9punkt - Die Debattenrundschau

Seltsame Anziehungskraft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2023. Das mit der Polarisierung ist viel komplexer, als Kollege Andreas Reckwitz meint, sagt der Soziologe Steffen Mau im Spiegel: Die Gebildeten haben da die unteren Schichten noch nicht ganz verstanden. In der SZ spricht Karl Schlögel über die "American Matrix", die vor allem eine für die Sowjetunion war. Joe Biden war ein guter Präsident, aber er sollte gehen, so lange er noch kann, meint Timothy Garton Ash im Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.09.2023 finden Sie hier

Europa

70.000 Menschen, geschätzt zwei Drittel der Bevölkerung, haben Bergkarabach inzwischen verlassen. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat angekündigt, sämtliche Flüchtlinge aufzunehmen, berichtet Florian Bayer in der taz. "Anders als die internationale Gemeinschaft spricht er von einer ethnischen Säuberung: 'In wenigen Tagen wird es keine Armenier in Bergkarabach mehr geben', so Paschinjan. 'Dies ist ein direkter Akt der ethnischen Säuberung und Enteignung, wovor wir die internationale Gemeinschaft seit langem gewarnt haben.' Die internationalen Erklärungen, die nun abgegeben werden, seien wichtig, es müssten aber 'konkrete rechtliche und politische Entscheidungen darauf folgen'. Gemeint sind damit unter anderem Sanktionen seitens der EU-Kommission, für die ein Stopp der Gasimporte aber weiterhin nicht infrage kommt."

Wenn es ums Grundgesetz und allgemein um Verfassungen geht, stellen sich spannende Fragen über "Faktizität und Normativität", sagt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio im Gespräch mit Reinhard Müller von der FAZ. "Wenn eine neue Verfassung entsteht und Akzeptanz findet, sich Geltung verschaffen kann, dann ist die alte Verfassung faktisch erledigt. Schon deshalb, muss man den Reichsbürgern sagen, gilt die Weimarer Reichsverfassung nicht fort." Di Fabio findet übrigens, dass das Grundgesetz "eine außerordentlich geglückte Verfassung ist". Durch das Trauma der Nazizeit "hat man eine intellektuelle Rückanknüpfung an die Wurzeln einer freiheitlichen Zivilisation gesucht, und das macht die Präambel so stark, das macht den Artikel 1 GG so stark, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, aber auch den ganzen Grundrechtsteil."
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Politik

Joe Biden war ein guter Präsident. Das größte Problem mit Biden aber ist seine Hinfälligkeit, fürchtet Timothy Garton Ash im Guardian, der auf die Umfragen geguckt hat und feststellt: Dort liefern sich Trump (dessen Alter kein Argument für die Wähler zu sein scheint) und Biden jetzt schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen. TGA rät Biden, einem jüngeren Kandidaten den Vortritt zu lassen, aber ob Biden weiß, wer TGA ist? Nebenbei benennt Ash ein anderes Problem: "Am besorgniserregendsten für die Demokraten ist der Trend, dass schwarze, hispanische und andere nicht-weiße Wähler von den Demokraten zu den Republikanern und insbesondere von Biden zu Trump wechseln. Dafür gibt es soziologische und historische Erklärungen sowie die seltsame Anziehungskraft von Trump selbst, aber es besteht wenig Zweifel, dass Bidens Alter und Gebrechlichkeit eine Rolle spielen."
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Gesellschaft

Buch in der Debatte

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Der Soziologe Steffen Mau nimmt in seinem zusammen mit Thomas Laux und Linus Westheuser veröffentlichten Buch "Triggerpunkte"" die vor allem vom Kollegen Andreas Reckwitz vertretene These auseinander, dass sich die Gesellschaft immer stärker polarisieren würde. Dafür hat er ordentlich empirische Forschung betrieben und das Ergebnis: "Bei vielen großen Fragen herrscht überraschend großer Konsens", erklärt er im Interview mit Spon. Die oft diagnostizierte Polarisierung sei vor allem eine gefühlte. "Gebildete Leute übersehen, wie viel sich in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat. Eine stille Revolution! Sie übersehen außerdem, dass nicht alle Menschen in denselben politischen Kategorien denken wie sie selbst. In den oberen Schichten sind die Einstellungen zu Migration, Diversität und Klimakrise oft Teil eines politischen Portfolios, das den Parteiprogrammen entspricht. In den unteren Schichten dominiert ideologisches Patchwork. Das wird von Bildungseliten nicht gut verstanden." Die unteren Schichten sind insgesamt gesehen weder schwulen- noch ausländerfeindlich und auch keine Klimaleugner, versichert Mau, aber ihre Angst vor Kontrollverlust ist größer, was man bei Debatten zum Beispiel über neue Heizungen vielleicht mitbedenken sollte: "Das liegt nicht nur an materiellen Nöten, sondern auch daran, dass die unteren Schichten sich beruflich oft in einem Korsett von Vorgaben bewegen. Wer wenig Kontrolle hat, erlebt gesellschaftlichen Wandel als weiteren Kontrollverlust."

A propos Heizungen: In einem FAZ-Artikel über die Frage, ob Holz der Baustoff der Zukunft sei (wohl eher nicht), ziitert Julian Staib auch die Bauingenieurin Christine Lemaitre, die zum Thema Folgendes sagt: "In den vergangenen Jahren habe sich die Zahl der Tage, an denen wirklich geheizt werden müsse, halbiert. Die Tage aber, an denen Gebäude gekühlt werden müssten, seien gestiegen. 'Wir haben mittlerweile eher ein Kühl- als ein Heizproblem.'"

Der Amerikaner Ibram X. Kendi gilt seit seinem Buch "Wie man Antirassist wird" als einer der wichtigsten Intellektuellen Amerikas, auch ein eigenes Forschungszentrum wurde ihm an der Boston University eingerichtet. Jenes "Zentrum für antirassistische Forschung" steckt aber trotz Millionenspenden nun in Geldnöten, mehr als die Hälfte der Belegschaft wurde entlassen, meldet Jörg Wilmasena, der sich in der Welt auf einen Artikel aus The Daily Beast bezieht, der vor allem Kendi kritisiert: "Eigentlich sollte das neue Wissenschaftszentrum vor allem datengestützte Forschung zu ethnischer Ungleichheit produzieren. Doch die meisten Projekte wurden nie verwirklicht. Stattdessen stand offenbar Fundraising im Mittelpunkt der Arbeit. Kendis ehemaliger Mitarbeiter Phillipe Copeland sagte: 'Wenn etwas (Anmerkung: ein Projekt) nicht genug Einnahmen generierte, war es für das CAR nicht interessant.'"
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Kulturpolitik

Das Goethe-Institut steht vor dem größten Umbau seit seiner Gründung im Jahr 1951, das Budget wurde gekürzt, neun Standorte sollen geschlossen werden, meldet unter anderem Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Die Institute in Bordeaux, Genua, Lille, Osaka, Rotterdam, Triest, Turin, Washington, Curitiba (Brasilien) sowie das Verbindungsbüro Straßburg werden geschlossen. Betroffen von diesen Schließungen sind 110 Stellen der im Ausland angestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Mehr noch: Die europäische Regionalstruktur steht zur Debatte." Dafür soll das Institut "künftig in Mittel- und Osteuropa, im Kaukasus, im Südpazifik sowie in der Fläche in den USA stärker präsent sein", schreibt Paul-Anton Krüger in der SZ: "In Polen solle eine weitere Zweigstelle neben Warschau und Krakau aufgebaut werden, ebenso in Texas und an einem weiteren Standort im Mittleren Westen neben Chicago. An den meisten neuen Standorten sind aber keine voll ausgestatteten Institute geplant. In Ländern, aus denen Deutschland Fachkräfte für die Einwanderung anwerben will, soll das Angebot an Sprachkursen ausgebaut werden, so in Brasilien, Indien, Indonesien oder Mexiko."

Auf ZeitOnline kommentiert Thomas E. Schmidt: "Auf die Programmarbeit der Goethe-Institute wird sich das vermutlich langfristig auswirken. 'Wer seid ihr?', 'Was wollt ihr?' und 'Wieso sollen wir mit euch zusammenarbeiten?' sind die Fragen, die künftig an die Bundesrepublik gerichtet werden."
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Geschichte

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In seinem aktuellen Buch "American Matrix" wendet sich der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel Amerika zu, aber ganz verlassen kann er sein Spezialgebiet nicht, wie er auch im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger erklärt. Er zeichnet Parallelen zwischen USA und Sowjetunion nach: "Beide Staaten verstanden sich als Länder im Aufbruch in Richtung Moderne, als Pionierstaaten, in denen die Zukunft geschrieben wird. Nicht das alte Europa mit seinen Klassen- und Ständegesellschaften, seinen Nationalismen war der Orientierungspunkt, sondern die Schaffung einer neuen Welt. (…) Fast gleichzeitig wurden in den USA der Hoover-Damm und in der Sowjetunion der Damm am Dnjepr bei Saporischschja gebaut. Sowohl in der Formensprache als auch beim heroischen Pathos, der die Bauten umgab, gab es eine große Nähe - und doch unter radikal verschiedenen Bedingungen: Ins entlegene Nevada zogen die Arbeiter wegen der hohen Arbeitslosigkeit freiwillig, die am Dnjepr folgten einer Zwangsmobilisierung von oben." Das Buch hat Wolf Lepenies gestern in der Welt besprochen.

Sechs Jahre nach dem ersten Spatenstich und mit Kosten, die von 14,3 auf 30,1 Millionen Euro stiegen, ist jetzt der Neubau für das NS-Dokumentationszentrum am Obersalzberg mit neuer Dauerausstellung eröffnet worden, meldet unter anderem Gabi Czöppan im Tagesspiegel. Immerhin, das Konzept überzeugt, meint sie: "Die fünf Kapitel führen von der 'Bühne Obersalzberg', dem 'Führer' und der 'Volksgemeinschaft', der 'Bergwelt und Weltmacht' über 'Täterort und Tatorte' bis zum kritischen letzten Teil 'Nach Hitler'. Noch lange nach Kriegsende lockte man mit dem Hitler-Kult und Andenken-Kitsch Touristen an. Offiziell kamen die Gäste aus aller Welt wegen der guten Bergluft, aber Berchtesgaden verdiente auch gut an Hitlers Erbe. Der Umgang mit der eigenen Geschichte galt lange Zeit als fragwürdig."

Der postkoloniale Historiker Jürgen Zimmerer hat in einem Zeit-Sonderheft zu Geschichte strikt nach Moses (Dirk A.) behauptet, Deutschland verfolge "ein völkisches Konzept von Vergangenheitsbewältigung" und reduziere die Lehren aus dem Nationalsozialismus "auf den Holocaust und eine bestimmte Form antisemitischer Verbrechen". Andreas Kilb muss in der FAZ sehr staunen: "Hat Zimmerer die Geschichtsdebatten der letzten sechzig Jahre verschlafen? Hat er die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung verpasst? Ist ihm entgangen, dass es in Berlin nicht nur ein Holocaust-Mahnmal, sondern auch eines für die ermordeten Sinti und Roma und die verfolgten Homosexuellen gibt; dass dort ein Polnisches Haus und ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa geplant sind?"
Archiv: Geschichte