9punkt - Die Debattenrundschau

Erst kommt die Macht, dann die Moral

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2023. Morgen erhält die erneut inhaftierte iranische Journalistin Narges Mohammadi den Friedensnobelpreis, sie hat massive Gesundheitsprobleme, weiß Mariam Claren in der FR. Die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge wäre der Selbstmord Israels, sagt Michael Wolffsohn im taz-Gespräch, in der NZZ plädiert er für eine "sanfte Befriedung" der Palästinenser nach der Zerschlagung der Hamas. Ebenfalls in der taz fragt der Historiker Philipp Lenhard, weshalb es die Linke so kalt ließ, als die Palästinenser gegen die Elendsherrschaft in Gaza auf die Straße gingen. Und in der SZ ruft der Verfassungsrechtler Christoph Möllers: Keine Angst vor einem AfD-Verbot.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.12.2023 finden Sie hier

Politik

Am Sonntag erhält die iranische Journalistin Narges Mohammadi den Friedensnobelpreis, aktuell sitzt sie wieder im berüchtigten Evin-Gefängnis. Im FR-Gespräch spricht Mariam Claren, Tochter der seit mehr als drei Jahren ebenfalls inhaftierten Frauenrechtlerin Nahid Taghavi über den Gesundheitszustand ihrer Mutter und über den von Mohammadi. Taghavi "ist 69 und chronisch krank. Leider wird ihr ein Hafturlaub, der ihr nach der Verbüßung eines Drittels ihrer Strafe eigentlich zusteht, nicht genehmigt. Narges Mohammadi geht es noch schlechter - sie hat verengte Herzarterien und massive Gesundheitsprobleme, weil sie sich aber geweigert hat, ein Kopftuch zu tragen, hat die Gefängnisbehörde ihr lange vorenthalten, im Krankenhaus behandelt zu werden. Erst auf internationalen Druck wurde das dann doch genehmigt. Narges Mohammadi darf deswegen momentan nicht telefonieren." Die Iran-Politik der Ampel-Koalition nennt sie "katastrophal. Öffentlich sagen der Kanzler und die Außenministerin ihre Solidarität zu, rufen 'Frau, Leben, Freiheit!' und kritisieren den Iran - aber in der Diplomatie hinter den Kulissen geschieht zu wenig."

Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur würdigt in der SZ Mohammadi, die unter schwersten Bedingungen eine Dokumentation über die systematische Anwendung von "Weißer Folter" gedreht hat: "Die geht so: Der oder die Gefangene wird in einen Raum gesteckt, in dem es keine Farben gibt. Die Zelle ist weiß, die Wände, die Decke, die Kleidung des Gefangenen. Weißes Licht, 24 Stunden am Tag. Das Essen ist weiß, Reis ohne Salz und Gewürze, um dem Gefangenen die Geschmacksempfindungen zu nehmen. Die Zelle ist schallisoliert, man hört nur sich selbst. Die Wärter, die das Essen bringen, sagen nichts und tragen gepolsterte Schuhe für einen lautlosen Gang. Alle Oberflächen in der Zelle sind glatt, um dem Gefangenen die Berührungsempfindungen zu nehmen. Weiße Folter oder auch White Room Torture zielt ab auf vollkommene sensorische Deprivation und Isolation, davon erzählen Narges Mohammadis Film 'White Torture' und eine schriftliche Dokumentation der Folter, für die sie nun im Gefängnis sitzt."

Der Angriff der Hamas habe ihn nicht überrascht, sagt der Historiker Michael Wolffsohn im großen taz-Gespräch, in dem er von einer "selbstmörderischen Strategie" der Palästinenser spricht und fragt, weshalb sich die Wut der Palästinenser nicht gegen ihre Führung richtet. Gründe für das Scheitern einer Lösung im Nahost-Konflikt sieht er auf beiden Seiten: "Es gab im September 2008 von Ministerpräsident Olmert, der Scharon nachfolgte, wieder das Angebot, das Westjordanland zu räumen, der Gazastreifen war es ja schon. Darauf ließ der Palästinenserpräsident durchblicken, dass die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge die Voraussetzung wäre. Aber wer sind die Vertriebenen? Im Unabhängigkeitskrieg 1947/48 waren es 700.000 Menschen. Heute sind es mehr als 5  Millionen. Die Angaben schwanken. Das wäre der Selbstmord Israels und die totale Negierung des zionistischen Gründungsmoments, nämlich dass die Juden in ihrem Staat keine Minderheit sind. In dem Augenblick, wo die jüdische Bevölkerung die Minderheit ist, wäre die Situation in Zion identisch wie sie 2.000 Jahre in Europa war, und genau das wollte man verhindern. Ja, klar, man kann fragen, warum akzeptieren die Juden es nicht, wenn sie Minderheit sind. Dann antworte ich: Sie hatten 2.000 Jahre einfach schlechte Erfahrungen damit."

Die Hamas hatte auf den Iran gesetzt, aber für den Iran ist die Hamas nicht mehr als "Kanonenfutter" bis zwischen Israel und dem Iran ein nukleares Gleichgewicht besteht, schreibt Wolffsohn heute außerdem in einem Essay in der NZZ, in dem er auf die totale Vernichtung der Hamas und in Folge auf eine "Umerziehung" der Palästinenser baut: "Warum soll dem militärisch hegemonialen Israel zudem nicht gelingen, was den Alliierten gegen das NS-Regime gelang? Zunächst 'Zusammenbruch' und Kapitulation, dann - im deutschen Westen - sanfte Befriedung durch ökonomische Befriedigung, es folgt die Umerziehung, basierend auf der normativen Kraft der faktischen Siegermacht, dann funktionierende und später gar vollkommen verinnerlichte Demokratie. Daraus folgt nüchtern und für viele ernüchternd: Erst kommt die Macht, dann die Moral. Gewiss, Palästina ist nicht Deutschland, aber soll das heißen:'Palästinenser sind andere Menschen als Deutsche'? Vermag 'der' Palästinenser, anders als 'der' Deutsche, nicht zu erkennen, dass Koexistenz und Wohlstand lebenswerter sind als Mord und Selbstmord?"

Ebenfalls in der taz blickt der Historiker Philipp Lenhard nochmal auf den Israelhass der Linken: "Für die realen Palästinenser dagegen interessieren sich viele 'Free Palestine'-Aktivisten überhaupt nicht. Schließlich müsste es sonst ihr erstes Interesse sein, die Hamas loszuwerden. In den Wochen und Monaten vor 10/7 sind Palästinenser gegen die korrupte Elendsherrschaft in Gaza auf die Straße gegangen und haben dabei Leib und Leben riskiert. Ihre vermeintlichen Unterstützer im Westen hat das kalt gelassen. Ihre Leidenschaft entflammt erst, wenn Israel dämonisiert werden kann. Doch auch die realen Israelis sind den Palästina-Aktivisten vollkommen egal. Werden jene gedemütigt, gefoltert, vergewaltigt und massakriert, entlockt ihnen das nicht mehr als ein Achselzucken."

In der taz sendet Sophia Zessnik eine Reportage aus Chile, wo erneut über die Verfassung abgestimmt werden soll, nach dem ein reformierter Entwurf im Jahr 2022 scheiterte. "2020 begann der Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, von der sich viele Chile*innen maßgebliche Änderungen erhofften: Mehr Rechte für die indigene Bevölkerung Chiles, besonders für die Mapuche, denen ein Großteil ihres Landes geraubt wurde. Auch mehr Rechte für Frauen und Queers sowie Grundrechte wie einen niedrigschwelligen Zugang zu Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und Pflege sollten garantiert, zudem der Umweltschutz gestärkt werden. 2022 dann der herbe Schlag: In einem Referendum stimmte die Mehrheit gegen den neuen Verfassungsentwurf. Rechte Desinformationskampagnen schürten vorab die Ängste der Menschen, in sozialen Medien kursierten Verschwörungsideologien und Falschmeldungen, um eine vermeintlich 'kommunistische Diktatur'." Den aktuellen Entwurf wollen viele Linke ablehnen: Er "wurde diesmal mehrheitlich von Vertreter*innen rechter Parteien ausgearbeitet, die unter anderem das Abtreibungsrecht noch weiter einschränken wollen."
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Europa

Der Politologe Albrecht von Lucke hatte vor einigen Wochen in der SZ eingeräumt, dass ein AfD-Parteiverbot ein Zeichen von Schwäche der demokratischen Parteien sei. (Unser Resümee). "Folgt aus dieser Diagnose allein, dass man das Verfahren nicht einsetzen darf? Das wäre doch ein seltsamer Schluss von der Hilf- auf die Tatenlosigkeit", meint ebenfalls in der SZ der Verfassungsrechtler Christoph Möllers. Die Dauer eines solchen Verfahrens sei ernst zu nehmen, aber: "Auf der anderen Seite hat ein Verbotsverfahren erst einmal den Zweck, zu markieren, dass eine bestimmte Form von Politik nichts mehr mit den Grundlagen des Grundgesetzes zu tun hat. Und auf diese Markierung einfach zu verzichten, wäre politisch auch gefährlich. Man hat ein wenig das Gefühl, dass die demokratischen Parteien Angst davor haben, das Mittel eines Verbotsverfahrens zu diskutieren, anstatt es als eine Option zu behandeln. Eine Option aus Furcht vor den Folgen auszuschließen, ohne diese Folgen wirklich abgeschätzt zu haben, ist aber nie richtig. Wir brauchen eine Debatte darüber, ob man dieses Instrument benutzen will. Es genügt nicht, einfach einen Verbotsantrag zu stellen und den Rest dem Gericht zu überlassen."

In der NZZ schickt Irina Rastorgujewa ihre monatliche "Presseschau des Wahnsinns" aus Russland. "Die Staatsduma hat die Schaffung eines eigenen Internets mit 'traditionellen Werten' vorgeschlagen", erfahren wir: "Der Abgeordnete Dmitri Gussew sagte, dass ein solches Internet 'eine Cyberumgebung mit eigenen Regeln und Gesetzen, einer Cyberpolizei und einer Cyberarmee' haben sollte. Auf der Moskauer KI-Konferenz Ende November verkündete Wladimir Putin, dass künstliche Intelligenz, die nach westlichen Standards kreiert worden sei, 'xenophob sein könnte', und warnte vor der digitalen 'Auslöschung Russlands und seiner Kultur'." Und: "Fast die Hälfte der Russen, die einen Kredit aufgenommen haben, können ihn nicht zurückzahlen. Der eingezogene Gesamtbetrag hat die Höhe von 2,9 Billionen Rubel erreicht. Im Vergleich zum letzten Jahr ist die Zahl der Schuldner um 22 Prozent gestiegen. Insgesamt haben jetzt 47 Millionen Russen einen Kredit. In Burjatien sind die Einwohner gezwungen, Kredite aufzunehmen, um Brennholz zu kaufen. Sie haben sonst nichts, womit sie sich im nächsten Winter wärmen könnten."

In der Welt erinnern die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola daran, trotz der gegenwärtigen Kriege Belarus nicht zu vergessen. Nach wie vor "ist das Leben in Belarus von ständigen Einschüchterungen und Drohungen geprägt. Das belarussische Volk lebt unter der Knute eines Regimes, das Menschen wegen frei erfundener Anschuldigungen ins Gefängnis wirft. Rechtsanwälten wird unter dem Vorwurf des betrügerischen Fehlverhaltens ihre Lizenz entzogen." Aber: "Die Versuche, abweichende Meinungen zu unterdrücken, wirken zunehmend verzweifelt. Trotz der Unterdrückung stellt das belarussische Volk sein Streben nach Freiheit und Demokratie weiter mit unerschütterlichem Engagement unter Beweis." Sie fordern eine Unterstützung der Zivilgesellschaft und "verstärkte Sanktionen der EU gegen das unrechtmäßige Lukaschenko-Regime wegen seiner Verbrechen und seiner Verstrickung in die Aggression Russlands gegen die Ukraine."

Wie soll Deutschland auf antisemitische Schmierereien reagieren, fragt der Historiker Hubertus Knabe in der FAZ und rät zum Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte, als Ende der Fünfziger verstärkt antisemitische Aktionen in Deutschland auftauchten: "Polizei und Justiz reagierten damals rasch und entschieden. Sechs Wochen nach der Schmieraktion in Köln verurteilte das Landgericht den Hauptverantwortlichen zu 14 und seinen Mitstreiter zu zehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung. Die Jüdische Gemeinde wurde ermächtigt, das Urteil auf Kosten des Täters in der Lokalpresse zu veröffentlichen. Auch in vielen anderen Fällen folgte die Strafe auf dem Fuß. Über den jungen Mann, der in Westberlin 'Juden raus' geschrieben hatte, verhängte ein Schnellgericht des Amtsgerichts Tiergarten schon am nächsten Tag zehn Monate Gefängnis. Von 199 ermittelten Tätern waren Ende Januar bereits 63 verurteilt - offenbar genug, um ein Ende der antisemitischen Welle zu bewirken. Fragt man heute in Dortmund nach dem Stand der Ermittlungen zu den Davidsternen vom 12. Oktober, bekommt man dagegen nur eine nichtssagende Antwort."

In der FAS blickt der Militärhistoriker Sönke Neitzel zum Ende des Jahres auf den Zustand der Bundeswehr: "Sind die Streitkräfte 'kriegstüchtig'? Können sie ihren Auftrag erfüllen und in einem zwischenstaatlichen Krieg einen wesentlichen Beitrag zur Verteidigung des Bündnisgebietes leisten? Die Antwort ist ernüchternd: Müsste die unter deutscher Führung in Litauen stehende NATO-Battlegroup morgen in einem dem Ukraine-Krieg ähnlichen Szenario kämpfen, würden die Soldaten nicht lange überleben. Ohne eine hinreichende Zahl von Drohnen, ohne wirkungsvolle Drohnenabwehr, ohne die Möglichkeit, russische Hubschrauber zu bekämpfen, ohne ausreichend kriegsnahe Ausbildung im mehrdimensionalen Gefecht der verbundenen Waffen, ist die Bundeswehr auf den modernen Konflikt kaum vorbereitet."
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Ideen

Die FR bringt ein Spezial zum 75-jährigen Jubiläum der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte". So düster, wie man aktuell meinen könnte, sieht es nicht aus, meint der Völkerrechtler Mehrdad Payandeh im Gespräch mit Ursula Rüssmann: "Nehmen Sie die Gleichstellung von Mann und Frau, da sehen wir in den letzten 75 Jahren unzweifelhaft sehr positive Entwicklungen. Vor allem in Europa, aber auch global. Beim Schutz von Minderheiten sieht es etwas schwieriger aus, aber auch da hat sich einiges verbessert. Wir haben auch ganz eindeutige Erfolge: etwa bei der Todesstrafe." Große Herausforderungen sieht er allerdings hinsichtlich der Klimakrise oder mit Blick auf das Erstarken autoritärer Regime. Und: "Enorme Sorgen macht mir die Migrationspolitik, die zunehmende Abschottung und das unerträgliche Sterben im Mittelmeer. Das ist die ganz große menschenrechtliche Achillesferse Europas. Sie beschädigt die globale Glaubwürdigkeit der EU nachhaltig."
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Kulturpolitik

Gestern hat der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Rundumerneuerung beschlossen, berichtet Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Im Kern geht es um die vom Wissenschaftsrat aufgegebene Stärkung der Staatlichen Museen, denen größere Autonomie und Eigenverantwortung angetragen wird. Vor dem Stiftungsrat entwarf der Interimsvorstand eine 'Vision 2030', die den Wandel der Museumswelt in der allernächsten Zukunft in den Blick nehmen soll. Der Name Interimsvorstand signalisiert einen organisatorischen Übergang, gerade auch gegenüber der Presse legte man zuletzt großen Wert darauf, den partizipativen, von vielen Mitarbeitern gelebten Prozess kenntlich zu machen. Zur Forcierung der Neuorganisation, die bis 2025 abgeschlossen sein soll, sind nun fünf Museumsteams gebildet worden, die an den Standorten Museumsinsel, Hamburger Bahnhof und Humboldt-Forum/Dahlem ihren spezifischen Fragestellungen nachgehen sollen. Für das Kulturforum am Potsdamer Platz sind gleich zwei Teams gebildet worden."

Über die Finanzierung wurde indes nicht gesprochen, kommentiert Andreas Kilb in der FAZ: "Die größte europäische Kulturstiftung ist chronisch unterfinanziert. Im Moment liegt ihr Jahresbudget bei etwa 370 Millionen Euro; das ist nur ein Drittel von dem, was einem vergleichbaren Verbund wie der Smithsonian Institution in Washington zur Verfügung steht, und kaum mehr als das, was allein der Louvre jährlich ausgibt. Eine Münchner Beratungsfirma hat den Mehrbedarf der SPK mit mindestens 66 Millionen Euro beziffert. Man kann es auch in Personal ausdrücken: der Stiftung fehlen 400 Stellen, um das zu leisten, was die Öffentlichkeit zu Recht von ihr erwartet."
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