9punkt - Die Debattenrundschau

Alles, was mir als verbürgt und gesichert galt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2023. Durs Grünbein schreibt in der SZ das "J'accuse", auf das die deutsche Öffentlichkeit (und bei weitem nicht nur diese) gewartet hat: "Ich hätte mir vieles träumen lassen, aber dass sich der nackte Judenhass, die Fratze des Antisemitismus, einmal wieder so unverstellt zeigen würde, dies in Deutschland, in Westeuropa, an amerikanischen Universitäten und anderswo..." Es gibt heute viele weitere wichtige Interventionen gegen den linken Antisemitismus, der sich in den letzten Wochen austobte, von Tania Martini in der taz, Eren Güvercin in der FR, Nicholas Potter ebendort, Pierre-André Taguieff in Le Monde, Novina Göhlsdorf in der FAS. Aber auch die Gegenseite äußert sich: Etienne Balibar und Edgar Morin entblöden sich in Le Monde nicht, Israel "Töten um des Tötens willen" vorzuwerfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2023 finden Sie hier

Ideen

Durs Grünbein schreibt in der SZ das "J'accuse", auf das die deutsche Öffentlichkeit (und bei weitem nicht nur diese) gewartet hat. Zunächst einmal benennt er in beeindruckender Schärfe seine Fassungslosigkeit, nicht nur vor dem Ereignis, sondern auch vor den ekelhaften Reaktionen, die es auslöste, und die nun schon zum Ereignis selbst gehören. "Ich hätte mir vieles träumen lassen", schreibt er, "aber dass sich der nackte Judenhass, die Fratze des Antisemitismus, einmal wieder so unverstellt zeigen würde, dies in Deutschland, in Westeuropa, an amerikanischen Universitäten und anderswo, dies ist eine Erfahrung, die alles, was mir als verbürgt und gesichert galt, in Frage stellt." Auch Grünbein hat die Philosophenaufrufe der neuen Faschismus-Versteher gelesen und konstatiert: "Es zeugt aber von moralischer Verwahrlosung, wenn ein Verbrechen unbenannt bleibt, ein gezieltes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn es gar gerechtfertigt wird, gefeiert, wie auf den Straßen Berlins, auf Demonstrationen weltweit." Auch gegen die Postkolonialisten holt Grünbein sehr deutlich aus, indem er schlicht nochmal an die Geschichte des Antisemitismus seit zweitausend Jahren erinnert, die zeigt "wie sehr also gerade Juden einen Staat brauchten zum bloßen Überleben. Und wie viel ihnen gerade darum an einer friedlichen Koexistenz mit denen, die dort schon lebten, den palästinensischen Arabern, gelegen sein musste - im eigenen Interesse. Was Vertreibung, Besatzung, religiöse Diskriminierung, Kolonialismus oder Versklavung bedeutet, muss Juden niemand, ihnen am allerwenigsten, erklären."

Der Aufruf "Philosophy for Palestine" der üblichen Verdächtigen von Judith Butler bis Etienne Balibar (unser Resümee) ist eine "totale Bankrotterklärung dieser linken Denker:innen", schreibt Tania Martini in der taz. Unter anderem attestiert sie den Autoren denkerische Schlampigkeit: Sie werfen (nur) Israel Genozid vor, aber dieses Wort sei "zu einem modischen Kampfbegriff geworden, der den Blick auf die Taten verstellt. So ist es kaum verwunderlich, dass die Philosoph:innen des Briefes ein 'Massaker' an den Palästinenser:innen zu sehen glauben, das genozidale Pogrom der Hamas vom 7. Oktober aber nur als 'Angriff' bezeichnen. Gerade so, als wären ein paar bewegte Teenager auf Skateboards mit Pfeil und Bogen in die Kibuzzim eingefallen."

Auch die FAZ-Kolumnistin Novina Göhlsdorf denkt in der FAS über die vielen Auslassungen oder allenfalls formelhaften Konzessionen in all den propalästinensischen Petitionen nach, die seit dem 7. Oktober kursieren. Sie hält es mit Seyla Benhabibs Antwort (unser Resümee) auf Judith Butlers "Philosophy for Palestine", die die "die Grenzen der Logik eines 'Sowohl-als-auch'" benenne: "Die Hamas-Anhänger lassen sich nicht als Terroristen und zugleich als antikoloniale Freiheitskämpfer begreifen. Und erkennt man an, dass der 7. Oktober, so Benhabib, eine 'Zeitenwende' darstellte für jüdische Menschen, nicht nur in Israel, und für Palästinenser, kann man ihn nicht zugleich als einen Akt unter vielen in einem durchweg von der israelischen Besatzung strukturierten Konflikt auffassen."

"Die Leugner des 7. Oktober befinden sich wie die Holocaust-Leugner in einer besonders dunklen Ecke", schreibt der Historiker Simon Sebag Montefiore in der NZZ. Und nein, Israel ist keine Kolonialmacht, wie die propalästinensische Fraktion behauptet, um so die Gewalttaten der Hamas zu legitimieren: "Die zentrale Aussage, dass Großbritannien die arabischen Versprechen verraten und die jüdischen unterstützt hat, ist unvollständig. In den 1930er Jahren wandte sich Großbritannien gegen den Zionismus, und es strebte von 1937 bis 1939 einen arabischen Staat an, ohne dass es einen jüdischen gäbe. Es war eine bewaffnete jüdische Revolte von 1945 bis 1948 gegen das imperiale Großbritannien, die den Staat zustande brachte." Ganz abgesehen davon haben Juden schon immer im Heiligen Land gelebt, so Montefiore. "Selbst diejenigen, die diese Geschichte leugnen oder sie als irrelevant für die heutige Zeit betrachten, müssen anerkennen, dass Israel heute die einzige Heimat von neun Millionen Israeli ist. Die meisten leben dort seit vier, fünf oder sogar sechs Generationen. Als Vergleich: Die meisten Einwanderer, die beispielsweise in das Vereinigte Königreich oder die Vereinigten Staaten einwandern, werden im Laufe ihres Lebens als Briten oder Amerikaner angesehen. Die Politik in beiden Ländern ist voll von prominenten Führungspersönlichkeiten - Suella Braverman und David Lammy, Kamala Harris und Nikki Haley -, deren Eltern oder Großeltern aus Indien, Westafrika oder Südamerika eingewandert sind. Keiner würde sie als 'Siedler' bezeichnen. ... Die Linken sind der Meinung, dass Migranten, die vor Verfolgung fliehen, willkommen geheißen werden sollten und ihnen erlaubt werden sollte, sich anderswo ein Leben aufzubauen. Fast alle Vorfahren der heutigen Israeli sind vor Verfolgung geflohen."

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Nicholas Potter gehört zu den Herausgebern eines Buchs über linken Antisemitismus, besonders in der deutschen Aktivistenszene, das noch vor dem 7. Oktober erschienen ist. Im Gespräch mit Max Müller von der FR äußert auch er sein Entsetzen: "Ich bin komplett desillusioniert. Von vielen Bekannten, von denen ich dachte, dass sie sich auch für Demokratie und Menschlichkeit einsetzen, bin ich schwer enttäuscht. Das geht nicht nur mir so und offen gestanden weiß ich nicht, ob und wie sich das wieder kitten lässt. Mir ist in den letzten Wochen klar geworden, dass viele Linke echt schwer antisemitisch sind und überall nur noch Unterdrücker und Unterdrückte wittern. "

In Le Monde schreibt Pierre-André Taguieff, Autor einer der wichtigsten Geschichten des Antisemitismus, über die Verantwortung der Allgemeinheit diesem neuen Antisemitismus entgegenzutreten: "Das 'ja, aber' dient nicht mehr dazu, Nuancen zu beschreiben, sondern dazu, feige eine Verherrlichung des Terrorismus zu verstecken. Diese Ausflüchte und diese Böswilligkeit müssen wir nun entlarven. Denn wir alle sind mit dafür verantwortlich, wenn sich Diskurse immer weiter ausbreiten, die Ausflüchte suchen, um die islamistische Feindseligkeit zu entschuldigen. Ohne ein moralisches Aufbäumen wird sich diese Feindseligkeit in kollektiven Taten entladen, die hier in Frankreich Juden und anderen gelten werden - auch den Lauen, die die Verbreitung von Lügen, Gleichgültigkeit und Hass zugelassen haben."

Ebenfalls in Le Monde werfen prominente Philosophen wie Etienne Balibar und Edgar Morin in einem weiteren dieser Aufrufe Israel Genozid vor: "Der Gegenschlag Israels erscheint nicht nur unverhältnismäßig, er entfaltet sich als barbarische Rache, indem er die Bevölkerung unter Bomben zerquetscht, Häuser, Schulen und Krankenhäuser zerstört und die Bewohner nur aus ihren Vierteln vertreibt, um sie besser zu Zielscheiben machen zu können. Unter den Opfern auch Tausende von Kindern. Und all dies, ohne dass eines der proklamierten Ziele auch nur die geringste Chance hätte, erreicht zu werden, sei es die Beseitigung der Hamas oder die Befreiung der Geiseln. In Wirklichkeit geht es um etwas anderes: Töten um des Tötens willen, die Vernichtung eines ganzen Teils des feindlichen Volkes, die Steigerung des Terrors auf eine neue Stufe, zum Nachteil jeder Aussicht auf eine Lösung des israelisch-palästinensischen Problems."
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Religion

Der Publizist Eren Güvercin bleibt bei seiner scharfen Kritik an den deutschen Islamverbänden, die sich erst sehr spät, auf Druck und dann nur relativistisch zur Blutorgie der Hamas äußerten. "Die Verbände beherrschen eine doppelte Kommunikation", erläutert er im Gespräch mit Uli Kreikebaum von der FR, "das heißt: das, was sie Richtung Politik kommunizieren, kommunizieren sie nicht in ihre Gemeinden. Synagogen-Besuche helfen uns nicht weiter, wenn es keine klare Haltung gegen den muslimischen Antisemitismus und Israelhass gibt. Synagogen dürfen nicht zu Fototapeten für die PR muslimischer Verbandsfunktionäre degradiert werden."
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Medien

Es kursieren Vorwürfe gegen Fotografen aus Gaza, die gewissermaßen ins Mordgeschehen eingebettet gewesen und deren Fotos von Medien wie CNN, New York Times und Reuters übernommen worden seien. Aufgeworfen wurden die Vorwürfe von dem proisraelischen Magazin Honest Reporting. Die Medien weisen die Vorwürfe zurück, auch wenn einer der Fotografen bei Twitter zu sehen ist, wie er von Yahya Sinwar, dem Organisator der Pogrome, einen Bruderkuss erhält. "Im Falle von Hassan Eslaiah, dem ehemaligen CNN-Zulieferer auf dem Selfie mit dem Hamas-Chef, gehen die Vorwürfe jedoch weiter", schreibt Moritz Baumstieger in der SZ: "Mit einem von ihm gefilmten Video soll er dokumentiert haben, wie er auf dem Soziussitz eines Motorrads von Gaza aus hinein nach Israel fährt - mit einer Handgranate in der Hand." In der FAZ greift Michael Hanfeld die Geschichte auf.

Am 9. November - ausgerechnet! - protestierten 150 Kunstschaffende, darunter Nan Goldin und Eileen Myles, in der Lobby der New York Times in Manhattan gegen die ihrer Meinung nach zu israelfreundliche (sic) Berichterstattung der Zeitung, berichten Maya Pontone und Rhea Nayyar in Hyperallergic. "Die Demonstranten des Writers' Bloc stürmten am Ende des Arbeitstages die Lobby der Zeitung. Als Anspielung auf die Aids-Koalition 'Act up' und deren Ableger 'Gran Fury' verteilte die Gruppe etwa 4.000 individuell bedruckte Flugblätter mit dem Titel 'The New York Crimes' und den Schlagzeilen 'Ceasefire Now!' und 'We Killed Our Colleagues'. Auf jedem Blatt standen über 2.600 Namen von palästinensischen Zivilisten und 35 Journalisten, die im vergangenen Monat durch die israelische Bombardierung des Gazastreifens getötet wurden. Die Mitglieder der Gruppe schwenkten nachgemachte Zeitungen, Transparente und palästinensische Flaggen und lasen die Namen der vierzehn Mitglieder der Times-Redaktion laut vor, wobei sie 'New York Times: Blood on Your Hands' (Blut an euren Händen) im Gleichklang zwischen den einzelnen Namen. Danach begannen die Demonstranten, die Namen der Journalisten und Zivilisten zu rezitieren, die in dem Blatt genannt wurden, beginnend mit den jüngsten Opfern." Die Namen der von der Hamas getöteten Israelis wurden offenbar nicht genannt.
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Politik

Es sind Deutsche unter den von der Hamas Entführten. Eine Delegation der Angehörigen ist nach Berlin zu kommen, um in Deutschland nach Unterstützung zu suchen. Judith Poppe berichtet für die taz: "Die Delegation in Deutschland bleibt durchweg diplomatisch. Kritik an der israelischen Regierung üben sie hier nicht. Es könnte daran liegen, dass sie in dieser Zeit nicht schlecht über ihr Land sprechen wollen. Und vielleicht auch vor allem nicht hier, in Deutschland. Nur zu einem Satz lässt sich Ofir Weinberg, die 24-Jährige, die so früh die Regeln der Diplomatie erlernt hat, hinreißen: 'Wenn all das vorbei ist, dann werden wir uns alle hinsetzen und die Rechnung machen.'"

taz-Autor Daniel Bax unterhält sich zugleich mit dem Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck von der Organisation "European Center for Constitutional and Human Rights" in Berlin über die Frage, ob der Internationale Strafgerichtshof gegen Israel und die Hamas ermitteln soll, da "sowohl Israels Armee als auch der Hamas Kriegsverbrechen vorgeworfen" würden. Zur Ausnutzung der Zivilbevölkerung als Schutzschilde durch die Hamas, sagt Kaleck: "Zunächst ist die Ausnutzung von Zivilisten in derartiger Weise ein Kriegsverbrechen. Aber solche Taten der einen Seite erlauben keine Verstöße von der anderen Seite. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht." Aber er hält es für ausgemacht, "dass infolge der von Israel gewählten Strategie in unverhältnismäßigem Maße Zivilisten getötet werden. Damit sind die Grenzen des Rechts vermutlich überschritten - und das muss dazu führen, dass diese Sachverhalte sorgfältig und umfassend untersucht werden." Schon Osama bin Laden und Al Qaida hätten nach dem 11. September von internationaler Justiz unter Anklage gestellt werden sollen, findet Kaleck, aber die USA wollten "von Anfang an töten und ihre Infrastruktur zerstören".

Etwas anders redet die russische Menschenrechtsaktivistin Polina Murygina, die heute in Deutschland lebt, in einem anderen Kontext im taz-Interview mit Friederike Gräff. Sie kümmert sich um ukrainische Menschen, die von Putins Schergen nach Russland verschleppt wurden. Und hier greift das internationale Recht offenbar gar nicht: "Die russische Seite nimmt beispielsweise zivile Geiseln, wir als Anwält:innen bemühen uns um ihre Freilassung. Aber da es durch die Genfer Konvention verboten ist, zivile Geiseln zu nehmen, gibt es gar kein Verfahren, um sie wie Kriegsgefangene auszutauschen."

Jean-Luc Mélenchons Partei La France Insoumise (LFI) entpuppt sich immer mehr als authentischste Nachfolge rechtsextremer Parteien der Dreißiger, mit Mélenchon selbst als Anführer der "SA in Jeans". Joel Rubinfeld kommentiert auf Twitter einen Auftritt des LFI-Politikers und Abgeordneten David Guiraud im tunesischen Fernsehen: "David Guiraud betreibt Täter-Opfer-Umkehr und Negationismus im Live-Format und liefert eine selten perverse Anklage gegen 'einen Kolonialstaat, der dabei ist, eine ethnische Säuberung durchzuführen'. 'Die menschlichen Schutzschilde hat Israel selbst benutzt.' 'Das Baby im Ofen wurde in der Tat von Israel verschuldet.' 'Die aufgeschlitzte Mutter wurde in Sabra und Shatila tatsächlich von Israel verschuldet.' (Anmerkung: Das Massaker von Sabra und Schatila wurde 1982 von den christlichen libanesischen Phalangen verübt. Während der Tat befanden sich keine israelischen Soldaten in den Lagern)."
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Europa

In der NZZ denkt der schwedische Schriftsteller Richard Swartz über die Staaten nach, die zwischen Deutschland und Russland liegen. Wie soll man sie nennen? Mitteleuropa? "Vielleicht wäre Transiteuropa ein besserer Name als Mitteleuropa für diese Gegend ohne Flagge, Pass und fixe Grenzen? Die gemeinsame geschichtliche Erfahrung und die geopolitische Wirklichkeit führen vielleicht zu keiner deutlichen transiteuropäischen Identität, aber doch zu einer ähnlichen Lebenseinstellung oder Mentalität jenseits von Sprache, Religion und Ethnizität. Diese Mentalität kann man sich nicht aneignen: Man kann sie nur im Alltag Transiteuropas erleben. Auch nach Jahrzehnten meines Lebens in Wien kommt es vor, dass ich als Nicht-Transiteuropäer in Situationen gerate, in denen ich weder ein noch aus weiß, nicht verstehe, was ich sagen, was ich machen soll oder was man von mir erwartet. Nach fünfzig Jahren in Transiteuropa werde ich dann in einen Fremden verwandelt, der nicht dazuzählt, nicht hierher gehört. Also muss meine kroatische Frau eingreifen und das Problem lösen - ohne Deutsch zu sprechen, und mit einer fast rein touristischen Kenntnis von Wien. Sie löst es. Wie kommt das? Ich bin jedes Mal ebenso verblüfft wie neidisch. 'Ach was, Wien ist doch nur ein größeres Zagreb.'"
Archiv: Europa