9punkt - Die Debattenrundschau

Kommen Sie raus!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2023. Die deutschen und polnischen Erinnerungspolitiken sind "rechts" und verstellen den Blick auf israelische Verbrechen, behauptet Masha Gessen im New Yorker. In der taz geißelt Laith Arafeh, Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland, die Selbstverteidigung Israels in Gaza als Verbrechen. Die NZZ erinnert an die Demonstrationen auf dem Maidan, die vor zehn Jahren die Demokratisierung der Ukraine einleiteten. In Oslo fragte die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi laut FAZ aus dem Evin-Gefängnis heraus, wann der Westen endlich die Demokratiebewegung in Iran unterstützen will. Und die in Afghanistan, setzt Hourvash Pourkian in hpd nach. Und die in Hongkong, fordert Agnes Chow im Spiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Im New Yorker erzählt die renommierte Autorin Masha Gessen, wie sie in Berlin das Jüdische Museum besucht, wo sie vor einem Kunstwerk über den Holocaust folgenden Gedanken hat: "Ich dachte an die Tausenden von Bewohner des Gazastreifens, die als Vergeltung für das Leben der von der Hamas getöteten Juden getötet wurden. Dann ging mir durch den Kopf, dass ich, wenn ich das in Deutschland öffentlich sagen würde, womöglich Ärger bekäme." Die Debatte um BDS, Antisemitismus und die Singularität des Holocaust dauert nun seit Jahren, Gessen schreibt einen der krassesten Texte auf der Seite der Israelkritik: "Wie die Erinnerungspolitik in Europa verdeckt, was wir heute in Israel und Gaza sehen", ist der Untertitel eines Artikel, in dem sie sich mit der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Polen und der Ukraine auseinandersetzt und zu dem Ergebnis kommt, dass das deutsche Bestehen auf der Singularität des Holocaust verhindert zu sehen, dass nun die Israelis Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, die denen der Nazis gleichkommen. Der BDS-Beschluss des Bundestags sei mehr oder weniger durch eine Initiative der AfD zustandekommen und überhaupt präsentiert sie Erinnerungspolitik in Deutschland und Polen als eine von rechtspopulistischen Parteien beeinflusste Manipulation: "Die Kriege zur Erinnerung an den Holocaust in Polen verlaufen parallel zu denen in Deutschland. Die Ideen, die in den beiden Ländern ausgefochten werden, sind unterschiedlich, aber ein einheitliches Merkmal ist die Beteiligung rechter Politiker in Verbindung mit dem Staat Israel." Den Polen wirft sie vor, den Historiker Jan Tomasz Gross schikaniert zu haben, "weil er geschrieben hatte, dass Polen mehr polnische Juden umgebracht haben als Deutsche". Folge dieser von Gessen diagnostizierten Blindheit in Deutschland und Polen, ist, dass Netanjahu straflos eine genozidale Politik verfolgen könne: "Netanjahu hat die Hamas-Morde auf dem Musikfestival mit dem 'Holocaust durch Kugeln' verglichen. Dieser Vergleich, der von führenden Politikern der Welt, einschließlich Präsident Biden, weiterverbreitet wurde, dient dazu, Israels Kollektivstrafen gegen die Bewohner des Gazastreifens zu begründen. Genauso wie Putin, der die Ukraine durch die Verwendung der Begriffe 'Nazi' oder 'Faschist' als so gefährlich darstellt, dass Russland berechtigt ist, ukrainische Städte mit Teppichbomben zu zerstören, das Land zu belagern und ukrainische Zivilisten zu töten."
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Politik

Im Interview mit der taz will Laith Arafeh, Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland, nichts hören von einer Verantwortung der Hamas für den Krieg in Gaza oder überhaupt von einem Verbrechen der Hamas. Für ihn ist Israel schuld, und nur Israel: "Wenn das Verbrechen, das Israel begeht, Selbstverteidigung ist, dann ist dieses Wort für immer verbrannt. Dieses Argument trägt nur dazu bei, internationales Recht zu diskreditieren, das nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde, um genau solche Verbrechen zu verhindern."

In Oslo wurde der Friedensnobelpreis an die iranische Menschenrechtlerin Narges Mohammadi verliehen. Da Mohammadi gerade eine 5-jährige Gefängnisstrafe im Teheraner Evin-Gefängnis absitzt, nahmen ihre beiden in Paris lebenden Kinder den Preis entgegen und verlasen die Nobelpreisrede, die ihre Mutter im Gefängnis geschrieben hatte, berichtet Friederike Böge in der FAZ. "Darin kritisiert sie 'westliche Regierungen', deren Strategien auf eine Fortdauer des iranischen Regimes ausgerichtet seien. Zugleich rief Mohammadi die 'globale Zivilgesellschaft' auf, den gewaltlosen Kampf der Bevölkerung 'konkreter' zu unterstützen. Sie äußerte die Hoffnung, dass ihr Nobelpreis die Demokratiebewegung in Iran stärken werde. Die Legitimität der Islamischen Republik sei noch nie so gering gewesen wie heute. Mohammadi beschrieb die 'Frau. Leben. Freiheit'-Bewegung als Fortsetzung von Protestbewegungen der vergangenen 35 Jahre."

Auch die afghanische Menschenrechtsaktivistin Hourvash Pourkian und die Anwältin Jacqueline Ahmadi setzen sich im Interview mit hpd vehement für mehr Unterstützung der Frauen - diesmal in Afghanistan - ein, die der Westen fallen gelassen zu haben scheine. "Ich bin der Meinung, dass zu wenig über die Situation der Frauen in Afghanistan und dem Iran gesprochen wird", kritisiert Pourkian. "Ich arbeite seit Jahren an der Frage, wie können wir Frauen mobilisieren? Ich sehe keine andere Lösung, als dass sich Frauen auf der ganzen Welt zusammentun und weltweit auf die Straße gehen - ähnlich wie der 'Women's March' als Donald Trump gewählt wurde. Ich wünschte mir, dass Frauen weltweit an einem Strang ziehen würden, dass sich Frauen auch hier in Deutschland solidarisieren würden mit den Frauen in diesen Ländern. Wenn wir uns verbünden, können wir eher etwas erreichen. Nicht nur im Iran und in Afghanistan, in allen islamischen Ländern, sogar in Indonesien, was bisher als tolerant galt, schleicht sich die Islamisierung ein."

Im Spiegel-Interview mit Cornelius Dieckmann spricht die führende Hongkonger Oppositionelle Agnes Chow über ihre Festnahme während der Proteste in Hongkong 2020, welche auf der Grundlage des von der chinesischen Regierung verabschiedeten Nationalen Sicherheitsgesetzes geschah: "Die Haft war schlimm, aber noch schlimmer war die Festnahme. Ich werde die Rufe der Nationalen Sicherheitspolizei vor meiner Tür nie vergessen: Kommen Sie raus! Dann haben sie das Schloss aufgebrochen und die Wohnung durchsucht. Sie konfiszierten meine Dokumente, mein Handy, meinen Computer, meinen Pass. In meinem Leben wurde ich dreimal festgenommen, aber nichts ist vergleichbar mit der Festnahme unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz. Wenn sie dich damit holen, weißt du nie, wann sie dich wieder freilassen." Nach ihrer Haft reiste sie nach Kanada aus. Die chinesische Regierung habe derweil Hongkong zu einer chinesischen Stadt wie jede andere gemacht: "Es fällt mir schwer zu sagen, dass Hongkong nicht mehr Hongkong ist, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Regierung sich von allem abgewandt hat, was sie einst propagierte. Das Versprechen 'Ein Land, zwei Systeme', die Garantie von Autonomie, die Gewaltenteilung. Die Regierungen in Peking und Hongkong behaupten zwar, Hongkong sei ein Rechtsstaat, aber das Gesetz, in dem steht, dass man Menschen gegen ihren Willen nach China bringen darf, will ich mal sehen."

Noch vor wenigen Jahren inszenierte sich Putin als zuverlässigster Partner Israels, nach dem 7. Oktober stellte Russland jedoch im UN-Sicherheitsrat Israels Recht auf Selbstverteidigung in Frage, erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter am Leibniz Institut Mikhail Polianskii, der 2018 und 2019 ein Praktikum im russischen Außenministerium absolvierte, in der FR. Putin motivierten dabei die Möglichkeit westliche Staaten in ihrer Unterstützung für die Ukraine zu schwächen und sich als Führer der unterdrückten "globalen Mehrheit" zu inszenieren. "Dennoch hat Russland kaum ein Interesse an einem größeren regionalen Krieg. Sollte die Situation eskalieren, wäre Moskaus Position in der Region, vor allem in Syrien, bedroht. Da sein Militär in der Ukraine gebunden ist, verfügt der Kreml über keine freien Ressourcen, die er zur Stärkung seiner Präsenz in der Region einsetzen könnte. (...) Indem Moskau die Flammen des israelisch-palästinensischen Krieges weiter anfacht, riskiert es zudem, eine Büchse der Pandora innerhalb seiner eigenen Grenzen zu öffnen, wie die Welle des Antisemitismus zeigt, die Anfang des Jahres in Dagestan zu beobachten war. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, würde der Kreml eine Spaltung seiner Gesellschaft riskieren, die möglicherweise seine Kriegsanstrengungen in der Ukraine untergraben könnte."
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Überwachung

Das kürzlich verabschiedete Gesetzespaket der EU, der sogenannte "AI-Act", bietet der Polizei einige Schlupflöcher, um KI zur Überwachung von Menschen einzusetzen, erklärt der Geschäftsführer der NGO  "AlgorithmWatch" Matthias Spielkamp im Spiegel-Interview mit Max Hoppenstedt. Dies könnte für Geflüchtete gefährlich werden: "Ein KI-Programm könnte etwa vorhersagen, wo an einer Grenze zu einer bestimmten Zeit eine Gruppe von Geflüchteten auftauchen wird - und dann erhöht man da eben den Zaun oder setzt mehr Polizei ein. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass durch solches sogenanntes Predictive Policing Minderheiten diskriminiert oder ausgegrenzt werden. Die EU-Kommission, das Parlament und der Rat schlagen sich gern auf die Brust und sagen, dass sie ein wertebasiertes Gesetz geschaffen haben. Aber Menschenrechte stehen bei diesem Gesetz offenkundig nicht an erster Stelle."
Archiv: Überwachung

Europa

In der NZZ erinnert Ulrich Schmid an die Demonstrationen auf dem Maidan gegen den ukrainischen, russlandhörigen Präsidenten Janukowitsch, die vor zehn Jahren starteten. Damals gingen Hunderttausende gegen Korruption, für die EU und mehr Demokratie auf die Straße. Bald wurden  Aktivisten von Scharfschützen des Regimes getötet, in der Mehrzahl junge Männer." Danach sei besonders Russland darauf bedacht, die Proteste als "inszeniert" darzustellen: "Beleidigend ist schließlich die Behauptung, der Westen, vor allem Amerika, habe die Revolution 'gemacht'. So kann nur reden, wer nicht vor Ort war. Die Annahme, dass es sich bei den Demonstranten um bezahlte, 'gedrehte' Anhänger Janukowitschs gehandelt habe (seine Gegner hätte man ja nicht zu bezahlen brauchen), ist albern. Vor allem aber verrät sie alte koloniale Reflexe: Wer die Ukraine nicht als 'wirkliches' Land betrachtet, traut ihr auch nicht zu, Eigenständiges zu produzieren, weder gute Politik noch gute Wirtschaft, eine Revolution schon gar nicht. Manche Russen neiden den Ukrainern im Stillen ihre Revolution. Hätten wir doch so etwas fertiggebracht!"
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Stichwörter: Maidan

Digitalisierung

Von der digitalen Patientenakte wird nur ein Bereich profitieren: die wissenschaftliche und industrielle Forschung, die Zugriff auf die anonymisierten Patientendaten bekommen soll, ist in der taz Svenja Bergt überzeugt. Patienten werde die Akte eher weniger nützen: "Denn bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss wurde kürzlich ein entscheidendes Detail deutlich: Ob die Behandler dazu verpflichtet werden, die Daten aus der elektronischen Patientenakte zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, ist längst nicht ausgemacht. Realistisch betrachtet ist es extrem unwahrscheinlich, dass eine solche Pflicht kommen wird. Denn die Ärzteschaft wird sich mit allen Mitteln dagegen wehren. Das ist nachvollziehbar: Schließlich haben die wenigsten von ihnen Extrazeit, um sorgfältig lange Datenreihen durchzugehen oder zurückliegende Diagnosen zu durchforsten. Ganz abgesehen von dem Haftungsrisiko, falls jemand etwas übersieht."

In der FAZ denkt Dietmar Dath über die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz nach, deren Auslotung durch Dichter - und somit erfahren in der "Welterschaffung" - er am vielversprechendsten findet.
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