9punkt - Die Debattenrundschau

Noch schwächer als die Sowjetunion

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2023. Kleinere Länder lassen sich nicht mehr einfach "Einflusssphären" zuordnen - diese Lektion sollte die EU aus dem Ukrainekrieg mitnehmen, fordert die Politikwissenschaftlerin Veronica Anghel in der taz. Die Friedensbewegung hat das Nachdenken über Frieden in der Ukraine in Verruf gebracht, ärgert sich die NZZ. Ebenfalls in der NZZ skizziert die die Politologin Nina L. Chruschtschowa das postmoderne Wertedurcheinander in Russland. FAZ und taz hoffen auf ein Restitutionsgesetz für NS-Raubkunst, das die Limbach-Kommission nach zwanzig Jahren endlich fordert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.09.2023 finden Sie hier

Ideen

Die taz hat einen Essay der Politikwissenschaftlerin Veronica Anghel übernommen, der im Rahmen der Eurozine-Reihe "Lehren des Krieges" entstand. Der Widerstand der Ukraine gegen die russische Besatzung sollte Europa vor allem eines lehren: Die Überheblichkeit, mit der kleinere Länder einfach den Einflusssphären größerer zugeordnet wurden, ist out, ruft Anghel. "Den Krieg zu gewinnen ist nicht genug. Um den Frieden zu gewinnen, muss Europa seine außenpolitische Agenda der Dekolonisierung verstärken und die Existenz einer internationalen Hackordnung ablehnen. Es muss seinen Fehler eingestehen, die Theorie der 'Einflusssphären' akzeptiert zu haben, und seine geopolitische Rolle neu definieren. Eine Revision der Erweiterungspolitik ist für diese Agenda von grundlegender Bedeutung. Die jahrelange (unzureichende) Hilfe für die Republik Moldau, die Ukraine und die westlichen Balkanländer hat gezeigt, dass finanzielle Unterstützung kein Katalysator für Veränderungen ist. Die Beitrittskandidaten müssen als gleichberechtigte Partner behandelt und von Beginn der Beitrittsverhandlungen an in die Entscheidungsfindung und die Gesetzgebung der EU einbezogen werden. Die neutrale oder antiwestliche Haltung der Länder des Globalen Südens im Russland-Ukraine-Krieg ist ein weiterer Aufruf an die Europäer, ihr kolonialistisches Weltbild zu überdenken, ihre Fehler einzugestehen und ihre Absichten besser zu erklären."

Das gilt auch für die Amerikaner, meint der Historiker Oscar Clarke bei Quillette. Die Ausweitung der NATO geschah oft auch gegen deren anfänglichen Widerstand: "Dabei wurden die Ziele und Interessen der kleinen Staaten außer Acht gelassen, deren Politiker sich viel nachdrücklicher für einen NATO-Beitritt eingesetzt haben als irgendjemand in Washington, und dies oft gegen die Bedenken und Einwände der Amerikaner. Der brillanteste dieser Politiker war Václav Havel, der große moralische Führer des tschechischen Widerstands gegen die sowjetische 'Normalisierung' nach 1968, der zum ersten gewählten Präsidenten der demokratischen Tschechischen Republik nach der Samtenen Revolution wurde. (…) Wie der ältere Präsident Bush war auch Havel optimistisch, was die 'Friedensdividende' anging: die Vorstellung, dass die Militärausgaben mit dem Ende des Kalten Krieges drastisch gesenkt werden könnten und dass das eingesparte Geld für den Aufbau wohlhabenderer und blühenderer Gesellschaften verwendet werden könnte, die selbst eine Garantie für den Frieden darstellen würden. Es war eine utopische Zeit."

In der taz überlegt der Politikwissenschaftler Daniel Dettling, wie die oftmals nur noch als "Medienparteien" wahrgenommenen CDU, SPD, FDP und Grüne heutige AfD-Wähler wieder zurückgewinnen könnten. Sein Vorschlag: "mehr Personal- und Bildungspolitik, ein Demokratiedienst und flexible Finanzen. Erstens müssen die demokratischen Parteien kommunalpolitisch aufrüsten. Die besten Köpfe müssen (auch) in den Kreistagen und in den Gemeinderäten und nicht nur im Bundestag und im Europaparlament sitzen. Politische Bildungsarbeit und die Personalpolitik der demokratischen Parteien müssen gestärkt, nicht abgebaut werden. Wenn sich immer mehr Menschen ohnmächtig gegenüber den Krisen unserer Zeit fühlen und einen 'sozialen Klimawandel' fürchten, braucht es zweitens mehr demokratische Bürger. Selbstwirksamkeit und das Gefühl der eigenen Handlungsautonomie entstehen durch eigenes Engagement. Statt die Freiwilligenprogramme zu kürzen, wie es die Ampelregierung in Berlin vorhat, müssen sie massiv ausgebaut werden. Es braucht es einen 'kommunalen Demokratiedienst' und keinen 'sozialen Pflichtdienst'." Und es brauche natürlich mehr Eigenmittel und weniger Bürokratie zur Gestaltung: "Finanziell handlungsfähige Kommunen sind in Krisen systemrelevant. Das gilt auch für die Krise der Demokratie."
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Europa

"Fast so wie zu Stalins Zeiten scheint das schlimmste Verbrechen im heutigen Russland darin zu bestehen, sich nicht nach den vom Kreml genehmigten Narrativen zu richten, sondern die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist", kommentiert die russisch-amerikanische Politologin Nina L. Chruschtschowa, die bereits vor einigen Jahren das Buch "In Putin's Footsteps" veröffentlicht hat, in der NZZ die revidierten russischen Geschichtsbücher im Besonderen und Putins Geschichtsverfälschung im Allgemeinen. Aber die offensichtlichen Widersprüche dieser Umschreibungen offenbaren "die wahnhafte Selbstüberschätzung" des Regimes, meint sie: "Tatsächlich ist Putins Regime heute aber noch schwächer als die Sowjetunion in ihren letzten Tagen. Während sich die UdSSR sieben Jahrzehnte lang standhaft zum Kommunismus bekannt hat, besteht das Glaubenssystem des heutigen Russland aus einem Durcheinander widersprüchlicher 'Werte': aus Christentum und Kriegskult, Stalinismus und Verachtung Lenins (denn dieser setzte sich für die ukrainische Identität ein), Hass auf den Westen und westlich inspiriertem Konsumismus. Von Anfang an hat Putin diese postmoderne Mischung gefördert. Er hat die Nationalhymne aus der Stalinzeit wiederbelebt, sowjetische Armeeflaggen gehisst und sich selbst mit Peter dem Großen verglichen."

Die Friedensbewegung hat das Nachdenken über Frieden in der Ukraine in Verruf gebracht, ärgert sich Benedict Neff ebenfalls in der NZZ. Die Waffenlieferungen an die Ukraine dürfen nicht eingestellt werden, aber dennoch darf und muss über Verhandlungen nachgedacht werden, fährt er fort: "Auf eine innenpolitische Destabilisierung Russlands darf man hoffen, aber sie zeichnet sich nicht ab. Umso mehr wird der zentrale Eckpunkt einer Nachkriegsordnung sein, dass die Ukraine Mitglied der Nato wird, vielleicht um den Preis von vorläufigen Gebietsabtretungen an Russland. Vorläufig, weil es nicht ausgeschlossen ist, dass irgendwann ein russischer Politiker an die Macht kommt, der mit dem Imperialismus bricht und seine Nachbarn in Frieden leben lässt. Ein EU-Beitritt ist nachgeordnet. Die Ukraine würde die Kriterien dafür ohnehin nicht erfüllen. Wenn die Waffen ruhen, wird es primär darum gehen, zu sichern, dass sich ein solcher Krieg nicht wiederholen kann. Das wird nur funktionieren, wenn die Nato zum beistandspflichtigen Verbündeten wird, der die Ukraine schützt. Diese Sicherheitsgarantie muss das entscheidende Element für die Zukunft der Ukraine sein, ein Neutralitätsstatus ist nicht zumutbar."
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Urheberrecht

Martin Vogel hatte dagegen geklagt, dass die Herausgeber von Sammelwerken, die von der VG Wort an den Erlösen aus Kopierabgaben und Bibliothekstantiemen beteiligt werden, pauschal in die Geldverteilung an die Urheber einbezogen werden, erinnert Wolfgang Janisch in der SZ. Ende Juli gab ihm das Oberlandesgericht München im Wesentlichen recht, fährt Janisch fort und zitiert aus der schriftlichen Begründung "des von der VG Wort zunächst nicht kommunizierten Urteils vor (Az: 29 U 7919/21). Danach hat die VG Wort von 2016 bis 2019 mehr als 20 Millionen Euro an Herausgeber von Sammelwerken ausgeschüttet, obwohl es dafür keine wirksame Rechtsgrundlage gab. Oder, anders ausgedrückt: Die Ansprüche der übrigen Urheber fielen entsprechend geringer aus, weil der große Kuchen auch an eine Gruppe verteilt wurde, die davon nicht hätte essen dürfen. Der Grund für die Rechtswidrigkeit liegt darin, dass die VG Wort es sich schlicht zu einfach gemacht hat. Richtig ist zwar, dass auch Herausgeber urheberrechtliche Ansprüche haben können, und zwar dann, wenn sie selbst eine 'persönliche geistige Schöpfung' erbringen, wie das OLG schreibt. Wenn also die Sichtung und Auswahl der Texte, ihre Anordnung und Zusammenstellung bestimmten Kriterien folgt und erkennen lässt, dass sich da jemand einen Kopf gemacht hat. Die Anforderungen an die 'schöpferische Eigenheit der Auswahl und der Anordnung' dürfen laut OLG nicht zu hoch angesetzt werden. Aber sie müssen jedenfalls oberhalb von Null liegen."
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Kulturpolitik

Kurz vor ihrem 20. Geburtstag hat die Limbach-Kommission überraschend ein "Restitutionsgesetz und damit eine klare Übernahme der Verantwortung als Rechtsnachfolgerin des NS-Staats" gefordert, um die Rückgabe von NS-Raubkunst zu beschleunigen, berichtet Stefan Trinks in der FAZ. Deutsche Museen haben bislang oft die Neigung, Rückgabeforderungen nur sehr schleppend zu untersuchen. Aber von einem Restitutionsgesetz wären auch private Eigentümer betroffen. Dies wäre "ein gewaltiger Schritt", meint Klaus Hillenbrand in der taz. "Zehntausende Kunstgegenstände vom Porzellanteller bis zum Ölgemälde, vom Buch bis zum silbernen Kerzenhalter, die zwischen 1933 und 1945 insbesondere Jüdinnen und Juden gestohlen wurden, dürften sich heute noch im Privatbesitz befinden. Jedermann konnte solche Gegenstände, aber auch Stühle, Betten und jedweden Hausrat ab 1941 bei öffentlichen Versteigerungen von 'Judenhaushalten' im Deutschen Reich erwerben. Die enteigneten Besitzer wurden in den Tod deportiert, der Erlös der Versteigerungen floss in die Taschen des zuständigen Oberfinanzpräsidenten und damit des Nazi-Staats."
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Politik

Im Tagesspiegel greift Mareike Engelhusen Berichte israelischer Medien auf, denen zufolge Netanjahus Regierung in Israel plant, Dani Dayan, Leiter der Gedenkstätte Yad Vashem, durch Keren Barak, einen früheren Abgeordnete der Likudpartei, zu ersetzen. Bisher gibt es nur Vermutungen: "Einem Fernsehbericht zufolge ärgerte sich die Gattin des Ministerpräsidenten, Sara Netanjahu, darüber, dass Dayan die Sängerin Keren Peles zu einer Veranstaltung in der Gedenkstätte eingeladen hatte. Peles war zuvor auf Protesten gegen die geplante Justizreform der Regierung aufgetreten. Sara Netanjahu wies die Berichte zurück: Sie habe Keren Peles bis zu deren Auftritt in Yad Vashem gar nicht gekannt."
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