9punkt - Die Debattenrundschau

Ein scharfes Denkvermögen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2023. Masha Gessen bekommt den Hannah-Arendt-Preis - aber nicht die geplante Preisverleihung am Freitag, denn Böll-Stiftung und Stadt Bremen haben sich von der Veranstaltung zurückgezogen, melden Zeit online und taz. Der "Verein Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V." nimmt das mit Bedauern zur Kenntnis und kündigt eine Preisverleihung für Samstag an. FAZ-Redakteur Claudius Seidl findet den Satz "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland", der im neuen CDU-Grundsatzprogramm stehen soll, "unscharf und unverschämt zugleich". Der Historiker Jörn Leonhard erzählt in der Zeit, wie schwierig es ist, Kriege zu beenden, vor allem in den Köpfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken an Masha Gessen, die morgen in Bremen stattfinden sollte, ist abgesagt. Gestern schickte die Böll-Stiftung eine Pressemitteilung, dass sie sich "aus der Veranstaltung zur Preisverleihung zurückzieht". Grund ist die Kritik an Gessens New Yorker-Essay (unsere Resümees). Gessen kritisiert dort, dass deutsche Gedenkpolitik den Blick auf die Geschehnisse im Gazastreifen versperre. Die Böll-Stiftung stört sich vor allem an einer Passage über den Gazastreifen als "Ghetto": "Sie impliziert, dass Israel das Ziel hat, Gaza wie ein Nazi-Ghetto zu liquidieren. Diese Aussage ist kein Angebot zur offenen Diskussion, sie hilft nicht, den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen. Diese Aussage ist für uns nicht akzeptabel und wir weisen sie zurück." Auch andere Träger des Preises ziehen sich zurück, teilt die Bremer Grünen-Politikerin Helga Trüpel auf Twitter mit: "Böll Stiftung Bremen und Bund und Bremer Senat haben sich aus der Preisverleihung verabschiedet."

Auch Zeit online berichtet über die Absage und zitiert aus einem offenen Brief der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen, der zur Absage des Preises auffordert: "Es ist uns unbegreiflich, wie ein/e so erfahrene/r Wissenschaftler:in wie Masha Gessen, die sich so große Verdienste um die kritische Analyse des russischen Imperialismus erworben hat, ernsthaft Gaza mit den Vernichtungs-Ghettos der Nazis gleichsetzen kann." Auch zwei Gründungsmitglieder des Vereins Hannah-Arendt-Preis haben laut Zeit schon am Montag die Absage des Preises gefordert: "Lothar Probst und Helga Trüpel schreiben, Masha Gessen habe sich 'mit Äußerungen zum Nahost-Konflikt in einer Art und Weise disqualifiziert, die alle an der Preisverleihung Beteiligten, vor allem aber die deutsch-jüdische Denkerin Hannah Arendt, diskreditieren würde'."

Offenbar ist aber nur die Preisverleihung abgesagt, und der Preis wird Gessen nicht aberkannt, berichtet Benno Schirrmeister in der taz: "Masha Gessen erhält den Hannah-Arendt-Preis - aber weder Bürgermeister-Grußwort noch Rathaus-Empfang." Schirrmeister zitiert Peter Rüdel vom Verein Hannah-Arendt-Preis, der sich anders als Trüpel und Probst ein Festhalten an der Preisverleihung gewünscht hätte: Es sei "aus seiner Sicht weder denkbar, noch gerechtfertigt, die Preisvergabe zu canceln. 'Dieser Festakt ist eine Gelegenheit, um solche Kontroversen auszutragen. Was, wenn nicht das, ist politisches Denken.' Hinzu kommt: Einen einmal zugesprochenen Preis abzuerkennen, ist bereits rechtlich unzulässig. Es käme einer Ent-Ehrung gleich - und würde die Meinungsfreiheit der Juror*innen beschneiden. 'Wir fühlen uns als Vorstand des Vereins an die Entscheidung der Jury gebunden', sagt dementsprechend Rüdel." Mehr bei der SZ.

Ganz scheint der Streit jedenfalls nicht ausgestanden zu sein, denn auf der Seite des "Vereins Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V." wird der Rückzug von Böll-Stiftung und der Stadt Bremen mit Bedauern zur Kenntnis genommen: "Der 'Hannah Arendt Verein für politisches Denken' ist eine unabhängige Institution, die von der Heinrich Böll Stiftung und vom Senat der Hansestadt gefördert wird. Der Verein ist keine Stiftung der Heinrich Böll Stiftung. Wir finden es bemerkenswert, dass der öffentliche Streit um das Verstehen und das Be- und Verurteilen der Terrorangriffe der Hamas auf Israel und der Bombardierung Gazas durch Israel dadurch blockiert wird, dass eine politische Denkerin boykottiert wird, die darum bemüht ist, Kenntnis, Einsicht und ein scharfes Denkvermögen in diesen Streit einzubringen. Der 'Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken' steht für eine offene Streitkultur, für das Zulassen und das Aushalten von Kontroversen, für unangenehme Einsichten, neue Verständnisweisen und kenntnisreich geführte öffentliche Debatten."
Archiv: Ideen

Internet

Nicht alarmistisch klingt, was der Virtual-Reality-Pionier und Intenetkritiker Jaron Lanier im Interview mit Götz Hamann und Jakob von Lindern von der Zeit zu KI-Programmen wie ChatGPT sagt: "Wir sollten diese Software nicht als Wesen oder Kreatur betrachten. Ich will keinem vorschreiben, was er oder sie denkt, aber ich finde, es bringt uns mehr, wenn wir ChatGPT und andere Large Language Models als das beschreiben, was sie derzeit sind: Sie ermöglichen eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Menschen. Wir geben der Software einen Befehl, und sie führt ihn aus und greift dabei auf das zurück, was schon einmal geschrieben, gedacht, programmiert wurde."
Archiv: Internet
Stichwörter: ChatGPT, Lanier, Jaron

Gesellschaft

Auch in Deutschland hatte die Befragung dreier amerikanischer Universitätspräsidentinnen durch die republikanische Abgeordnete des Repräsentantenhauses Elise Stefanik großes Aufsehen erregt. Auf die Frage, ob Aufrufe zum Genozid gegen Juden gegen die Regeln an ihren Unis verstießen, antworteten Harvard-Präsidentin Claudine Gay, MIT-Präsidentin Sally Kornbluth und Penn-Präsidentin Liz Magill, das komme darauf an. Eine sagte gar, einschreiten müsse man erst, wenn tatsächlich Gewalt geschehe. Die Äußerungen der Präsidentinnen wurden auch als kalt und formaljuristisch kritisiert. Heinrich Wefing kommt darauf in der Zeit zurück: "Diese Halbherzigkeit steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu einer Entwicklung an den US-Universitäten in den vergangenen Jahren, die eher auf eine Einschränkung des Sagbaren hinauslief. Um ihren Studierenden das Gefühl zu geben, sie seien sicher, willkommen und zugehörig, haben viele Hochschulen immer restriktivere Regeln erlassen, was gesagt werden soll und was nicht. Dass nicht nur Gewalt gefährlich sei, sondern auch Worte, dass Worte selbst Gewalt sein könnten, verletzend, einschüchternd, ausgrenzend, ist zum allgegenwärtigen Dogma geworden."

Das Repräsentantenhaus hat nun in einer von Republikanern und Demokraten geteilten Resolution Antisemitismus auf Universitäts-Campus verurteilt, berichtet Andrew Solender bei Axios.com. Die Resolution hat allerdings eine bittere Spaltung unter den Demokraten offenbart: 84 Demokraten stimmten dafür, 123 dagegen.

MeToo-Vorwürfe gegen Gérard Depardieu und Frédéric Beigbeder, neue Vorwürfe auch gegen den der Pädophilie beschuldigten Schriftsteller Gabriel Matzneff. Niklas Bender kommt in der FAZ kaum noch hinterher: "Bestimmte Männlichkeitsmodelle werden in Frankreich offenbar nicht mehr akzeptiert. Die weiter offene Frage ist, welche Form die Verführung in Zukunft annehmen wird." Und vor allem: "Was ermöglicht übergriffige Verhaltensmuster?"
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Frieden ist eine komplexe Angelegenheit, schreibt der Historiker Jörn Leonhard, Autor des Buchs "Über Kriege und wie man sie beendet", in der Zeit, und liefert eher einen historischen Rundblick, statt auf aktuelle Kriege zu blicken. Aber eins ist klar: "Auch im Frieden kann der Krieg sich fortsetzen: Der unmittelbare Weg aus kriegerischer Gewalt - von temporären Feuerpausen über einen stabilen Waffenstillstand bis zu einem formalen Friedensschluss und zur langfristigen Durchsetzung seiner Bestimmungen vor Ort - sagt nichts über die mögliche Fortsetzung des Krieges in den Köpfen von Zeitgenossen weit über das Ende von Verhandlungen hinaus, über die Chancen mentaler Deeskalation in Nachkriegsgesellschaften, die Bewältigung individueller Traumata von Soldaten, die generationelle Aufarbeitung von Erinnerungen."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Leonhard, Jörn

Europa

Im neuen Grundsatzprogramm der CDU soll der Satz stehen: "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland", Abwandlung eines bekannten Satzes des CDU-Politikers Christian Wulff. FAZ-Redakteur Claudius Seidl findet die neue Version "unscharf und unverschämt zugleich. Es fängt schon an mit dem Possessivpronomen: Wenn von 'unseren' Werten die Rede ist, dann gehören die Muslime, die sie teilen sollen, offenbar nicht dazu. Das heißt aber auch, dass ein paar Millionen Deutsche (die Schätzungen schwanken), die hier leben, ihre Steuern zahlen und zufällig Muslime sind, vorsorglich und bis zum Beweis ihrer Wertetreue sich erst einmal ausgebürgert fühlen dürfen."

Im Interview mit Tina Hildebrandt von der Zeit erzählt Christian Wulff unterdessen, dass er für seinen Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" bis heute Hassmails und Morddrohungen bekommt. Und er stellt Kontext her, denn auch Wulff hat damals in seiner Rede gefordert, "unsere Art, zu leben, akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller rechnen. Das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten."

Bülent Mumay wird in seiner FAZ-Kolumne immer mehr zum Chronisten der Verelendung seines Landes: "Dank Erdogan ist die Mittelschicht in der Türkei so gut wie verschwunden. Die Armutsgrenze beträgt das Vierfache des Mindestlohns. Offiziellen Angaben zufolge bezieht eine von fünf Personen Sozialhilfe. Selbst in Istanbul, der Finanzhauptstadt des Landes, ging der Verkauf von Fleisch seit Jahresbeginn um 40 Prozent zurück. Wie auch nicht? Die Preise haben sich binnen Jahresfrist verdreifacht." Aber nicht allen geht es schlecht: "Der Haushalt der Religionsbehörde Diyanet wurde um 151 Prozent auf rund drei Milliarden Euro erhöht. Damit überholte der Religionsapparat, bei dessen 150.000 Mitarbeitern es sich zum großen Teil um Imame handelt, sogar das für den Geheimdienst MIT und die Verteidigungsindustrie vorgesehene Budget."
Archiv: Europa
Stichwörter: Mittelschicht, Mumay, Bülent

Politik

In der FAZ zitiert Majd El-Safadi aus einer aktuellen Studie, die sich mit der Haltung der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland zur aktuellen Lage befasst. "Wer sollte nach dem Ende des Krieges die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen? Die Hamas würden 60 Prozent (75 Prozent im Westjordanland, aber nur 38 Prozent im Gazastreifen) bevorzugen, während 16 Prozent eine nationale Einheitsregierung der PA ohne Präsident Abbas bevorzugen würden. Rund 72 Prozent (80 Prozent im Westjordanland und 61 Prozent im Gazastreifen) glauben, dass es der Hamas gelingen wird, nach dem Krieg wieder die Herrschaft über den Gazastreifen zu übernehmen. "
Archiv: Politik
Stichwörter: Gazastreifen, Hamas