9punkt - Die Debattenrundschau

Dann sind die Tage der Demokratie gezählt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2023. Henry Kissinger ist tot. ZeitOnline und SZ erinnern an den schlagfertigen Staatsmann mit all seinen Stärken und Schwächen. Hamas und der IS wollen den Dschihadismus in Europa aufwecken, warnt der französische Politologe Hugo Micheron in der SZ. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz befürchtet Terroranschläge in Deutschland, meldet die FAZ. Terrorismus ist kein Problem der Migrationspolitik, meint der Soziologe Marc Helbling in der NZZ. Und die Welt ist entsetzt über das Schweigen der feministischen Bewegung angesichts des schrecklichsten aller Femizide
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.11.2023 finden Sie hier

Politik

Henry Kissinger ist gestern im Alter von 100 Jahren gestorben. In einem ersten Nachruf auf ZeitOnline erinnert Matthias Naß an den amerikanischen Politiker, Politikwissenschaftler und Gelehrten, dem bis ins hohe Alter alle Türen offen standen: "War Kissinger ein Staatsmann? Trieb ihn nicht zu sehr die Eitelkeit, die Gefallsucht, bisweilen der pure Opportunismus? Seine Schwächen waren nicht zu übersehen, aber sie schmälerten seinen Ruhm nicht. Auch nach Nixon und Ford baten ihn alle amerikanischen Präsidenten um seinen Rat." Er "lieferte, mit seiner sehr eigenen Mischung aus Selbstironie und Schlagfertigkeit, verlässlich die schönsten Aperçus. Gefragt, ob er lieber als Mr. Kissinger oder Dr. Kissinger angesprochen werden wolle, antwortete er: 'Ich kenne mich mit dem Protokoll nicht aus. Nennen Sie mich einfach Exzellenz, das genügt.' Als er in seiner Zeit als aktiver Politiker einmal in Rom landete, erfuhr er, dass der Papst gerade zwei Menschen heiliggesprochen hatte. Worauf Kissinger fragte: 'Wer ist der andere?'"

In der SZ schreibt Stefan Kornelius: "Kissingers historisches, philosophisches und realpolitisches Verständnis von Macht und ihrer Balance stand im Mittelpunkt all seines Denkens. Obwohl er über seine Prägung nie gerne und viel gesprochen hat, muss man davon ausgehen, dass dieser von Weimar und der Machtübernahme der Nationalsozialisten traumatisierte jüdische Junge seine europäische Vorstellung von einem Kräftegleichgewicht auf die andere Seite des Atlantiks getragen hat und dort Generationen von Außenpolitikern mit seiner Vorstellung von Dominanz und Ausgleich prägte." Im Dlf führt Marcus Pindur knapp 20 Minuten lang durch Kissingers Leben.

Für sein Buch über den europäischen Dschihadismus - "La colère et l'oubli", zu Deutsch: "Der Zorn und das Vergessen" - sprach der französische Politologe Hugo Micheron, der auch mitverantwortlich für eine Arte-Doku zum Thema zeichnet, mit inhaftierten Islamisten in französischen Gefängnissen. Im SZ-Gespräch warnt er unter anderem vor einer gefährlichen Allianz zwischen dem IS und der Hamas: "Für Daech stand Hamas im Einflussbereich Irans, der Schiiten also. Nun aber hat sich Hamas in gewisser Weise daechisiert. Ich sage nicht: Hamas ist gleich Daech. Doch die Terrormethoden des 7. Oktober sind jenen von Daech sehr ähnlich. (…) Hamas und Daech wollen den Dschihadismus in Europa aufwecken." Die europäischen Demokratien haben die Gefahren zu lange unterschätzt, indem sie sagten: "Unser Problem ist der Terrorismus - wenn es also keine Anschläge gibt, haben wir kein Problem. Dadurch hat man dem Dschihadismus Lücken gelassen. Man hat die Gefahr nicht kommen sehen, dabei sind die Dschihadisten immer sehr klar in ihren Ansagen. Wenn jetzt bei Ihnen in Deutschland die islamistische Organisation Hizb ut-Tahrir auf die Straße geht und die Einführung der Scharia fordert - dann muss man kein Islamwissenschaftler sein, um zu verstehen: Hier ist ein System am Werk, das sich über grundlegende deutsche Werte hinwegsetzen will."

Im Zeit-Interview spricht Ahmad Mansour über seine Angst, sich als in Israel aufgewachsener Palästinenser mit Israel zu solidarisieren. Nur wenige in seiner Familie sprechen noch mit ihm, erzählt er. Israel muss den Krieg gewinnen, betont er dennoch, auch mit Blick auf die zivilen Opfer in Gaza: "Die vielen Toten und Verletzten sind genau die Kollateralschäden, die die Terroristen brauchen, um Israel und die Weltöffentlichkeit unter Druck zu setzen. Dazu passt, wie sie sich selbst bei den Freilassungen der Geiseln inszenieren. Als wären sie deren Beschützer, ein bewaffneter Begleitschutz, und nicht in Wahrheit grausame Entführer. (...) Mich ärgert maßlos, wie viele auf dieses Narrativ hereinfallen. (…) Wir müssen erkennen, die sind nicht unsere Befreier, sondern unser Feind. Statt sich von ihnen 10.000 Dollar für einen entführten Israeli zahlen zu lassen. Statt sich einzubilden, dass ich ins Paradies komme, wenn ich Juden ermorde. Statt zu prahlen: Ich sterbe den Märtyrertod. Die Hamas ist ein Sammelbecken für Menschen, die Helden spielen. Für Labile, die von psychopathischen Anführern wie Jahia Sinwar ausgenutzt werden. Sie bekommen Drogen, werden darauf trainiert, Wehrlose zu quälen und Leichen zu schänden."

Im Tagesspiegel analysiert auch Christoph David Piorkowski nochmal den "blinden Fleck" der globalen Linken, die den Antisemitismus als Befreiungskampf gegen die Eliten sieht: "Dass nicht nur 700.000 Palästinenser:innen im Zuge der Staatsgründung Israels eine Nakba erlebten, sondern auch 900.000 Jüdinnen und Juden aus arabischen Ländern vertrieben wurden, spielt für die Anhänger:innen der Lehre keine Rolle." Sie konzentrieren ihren Hass auf "den Juden". "'Der Jude' fungiert hier als das mit der Unordnung der modernen Welt assoziierte Gegenbild einer als einheitlich und natürlich empfundenen Gemeinschaftsordnung. Diese Ordnung kann die deutsche 'Volksgemeinschaft' sein, wie im rechtsextremen Antisemitismus. Sie kann als 'Umma', als Gemeinschaft der Muslime, gedacht werden, wie im islamistischen Antisemitismus. Sie kann aber auch als gerechte, naturverbundene und nachhaltige Community von Menschen im 'globalen Süden' gemalt werden, die sich gegen den mit Militarismus, Ausbeutung und Naturzerstörung assoziierten 'Norden' behauptet". (Der Tagesspiegel hat nach Leser-Beschwerden übrigens beschlossen, nicht mehr zu gendern.)

Warum schweigt die feministische Bewegung angesichts massenhafter Vergewaltigungen an jüdischen Frauen, fragt sich Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). In Italien gingen nach einem Mord an einer Frau durch ihren Ex-Freund hunderttausende Menschen am Wochenende auf die Straße und prangerten die Gewalt gegen Frauen an. "Wie aber konnte man von da aus nicht den Bogen schlagen zu den vielfachen entsetzlichen Morden, die an israelischen Frauen begangen wurden? Ganz offensichtlich reichte die Empathie dafür nicht aus. Auch die Demonstranten in Rom und anderswo beteiligten sich an dem Schweigen über den schrecklichsten aller Femizide. Ja, mehr noch: Schlein, die junge Vorsitzende der größten Linkspartei, musste ihre ganze queerfeministische Autorität in die Waagschale werfen, um die eindeutig propalästinensischen Passagen aus dem Aufruf zur Kundgebung in Rom wenigstens etwas abzuschwächen. Und geradezu flehentlich hatte sie die Demonstranten aufgefordert, auf das Mitführen der palästinensischen Flagge zu verzichten. Vergeblich."

Henryk M. Broder macht sich in der Welt Sorgen um den Zustand des Staates Israel nach den Anschlägen am 7. Oktober. "Eine solche 'Kränkung' kann keine Gesellschaft überleben, ohne auseinanderzufallen oder sich zu radikalisieren. Und wenn Sicherheit vor Freiheit kommt, dann sind die Tage der Demokratie gezählt." Außerdem weist er daraufhin, dass die antisemitische Bewegung sich die Juden Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina wünschte: " 'Juden raus nach Palästina!' hörte sich geradezu romantisch an, wie die Einladung zu einer Kreuzfahrt, verglichen mit dem aktuellen Schlachtruf 'Juden raus aus Palästina!' Das ist die Übersetzung der Parole 'From the River to the Sea, Palestine will be free'. Ehrlicher und offener lässt sich der Wunsch nach einem Ende des Judenstaates auf dem Boden des historischen Palästinas nicht ausdrücken."

Javier Milei nur als Rechtspopulisten in der Tradition von Trump, Orban und Co. zu betrachten, reicht nicht, meint Ijoma Mangold in der Zeit. Von jenen trenne ihn "sein antiautoritärer Grundimpetus, (...) seine Gegnerschaft zum Protektionismus (...) und seine finstere Entschlossenheit, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen." Vielleicht liegt in Mileis Libertarismus ja auch eine Chance für Argentinien, das vor hundert Jahren zu den reichsten Ländern der Welt zählte, glaubt Mangold: "Seit den Fünfzigerjahren, also tatsächlich seit der ersten Regierungszeit Juan Peróns, erlitt das Land einen fast ununterbrochenen wirtschaftlichen Abstieg, während der Staatsapparat in der gleichen Zeit wuchs, die Staatsquote stieg, das Heer der Staatsangestellten größer und größer wurde, ein Staatsbankrott den nächsten jagte und die Inflation inzwischen fast 150 Prozent erreicht hat. Die Alltagswirklichkeit aller Argentinier besteht mittlerweile darin, möglichst viele Peso auf dem Schwarzmarkt in Dollar zu tauschen, denn der Geldwert ihrer Landeswährung zerrinnt ihnen in den Fingern von einem Tag auf den nächsten."

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Europa

Auch die Anzahl antimuslimischer Vorfälle in Deutschland ist gestiegen, aber es wird wenig darüber berichtet, schreibt Daniel Bax, ehrenamtlicher Beirat der Organisation "CLAIM - Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit" in der taz: Antimuslimische Übergriffe werden "weniger umfassend erfasst als etwa antisemitische Vorfälle. CLAIM zum Beispiel trägt Fälle zusammen, die über das Meldeportal I-Report und andere Beratungsstellen gemeldet werden oder über die in Medien berichtet wird. Das umfasst Beleidigungen, Diskriminierungen, Sachbeschädigungen und körperliche Gewalt. Anders als die Meldestelle RIAS, die antijüdische Vorfälle dokumentiert, erfasst CLAIM aber weder den großen Bereich der Online-Hetze in Sozialen Medien noch antimuslimische Parolen, die auf Demonstrationen skandiert werden. Daher wirkt die Zahl im Vergleich gering. Doch das Dunkelfeld ist groß."

Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht in Folge des Nahostkonflikts eine hohe Gefahr, dass es in Deutschland zu Terroranschlägen kommt, meldet heute nicht nur Markus Wehner in der FAZ: "Der Verfassungsschutz beobachtet, dass ganz unterschiedliche extremistische Akteure zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aufrufen. Dazu gehörten Islamisten, palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten sowie deutsche und türkische Linksextremisten. Sie würden, zum Teil mit unterschiedlicher Motivation, als Antreiber und Scharfmacher bei Demonstrationen und im Internet auftreten und Hass, Hetze, Propaganda und Fake News in den sozialen Medien verbreiten. Deutsche Rechtsextremisten nutzten den Nahostkonflikt wiederum zur Agitation gegen Muslime und Migranten. Das verbindende Element zwischen den unterschiedlichen Gruppen seien Antisemitismus und Israelfeindlichkeit."

"Terrorismus ist nicht ein Problem der Migrationspolitik", erklärt der Soziologe Marc Helbling im NZZ-Interview mit Nina Belz und Andreas Ernst. Eher sei die Radikalisierung von migrantischen Personen auf ihre Traumatisierung und mangelnde Integration zurückzuführen. "Die meisten Terroristen werden erst hier zu Terroristen, sie kommen nicht als Terroristen. Und wenn jemand in terroristischer Absicht einreist, tut er das ja nicht mit einem Koffer voller Sprengstoff in der Hand. Viel wichtiger ist die Integrationspolitik, also das, was geschieht, nachdem eine Person eingereist ist. Folgenreich ist auch, ob das Asylwesen funktioniert. Gibt es schnelle und effiziente Verfahren? In Deutschland dauern sie zu lang, die Personen bleiben vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, manche rutschen in die Kriminalität ab. Und schließlich geht es auch um die Qualität der polizeilichen Überwachung von Einzelpersonen und Netzwerken. Sie bemisst sich danach, ob es dem Staat gelingt, die Rekrutierung von Tätern zu verhindern. Das, nicht die Einwanderungspolitik, ist der Politikmix, mit dem der Terrorgefahr vorgebeugt werden kann."

Natürlich wäre ein AfD-Verbotsverfahren riskant, gibt Peter Laudenbach in der SZ zu. "Trotzdem lässt sich die Diskussion um ein Verbot der AfD nicht einfach mit dem Verweis auf seine politischen Risiken und der Aufforderung an die demokratischen Parteien beenden, sie sollten mit besserer Regierungs- und Oppositionsarbeit die Anhängerschaft der AfD wieder für sich gewinnen". Als Opfer inszenieren sich die Funktionäre der Partei sowieso und vergiften das politische Klima, meint er. Deshalb sollte ein Verbotsverfahren eingeleitet werden: "Man kann zumindest fragen, ob diese Radikalisierung der Partei die vom Grundgesetz gesetzten Grenzen verletzt und ob das den Entzug des Parteienprivilegs rechtfertigt. Ein Verbotsverfahren würde diese Frage an das Bundesverfassungsgericht richten. (...) Dieser symbolische Bruch könnte zumindest mit der nötigen Klarheit anzeigen, wo die Grenzen des demokratischen Spektrums verlaufen."
Archiv: Europa

Geschichte

In der NZZ erinnert Ulrich M. Schmid an den Zionisten Wladimir Schabotinski, der zeitlebens für einen jüdischen Staat eintrat. "Schabotinski lobbyierte unermüdlich für das zionistische Projekt - als Impresario oder als Kolumnist. Schabotinskis politische Tätigkeit rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Er wurde als jüdischer Garibaldi bejubelt und als jüdischer Mussolini kritisiert. David Ben-Gurion nannte ihn sogar 'Wladimir Hitler'. In der Tat war Schabotinski eine widersprüchliche Person. Einerseits faszinierten ihn die autoritären Alternativen zu den 'weimarisierten' Demokratien im Europa der Zwischenkriegszeit. Andererseits stand er in der Tradition des westlichen Liberalismus. Pikanterweise war der zukünftige Staat Israel für Schabotinski keine persönliche Herzensangelegenheit. (...) Schabotinski fragte sich, ob die europäischen jüdischen Intellektuellen nicht doch Wiesbaden Jerusalem vorziehen würden, wenn sie die Wahl zwischen dem deutschen Kurort und der heiligen Stadt hätten. Die Auswanderung in das 'Gelobte Land' war eine Heilsvorstellung, die er für sein Volk, aber nicht für sich selbst ins Auge fasste."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Liberalismus

Urheberrecht

In der SZ begrüßt Andrian Kreye, dass auf der 11. Internationalen Urheberrechtskonferenz der Vorschlag gemacht wurde, die Erzeugnisse von KI als Reproduktion und Variation einzustufen - damit wären die Erzeugnisse urheberrechtspflichtig. "Das wäre im Kontext der KI genau richtig. (...) Denn Gesetze wie das Urheberrecht sind nicht für Verbote da, sondern zum Schutz."
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Stichwörter: Urheberrecht

Kulturpolitik

Sowohl das Konzept als auch der architektonische Entwurf für das Berliner Exilmuseum stehen, eine Stiftung, Fürsprecher und eine Anschubfinanzierung gibt es, aber der Staat möchte sich finanziell an dem Projekt nicht beteiligen, schreibt Thomas E. Schmidt, der in der Zeit die Gründe dafür analysiert: "Es kollidiert mit einem der größten Vorhaben der Bundesbeauftragten für die Kultur in dieser Legislatur. Und dieses Vorhaben wird genau um die Mehrperspektivität des Erinnerns kreisen und sie anders zu fokussieren versuchen. SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP brachten im Oktober in den Bundestag einen Entschließungsantrag zur Realisierung eines Dokumentationszentrums 'Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa' ein. Unter Federführung des Deutschen Historischen Museums soll das Zentrum zeigen, wie sich der Krieg auf die Zivilbevölkerungen der eroberten Nationen ausgewirkt hat, und zwar aus deren Sicht. Davon wissen wir tatsächlich wenig. Seit vielen Jahren äußern zumal osteuropäische Staaten den Wunsch, in der deutschen Erinnerungskultur mit ihren - polnischen oder baltischen - Versionen von Besatzung und Vernichtung präsent zu sein. Das wird nun nachgeholt, und es wird 120 Millionen Euro im Kulturetat des Bundes binden."

Außerdem: Hartmut Welscher analysiert im Van-Magazin, welche fatalen Auswirkungen die Haushaltssperre auf die Kulturbranche hat.

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