9punkt - Die Debattenrundschau

Abgelenkt und frustriert und genervt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2023. Großes Aufsehen erregen auf Twitter Äußerungen amerikanischer Unipräsidentinnen, die auf die Frage, ob ein Aufruf zum Genozid an Juden den Richtlinien ihrer Unis widerspricht, antworten, das komme auf den Kontext an. Die Präsidentinnen finden in Deutschland Unterstützung von Annika Brockschmidt, Philip Sarrasin und Patrick Bahners. In der taz fürchtet Irina Scherbakowa von Memorial, dass Putin seinen Krieg gegen die Ukraine so lange andauern lassen will wie möglich. Der Vorwurf des Antisemitismus gegen Achille Mbembe und viele andere sei rassistisch, findet Stefan Weidner bei qantara. Sein Beweis ist, dass Hubert Aiwanger weiter im Amt ist. Und Anne Rabe attackiert auf Twitter Christoph Hein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.12.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Riesiges Aufsehen erregen bei Twitter die Äußerungen einiger Präsidentinnen der renommiertesten Universitäten der USA. Auf die Frage der republikanischen Abgeordneten Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Genozid an Juden den Richtlinien ihrer Universitäten widerspricht, antworten sie, das hänge vom Kontext ab. Mit ja wollen sie auf die Frage der Politikerin partout nicht antworten. Der Soziologe Richard Sennett gehört zu den vielen , die das Video dieser Befragung einbinden, und er schreibt dazu: "Es würde mich interessieren, was andere über diese Aussagen denken. Soziologisch gesehen sind sie absurd und für mich moralisch verwerflich. Was ist der Grund für die Ausweichmanöver der Präsidentinnen? Das ist als wirkliche Frage gemeint."

Die Präsidentinnen finden aber auch prominente Verteidiger in der deutschen Öffentlichkeit. Die Autorin Annika Brockschmidt macht darauf aufmerksam, dass die Politikerin Stefanik eine Rechte sei und an die Theorie des "großen Austauschs" glaube: überdies richte sich ihre Frage "nach der Klassifizierung des 'Code of Conduct' der Unis - ein propagandistischer Kniff, denn es ist klar, dass in diesem juristischen Rahmen keine einfache ja/nein Antwort möglich ist. Es ist ein rhetorischer Trick." Der Historiker Philip Sarasin (Betreiber des postkolonialen Blogs Geschichte der Gegenwart) stimmt Brockschmidt zu. Auch Patrick Bahners, ehemals Feuilletonchef der FAZ doziert zum Thema: Die "Eskalationsdynamik der Genese von Genoziden unterschätzt, wer die gesamte palästinensische und propalästinensische Agitation auf das antisemitische Motiv reduziert."

Auch an deutschen Unis gab es bekanntlich antisemitische Ausschreitungen und Drohungen gegenüber jüdischen Studenten. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, spricht darüber im Interview mit Konrad Litschkos von der taz: "Das beunruhigt mich sehr. Nach dem 7. Oktober habe ich dort zunächst dröhnendes Schweigen wahrgenommen, nun erleben wir offenen Antisemitismus - nicht überall, aber eben doch zu viel. Wenn mir eine jüdische Studentin sagt, dass sie sich in einer Berliner Universität nicht mehr traut, alleine auf die Toilette zu gehen, ist das unbegreiflich. Das darf es nicht geben."

In der Jüdischen Allgemeinen fordert Schuster vor einer Konferenz der Innenminister ein stärkeres Eingreifen gegen Antisemitimus. Vieles sei aber auch schon geschehen: "Hamas und Samidoun wurden verboten, genau wie die Parole 'From the River to the Sea'; endlich wird der Kampf gegen das Islamische Zentrum Hamburg geführt. Das Signal der Innenministerkonferenz muss sein, dass dies nur der Anfang sein kann. Antisemitisches und antiliberales Gedankengut hat Wurzeln geschlagen in Deutschland."

In der SZ versucht Philipp Bovermann den "Fall Greta Thunberg" auseinanderzupflücken. Diese warnte einst in drastischen Worten vor den Folgen der Klimaerwärmung - heute wirft sie im gleichen Ton Israel einen Genozid in Gaza vor. Wie früher zieht sie Experten dazu heran, wie in einem Beitrag für die schwedische Zeitung Aftonbladet und dem Guardian. "Der Beitrag führt eine Stellungnahme von Forschern aus dem Bereich der Genozidforschung und des Völkerrechts an, die nach hasserfüllten Äußerungen israelischer Offizieller vor einem 'möglichen Genozid' in Gaza warnten - die Klimaaktivistinnen zitieren dies aber als Warnung vor einem 'sich entfaltenden' Völkermord. Ist ja auch quasi dasselbe, nicht? Den ergänzenden Hinweis, dass andere Genozidforscher es unangemessen finden, den Begriff auf die israelische Militäraktion in Gaza anzuwenden, sucht man vergeblich." Was ist also mit der Galionsfigur der weltweiten Klimabewegung passiert? "Wahrscheinlich ist Thunberg weder die engelsgleiche Verkünderin von Klimawahrheiten noch der antisemitische Dämon, zu dem sie nun vor allem in Deutschland stilisiert wird. Vielleicht ist sie nur zu selbstsicher geworden, zu schludrig, zu blind für die Gegenseite, ständig abgelenkt und frustriert und genervt - mit einem Wort: erwachsen."

Die öffentlich-rechtlichen Sender transkribieren Ihre Beiträge oft nicht mehr, wohl weil sie den von Zeitungslobbyisten erhobenen Vorwurf der "Presseähnlichkeit" fürchten. Darum bleiben strittige Äußerungen von öffentlichen Akteuren manchmal unbemerkt, wenn sie nicht von Hörern aufgegriffen werden, die einen Beitrag zufällig zur Kenntnis genommen haben. So jetzt die Schriftstellerin Anne Rabe, Autorin des Romans "Die Möglichkeit von Glück", die auf Twitter ihren Kollegen Christoph Hein attackiert. "Gestern hat die diesjährige Ostdebatte, die fraglos Abgründe offenbart hat, beinahe unbemerkt im @dlfkultur ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. In der Sendung 'Lesart' schwadronierte der Schriftsteller Christoph Hein widerspruchslos folgendes: 'Schauen wir uns die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland an. Das ist immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt. Da fand eine Auswechslung der Eliten statt, die so ein bisschen an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten." Rabes Kommentar dazu: "Das ist nach der Kolonialisierungsthese, nach der Erfindung des ostdeutschen Migrationshintergrunds das Ekelhafteste, was diese Debatte in den letzten dreißig Jahren zu bieten hatte." Hier ab Minute 14.
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Europa

Irina Scherbakowa, Mitbegründerin der von Putin verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, fürchtet im Gespräch mit Stefano Vastano von der taz, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine auf "einen eingefrorenen Konflikt" zuläuft. Westlichen Politikern, die auf Verhandlungen setzen, wirft sie Augenwischerei vor: "In meinen Augen sind Verhandlungen nicht möglich. Ich glaube, das sind falsche westliche Erwartungen und vorprogrammierte Enttäuschungen. Auch für Putin wären Friedensverhandlungen jetzt kein politischer Gewinn. Man muss ja bedenken, dass er sich schon im Wahlkampf befindet, im nächsten Jahr sind seine Wahlen. Ich denke, es ist für ihn politisch besser, diesen Krieg irgendwie weiterzuführen, um den Leuten immer weiter zu versprechen, es kommt zu einem Sieg. Krieg ist für ihn heute sein politisches Kapital. Das ist leider die traurige Realität in der Ukraine."
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Ideen

Der Judaist Elad Lapidot vertritt im großen Meinungsartikel der taz die übliche Theorie des Postkolonialismus, dass ein angeblich besonders starkes Einstehen gegen Antisemitismus eine deutsche Spezialmarotte sei, die aus der Geschichte Deutschlands resultiere. Der Antisemitismus in Deutschland komme aber weiter im wesentlichen von rechts, während muslimischer Antisemitismus aus dem Kontext zu erklären sei: "In Zeiten extremer Gewalt und Kriege führt berechtigte Kritik und Protest gegen Israel auch zu ungerechtfertigten Anfeindungen gegen Juden." Insgesamt sei das deutsche Vorgehen gegen propalästinensische Demos aber weit überzogen: "Der deutsche Staat und viele Deutsche verstehen das lobenswerte Gebot, Antisemitismus zu bekämpfen und Juden zu schützen, als bedingungslose Unterstützung des jüdischen Staats Israel. Sie verstehen, dass die Deutschen die Pflicht haben, jede Kritik an der Politik und den strukturellen Problemen Israels, vor allem an der seit Jahrzehnten andauernden Ungerechtigkeit gegenüber dem palästinensischen Volk, zurückzuweisen. Die Gleichsetzung zwischen dem Staat Israel und den Juden ist problematisch. Sie führt dazu, dass legitime und berechtigte Kritik an Israel generell als antisemitisch delegitimiert wird."
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Politik

Eine Lösung des Nahostkonflikts hängt von den UN ab, meint in Zeit online die Soziologin Gesa Lindemann, die sich auf eine Soziologie der Gewalt spezialisiert hat, und die Israelis in einer Gewaltspirale gefangen sieht. Das liegt für sie daran, dass die UN auch die Nachfahren der palästinensischen Flüchtlinge als Flüchtlinge ansieht und die arabischen Aufnahmestaaten diesen Flüchtlingen keine Bürgerrechte geben. "Die bisherige Politik der UN stützt jedoch nicht nur de facto die Ordnung des gewaltvollen Ausgleichs, sie trägt zugleich zur Erosion der demokratischen Strukturen Israels bei. Denn Israel muss dadurch als demokratischer Rechtsstaat in zwei sich widersprechenden Gewaltordnungen zugleich existieren: Israel gibt seinen Bürgern als demokratischer Rechtsstaat das Versprechen, auf Gewaltlosigkeit vertrauen zu können, darauf, gewaltfrei und in Würde zusammenzuleben...Israel kann dieses Versprechen aber gegenüber den Palästinensern nur schwer einhalten, solange es... in der Ordnung des Ausgleichs sein Existenzrecht de facto nur behaupten kann, wenn es in der Auseinandersetzung mit den arabischen Staaten und den Palästinensern auf die eigene Gewaltfähigkeit vertraut."

Der autoritäre venezolanische Präsident Nicolás Maduro erhebt den Anspruch auf seinen Nachbarstaat Guyana und ließ sich das durch eine fragwürdige Volksabstimmung bestätigen. In diesem Konflikt gehe es vor allem um die Öl-Funde in Guyana (US-Ölkonzern Exxon Mobil besitzt die Förderlizenzen), und um ein Verfahren vor dem von Guyana angerufenen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der über die Grenze zwischen Guyana und Venezuela entscheiden soll, berichtet Sandra Weiss im Tagesspiegel. Gleichzeitig wolle der unbeliebte Maduro mit diesem Thema Unterstützung für die nächste Präsidentschaftswahl erzeugen: "Ähnlich sieht das Rocío San Miguel: 'Der Konflikt mit Guyana zeigt, wie bedroht sich die venezolanische Regierung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024 fühlt.' Der Konflikt könnte zur Ausrufung des Ausnahmezustands führen, der wiederum die Aussetzung der Wahlen bedeuten könnte, meint die Sicherheitsexpertin. Für Phil Gunson scheint es keinen klaren Weg für die venezolanische Regierung zu geben, ihre Versprechen bezüglich der Einnahme von Essequibo einzuhalten: 'Es sei denn, der IGH entscheidet auf wundersame Weise zu Gunsten Venezuelas oder die venezolanische Regierung ergreift militärische Maßnahmen, um die Region zu erobern." Beides hält er für unwahrscheinlich.'"
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Kulturpolitik

In der SZ bittet Gerhard Polt in einem Brief an die "Sehr geehrte Frau Baerbock", sich das mit der Schließung einiger Goetheinstitute in Frankreich und Italien doch nochmal zu überlegen: "Die Kosten generieren doch keine Albträume, geehrte Frau Baerbock, wenn man weiß, dass sich diese à la longue auszahlen! Unser Land, so hört man, möchte vielen ausländischen Fachkräften eine Heimstatt bieten. Das Goethe-Institut wäre doch der beste Lockvogel, um diesen Menschen zu zeigen, dass weder unsere Sprache noch unser Gebaren ein Catenaccio sind. Ja, wie wär's denn gar, wenn man das Pferd von hinten aufzäumen würde: doppelt und dreifach investieren in die maroden Institute, sie ausstatten mit den modernsten digitalen Mitteln!"

Auf Qantara findet der deutsche Islamwissenschaftler Stefan Weidner den Vorwurf des Antisemitismus oft rassistisch: Weil er vor allem gegen nicht-weiße Menschen erhoben wird, schreibt er und zählt auf: Achille Mbembe, Bonaventure Ndikung, Adania Shibli, Sharon Dodua Otoo, die aus Bangladesch stammenden Kuratoren der Biennale für aktuelle Fotografie, der Kunstkritiker Ranjit Hoskote. "Während Frauen, Nicht-Weiße, Jüdinnen und Juden in dieser Debatte verstärkt aufs Korn genommen werden, war der letzte prominente weiße Mann, dem massiv Antisemitismus vorgeworfen wurde, Hubert Aiwanger. Das war vor dem 7. Oktober, und Aiwanger ist nicht gecancelt worden, im Gegenteil. Seine Partei Freie Wähler hat bei der letzten Landtagswahl mit 15,8 Prozent mehr Stimmen bekommen als je zuvor." Weidner fordert nun eine Rehabilitation der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit", denn "sie lehnt den BDS ab, stellt sich jedoch ebenfalls gegen einen Boykott der Boykotteure. Gewiss: Das fordert der gegenwärtigen deutschen Politik und ihren Medien einiges an Selbstdisziplin ab. Mit dem Finger auf Andersaussehende und Andersdenkende zu zeigen, ist ein Mittel, um sich beliebt zu machen. Wenn die gemeinsame Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus keine leere Phrase sein soll, verzichtet man jedoch besser darauf."
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