne diese Grundhaltung beim besten Willen nicht transportieren. 'Als Vorbilder setzen sie alle Mädchen aus muslimischen Communitys unter Druck, die kein Kopftuch tragen.'"
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