9punkt - Die Debattenrundschau

Endlose Schande

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2023. Esther Schapira schreibt in der Jüdischen Allgemeinen über Vivian Silver, eine überzeugte Pazifistin, die sich in Gaza für palästinensische Frauen einsetzte. Sie gehört heute wohl zu den Geiseln. Ofer Waldman, ehemaliger Hornist des West-Eastern Diwan Orchestra, spricht aus, was ihm heute mit am meisten wehtut: "Das Schweigen fast aller palästinensischer Freundinnen und Freunde." Warum, fragt Philipp Peyman Engel im Tagesspiegel, rufen die Leute immer nur "Free Palestine" und nie "Free Palestine from Hamas"? Die einzige Chance auf eine dauerhafte Lösung besteht darin, den radikalen Islam zu besiegen, sagt Alain Finkielkraut in der Welt. Es gibt keine mildernden Umstände für linken oder muslimischen Antisemitismus, hält Armin Nassehi in der Zeit fest.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.10.2023 finden Sie hier

Politik

Der Autor Ofer Waldman, ehemaliger Hornist des West-Eastern Diwan Orchestra, hat der SZ einen Brief aus Haifa geschickt. Die neue Realität zu beschreiben, in der er vor zwei Tagen aufwachte, fällt ihm schwer, er kann die Bilder kaum abschütteln: "Dabei filmten sich die Hamas-Terroristen, zum Teil mit den Handys ihrer Opfer, posteten ihre Bilder in den sozialen Medien, wo sie auch Israelis sahen - parallel zu den Bildern, die Familien posteten, aus Sorge fast in den Wahnsinn getrieben. Diese Bilder, die nun vor unseren Gesichtern flimmerten, mit der Frage: Wer hat mein Kind gesehen? Meine Eltern? Meinen Mann, meine Frau? Aus Deutschland, aus der Nachbarschaft, in der ich mit meinen Kindern einst gewohnt habe, kommen nun Bilder jubelnder Palästinenser. Das Schweigen fast aller palästinensischer Freundinnen und Freunde, Weggefährten im Kampf für Menschenrechte, mit wenigen, kostbaren Ausnahmen hier in Israel, betäubt die Ohren. Es befleckt den gerechten palästinensischen Kampf um eigene Staatlichkeit mit endloser Schande."

Das Supernova-Festival verstand sich auch als Friedensfestival. Die hier tanzende Jugend dürfte der Netanjahu-Regierung sehr kritisch gegenübergestanden haben. Für Esther Schapira in der Jüdischen Allgemeinen ist das ein besonders bitterer Aspekt. Sie denkt auch an "Menschen wie Vivian Silver. Die prominente Friedensaktivistin kennt Gaza gut. Sie ist Gründerin einer israelisch-palästinensischen Frauenfriedensgruppe und hilft seit Jahren Menschen in Gaza dabei, medizinische Hilfe in Israel zu bekommen. Das letzte Lebenszeichen von ihr hat ihr Sohn aus dem Safe Room ihres Kibbuz gehört, als die überzeugte Pazifistin noch versuchte zu scherzen und sagte, dass sie leider vergessen habe, sich mit einem Messer zu bewaffnen. Rund tausend Menschen wohnten in ihrem Kibbuz Be'eri. Mindestens 108 wurden getötet, eine unbekannte Zahl verschleppt, vermutlich auch die 74-jährige Vivian Silver."

Die mörderischen Geistlichen aus Teheran sind vorerst die Sieger in der Konstellation, die sich aus den Hamas-Pogromen ergibt, notiert Michael Thumann in der Zeit: "Selbst wenn den USA .. die Eindämmung des Konflikts gelingen sollte, hätte der Iran viel erreicht. Teheran hat mit dem Angriff die palästinensische Sache für sich gekapert. Während die arabischen Regime sich mit dem Schicksal der Palästinenser abgefunden haben und sich mit Israel arrangieren, so die Botschaft, unterstütze der Iran die 'Achse des Widerstands'. Über Krieg und Frieden in der arabischen Welt bestimmt Teheran durch seine Stellvertretermilizen in Gaza, im Libanon, im Jemen, in Syrien und im Irak. Die arabischen Staaten werden in der eigenen Region (auch vor den Augen ihrer eigenen Bevölkerungen, die mit den Palästinensern sympathisieren) als ohnmächtige, gedemütigte Zaungäste vorgeführt." Und nebenbei bemerkt: "Die Iran-Politik der Biden-Regierung steht vor dem Nichts (ebenso wie die ihr folgende deutsche Diplomatie)."

Zeruya Shalev zieht in der Zeit die Parallele zum Jom-Kippur-Krieg. "Doch im Krieg von 2023 sind wir einer extremen, zügellosen Regierung ausgeliefert, an deren Spitze ein Ministerpräsident steht, den in den letzten Jahren nur noch interessierte, wie er seinem Strafprozess entkommen kann. Wenn zukünftige Historiker einmal die letzten Jahre analysieren, wird sich ihnen ein Bild bieten, das direkt zu den erschütternden, in diesen dunklen Tagen im Netz verbreiteten Videos führt. Sie werden auf einen Ministerpräsidenten stoßen, der einen Anschlag auf die Demokratie plante, der versuchte, den Staat zu kidnappen, die Bürger zu Geiseln zu machen. Wie konnten dieser Ministerpräsident und seine unsäglichen Kabinettsmitglieder es wagen, unser aller Schicksal aufs Spiel zu setzen?" Shalev behauptet, die israelische Opposition hätte die heraufziehende Gefahr benannt.

Verzweifelt liest sich das Interview mit Alain Finkielkraut, das die Welt aus dem Figaro übernimmt: "Die Partei des rechtsreligiösen Koalitionspartner von Netanjahu, Itamar Ben-Gvir, entstand als Reaktion auf den von Ariel Scharon angeordneten Rückzug aus dem Gaza-Streifen und konfrontiert mit dem Alles-oder-Nichts der Hamas, hat sie leichtes Spiel zu sagen, dass es keinen Partner für einen territorialen Kompromiss gibt. Wie könnten sich die Israelis nach diesem Massaker - mehr als 1.200 Tote, Tausende Verletzte, etwa 150 Geiseln, die als menschliche Schutzschilde dienen werden - aus dem Westjordanland zurückziehen und die Gründung eines palästinensischen Staates akzeptieren, der das ganze Land in Reichweite von Raketen und Pogromen bringen würde? Der Status quo ist sowohl für die israelische Gesellschaft als auch für die Palästinenser verhängnisvoll, aber die einzige Chance auf eine dauerhafte Lösung besteht darin, den radikalen Islam zu besiegen und ihn auszuschalten."

Was der Welt blüht, wenn Hamas, Iran und Hisbollah siegen, zeigte sich schon an den Videos, mit der die Hamas ihre Gewalt gegen Frauen zelebrierte, schreibt Anastasia Tikhomirova in der taz: "Ähnlich wie der Iran streitet auch die Hamas für einen islamischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer und unterdrückt systematisch alle, die keine muslimischen Männer sind. Die Hamas sieht sich mit ihrem Geldgeber nicht nur in Frauenverachtung, Queerfeindlichkeit und antimoderner Rebellion vereint, sondern auch in ihrem eliminatorischen Antisemitismus."

Dieser CNN-Bericht resümiert, was wir bisher über das Massaker in dem Kibbutz Kfar Aza wissen:


Der Grenzübergang aus dem Gaza-Strefen nach Ägypten wäre der einzige Weg für die Bewohner aus Gaza, dem Kriegsgeschehen zu entkommen. Doch Ägypten hält ihn jetzt rigoros geschlossen, berichtet Karim El-Gawhary in der taz. Und "selbst wenn der Grenzübergang offen ist, fahren die ägyptischen Behörden eine ziemlich restriktive Politik. Außer Palästinensern aus dem Gazastreifen darf niemand den Übergang benutzen, auch Ägypter nicht. Selbst Palästinenser brauchen dazu eine Genehmigung, wenn sie nach Ägypten reisen wollen. Doch diese gibt es nur in Ausnahmefällen, etwa für Geschäftsleute und bei medizinischen Notlagen. Oft waren damit in der Vergangenheit hohe Schmiergelder an die Hamas verbunden."

Dominic Johnson denkt in der taz über ein mögliches kommendes Kriegsszenario nach und erinnert an den stillschweigenden Deal zwischen Israel und Russland, das es duldete, wenn Israel in Syrien Stellungen der Hisbollah angriff. Das war auch der Grund, "dass Israel sich aus dem Ukraine-Krieg weitgehend herausgehalten und umfangreiche Militärhilfe für Kiew abgewiesen hat. Dieses Kalkül könnte sich ändern, sollte die Hisbollah eine zweite Front gegen Israel eröffnen - also von Norden aus einen Großangriff starten, während Israels Militär im Gazastreifen im maximalen Einsatz ist. Berichten zufolge hat Israel die Hisbollah gewarnt, in diesem Fall werde man Syrien direkt angreifen. Dann würde aus dem Gazakrieg ein großer Nahostkrieg - und Putin müsste sich zwischen Teheran und Jerusalem entscheiden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Verlegung des größten US-Flugzeugträgers, der 'USS Ford', von Italien nach Israel an der Spitze einer Kriegsflotte besondere Brisanz."

Was geschähe im Iran, wenn Krieg wäre? Diese Frage stellt Amir Hassan Cheheltan in der FAZ nicht. Aber er schildert die Blindheit der Machthaber gegenüber ihrem Volk: "Der Raum, der Verhandlungsspielraum, in dem die Bevölkerung sich mit ihrer Regierung hätte auseinandersetzen und einigen können, existiert nicht mehr. Irans Machthaber verschließen die Augen vor bestehenden gesellschaftlichen Wahrheiten. Genauer gesagt: Sie erkennen die iranische Gesellschaft nicht an. Da die Regierenden sich selbst als Hort und Hüter von Moral und Wahrheit betrachten, können sie 'Andere' weder sehen, noch können sie hören, was "Andere" ihnen mitteilen möchten."

Armin Nassehi will in der Zeit keine mildernden Umstände für islamischen oder linken Antisemitismus anerkennen: "Die ganze Diskussion, ob der Antisemitismus von hier stammt oder aber von Migranten eingeführt wird, ist dummes Gerede. Die Wurzeln beider sind sich logisch sehr ähnlich - man kann es vor allem an jenen studieren, die den postkolonialen, sich für universalistisch haltenden "Befreiungskampf" der Hamas wenn nicht für sympathisch, so zumindest für legitim halten. Denn die Denkfigur ist ganz ähnlich dem Judenhass der Wagners und wie sie alle heißen."

In Berlin hat es mehrere pro-palästinensische Demonstrationen und antisemitische Schmierereien gegeben (mehr dazu im Tagesspiegel und der Berliner Zeitung). Warum, fragt Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, im Interview mit dem Tagesspiegel, rufen die Leute immer nur "free Palestine" und nie "Free Palestine from Hamas"? Es gebe hierzulande zu wenige Menschen, "die Solidarität mit Israel zeigen. Der gesunde Menschenverstand und das normale menschliche Einfühlungsvermögen gebieten maximale Solidarität mit der Ukraine, im selben Maße müsste es Empathie und Unterstützung für Israel geben. Ich wünsche mir von der deutschen Gesellschaft, dass sie wenigstens keine Relativierung der Schuldfrage und keine Täter-Opfer-Umkehr betreibt, wenn sie es schon an uneingeschränkter Solidarität mangeln lässt." Und er wünscht sich eine Einschränkung der Hilfen für die Palästinenser: "Offenkundig fließen Gelder nicht nur in die Wasserversorgung, sondern kommen auch dem Terror zugute. 4.000 Raketen wurden binnen weniger Stunden auf Israel abgeschossen, 15.000 soll es noch geben, die Hamas unterhält Schlösser, wer bitte finanziert das? Warum kann Deutschland nicht jetzt ein Zeichen setzen? Schweden und Dänemark haben die Zahlungen gestoppt, aber die EU nahm den Beschluss, die Hilfsgelder einzufrieren, nach wenigen Stunden wieder zurück."

Auch Benjamin Graumann vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main fragt in der FR, warum die Solidarität mit Israel so verhalten ist. Doch hatte sie "in der Vergangenheit in Bezug auf Israel immer nur ein sehr begrenztes Haltbarkeitsdatum, und so ist auch jetzt wieder zu erwarten, dass in einigen Tagen die üblichen Textbausteine aus der Schublade geholt werden, in denen dann vom Leid auf allen Seiten, gegenseitigen Angriffen, Gewaltspiralen, Verhältnismäßigkeit und Mäßigung gesprochen wird. Die Fraktionsvorsitzende der Linken zeigt bereits jetzt, dass die Solidarität mit Israel bereits beendet ist, bevor sie angefangen hat, und hat Israel (!) allen Ernstes zur Einhaltung des Völkerrechts ermahnt. Echte und wahre Solidarität gilt aber über den Tag hinaus, an dem Israel seine Opfer zählt. Es scheint fast so, als gebe es Solidarität nur mit toten Juden, die aber dann unverzüglich endet, wenn Israel es wagt, sich zu wehren und Sicherheit herzustellen."
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Europa

Die Regionalwahlen in Russland haben die gewünschten Ergebnisse geliefert, spottet in der NZZ die Schriftstellerin Irina Rastorgujewa. Es wurde wie üblich manipuliert und gefälscht und am Ende waren sich alle so einig, dass der Online-Nachrichtenkanal Zargrad die Frage aufwarf, ob man Wahlen überhaupt noch brauche oder sie im Grunde nur für den Westen abhalte. "Die Demokratie ist in diesem Land wirklich nicht sonderlich beliebt. Josef Stalins Ansehen bei den russischen Bürgern hat einen Rekordwert erreicht. 47 Prozent der Befragten gaben an, dass der 'Führer der Völker' ihren Respekt erwecke. 9 Prozent hegen Sympathie für ihn, und 7 Prozent bewundern ihn. Somit haben 63 Prozent der Bevölkerung des heutigen Russland positive Gefühle gegenüber Stalin. ... Derartige Phänomene sind mehr als symbolisch. Immerhin werden fast jede Woche Fälle von Landesverrat und Spionage aufgedeckt. Das Russland von 2023 hat in dieser Hinsicht die poststalinistische Sowjetunion bereits überholt. Täglich gibt es Verhaftungen, Durchsuchungen, Prozesse, staatliche Willkür."

Für die Parteien in Deutschland sind die "parteinahen Stiftungen" ein üppig finanzierter Ausweichraum, der besonders wichtig ist, wenn es mal nicht so läuft. Nun will natürlich auch die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung von den mehr 600 Millionen Euro profitieren, die der Staat im Moment an die Parteien ausschüttet, allein die Konrad-Adenauer-Stiftung hat ein Budget von annhähernd 200 Millionen Euro und residiert wie die anderen Stiftungen in Berlin in einem botschaftsähnlichen Prachtbau. Die Parteien einigten sich jetzt wohl auf einen Gesetzentwruf, der die AfD ausschließen soll, berichtet Konrad Litschko in der taz: "Der Gesetzentwurf, der der taz vorliegt, knüpft eine staatliche Stiftungsförderung an die Bedingung, dass die Parteien, die der Stiftung nahestehen, dreimal hintereinander in den Bundestag eingezogen sein müssen. Schon das schließt die AfD aus, die erst seit 2017 und zwei Legislaturperioden im Bundestag sitzt. Zudem wird ein 'aktives' Eintreten für die freiheitlich demokratische Grundordnung und für Völkerverständigung verlangt." Die AfD wird wohl klagen.
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Geschichte

Der Historiker Norbert Frei hat zur Geschichte der Bundespräsidenten geforscht, mit Schwerpunkt auf der Frage, wie sie sich zum Nationalsozialismus verhielten, und präsentiert die Ergebnisse in seinem Buch "Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit". Wie sich die öffentlichen Reden zur NS-Diktatur änderten, erklärt Frei im Interview mit der SZ: "In der frühen Bundesrepublik mussten sich die 'Volksgenossen' der NS-Zeit in die Bürger der von außen gestifteten Demokratie verwandeln. Dabei war die Frage für die neuen politischen Parteien: Wie viel kann und will man ihnen zumuten? Die großen Figuren der Anfangsjahre - Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss - bemühten sich fraglos um Klarheit hinsichtlich der Abgrenzung vom Nationalsozialismus, die ja auch im Grundgesetz dokumentiert ist. Aber es wurden eben auch Rücksichten genommen, aus Pragmatismus und Opportunismus, mit Blick auf die Erwartungen der Wählerschaft. Und diese Erwartungen waren 1949 ganz klar: Man wünschte sich mehrheitlich einen dicken Schlussstrich unter die Phase der alliierten Vorherrschaft, der Entnazifizierung, der politischen Säuberung insgesamt."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Im Interview mit der FR warnt der Rechtsphilosoph und Internetexperte Johannes Caspar vor den Gefahren der Digitalisierung, die er insbesondere in der schleichenden Entmündigung der Bürger sieht, wie er auch in seinem Buch "Wir Datensklaven" darlegt: "Wir übertragen zunehmend Entscheidungskompetenzen auf Technik und Künstliche Intelligenz. Wir verlieren damit autonome Handlungs- und Entscheidungsräume. Je mehr Aufgaben wir auslagern in Bereiche, wo menschliche Entscheidungsmacht zunehmend schwindet, desto mehr fallen wir auf einen vormodernen Bereich des Irrationalen zurück. Diskurse über die richtige Entscheidung lassen sich hier nicht mehr führen. Das Rationalitätsverfahren wird abgebrochen, wenn für niemanden erkennbar ist, mit welchen Argumenten die getroffenen Entscheidungen begründet werden."
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