9punkt - Die Debattenrundschau

Nichts anziehen, was an Hochzeit erinnern könnte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2023. In der Heinrich-Böll-Stiftung trieb Masha Gessen ihre kruden Thesen weiter, berichtet die taz: Der größte Unterschied zwischen den Nazi-Ghettos und Gaza sei, dass in Gaza die meisten noch lebten und man noch rechtzeitig einschreiten könne. "Kultur braucht Spinner", meint derweil SpiegelOnline. Im Guardian meint Arendt-Biografin Samantha Rose Hill, dass Arendt den nach ihr benannten Preis heute nicht bekäme. Es gibt keine Kollektivschuld, aber doch die Mithaftung einer Nation für Gewaltverbrechen, die von ihrer politischen Führung begangen werden, schreibt Ralf Fücks mit Blick auf die Palästinenser in der FAZ. Und auf SpiegelOnline fragt Mikhail Zygar: Wo ist Alexej Nawalny?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Ziemlich fassungslos resümiert Tania Martini in der taz den Abend in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung, bei dem Masha Gessen mit tosendem Applaus begrüßt wurde und dann ihre "kruden Thesen" verbreiten durfte, immerhin stets mit Widerspruch von Moderatorin Tamara Or: "Nicht alle Juden seien in den KZs ermordet worden, 1,3 Millionen an Krankheiten und Hunger gestorben. Der größte Unterschied zwischen den Nazi-Ghettos und Gaza sei, dass in Gaza die meisten noch lebten, die Welt noch etwas tun könne. Es war die Moderatorin, die darauf hinweisen musste, dass Gaza seit 2007 von der Hamas diktatorisch verwaltet wird, man nicht von einem Rechtsradikalen wie Ben Gvir ausgehend den gesamten Konflikt erklären könne, Gessen hatte Aussagen von jenem verlesen, und dass es schlicht keinen Befehl zur Erschießung palästinensischer Zivilisten gebe. Hamas habe nicht die Mauer gebaut, so Gessen, die für Ors Frage, ob nun nicht mehr über den Vergleich, als über Gaza gesprochen werde, nur übrig hatte: 'Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.'"

Auch in der Zeit berichtet Jens Jessen konsterniert über den enormen Zuspruch, den Gessen aus dem Publikum erhielt. Aber, überlegt er dennoch, vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass die "Verwerflichkeit eines Holocaust-Vergleichs nur von politischer Haltung und Identität der Personen abhängig ist, die ihn anstellen?" Wenn dem allerdings so sei, dann solten "bestimmte Formen der Israelkritik ein jüdisches Privileg bleiben. Deutsche sollten sie nur respektieren, nicht bejubeln." Völlig wirr findet Thomas Ribi in der NZZ die Argumentation der sonst so scharfsinnigen Autorin: "Einfach zu verstehen ist es tatsächlich nicht, was Gessen sagen wollte. Die nachträglichen Erläuterungen haben nichts geklärt, sondern die Sache nur noch mehr verwirrt."

"Kultur braucht Spinner", ist der Spon-Leitartikel von Tobias Rapp überschrieben, in dem Rapp begrüßt, dass Masha Gessen eben trotz ihres "schwachen Textes" mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet wurde: "Gessen hat diesen Preis für das Lebenswerk bekommen. Und das vollkommen zu Recht. Gessen ist eine interessante, wichtige und aufregende intellektuelle Person. (…) Nun ist es natürlich ein wenig bizarr, wenn jemand, der in den vergangenen Tagen in allen großen Medien Interviews gegeben hat, der deutschen Öffentlichkeit das 'Mundtot-Machen' vorwirft. Es ist aber nur in dieser Pauschalität falsch. Es gibt nämlich tatsächlich ein Problem: Die Feigheit von Teilen des deutschen kulturpolitischen Betriebs. Die Liste von Ausstellungen und Preisverleihungen, die abgesagt worden sind, ist mittlerweile ziemlich lang. Und diese Liste ist nichts, worauf man in Deutschland stolz sein sollte. Selbst und gerade, wenn man mit den politischen Positionen der Künstler und Intellektuellen, denen da die Plattform genommen worden ist, nichts zu tun haben möchte."

Hannah Arendt würde heute den Hannah-Arendt-Preis nicht mehr bekommen, behauptet die (in Deutschland allerdings eher unbekannte) Arendt-Biografin Samantha Rose Hill im Guardian und zeigt, dass man Gessens Geschichtsverdrehungen noch weiter treiben kann. Denn sie belegt ihre Behauptung mit einem Zitat Arendts, in dem sie den frühen Israelis eine "Ghetto-Mentalität" vorwirft. Und dann wiederholt Hill die bizarre These der Postkolonialisten und Gessens, dass Deutschland und seine Gedenkkultur den Blick auf israelische Verbrechen versperrten: Deutschland müsse die BDS-Resolution zurücknehmen. "Damit es nicht weiterhin zensiert, was Menschen über den Staat Israel sagen können und was nicht. Damit es nicht zu einer moralischen Komplizenschaft mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwingt." Das Dumme mit dem von Hill bemühten Ghetto-Zitat Arendts ist allerdings, dass sie da etwas verwechselt, wendet der Autor Shany Mor auf Twitter ein: "Die Ghettos, mit denen Arendt Israel so leichtfertig vergleicht, sind die Viertel in den europäischen Städten, in denen die Juden jahrhundertelang eingesperrt waren, und nicht die städtischen Gefängnisse in Polen, in die die deutschen Besatzer in den 1940er Jahren die Juden trieben, um sie auszuhungern, bevor sie zur Vernichtung abtransportiert wurden."
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Politik

"Wer die Bilder von jubelnden Männerhorden vor Augen hat, als halb nackte israelische Geiseln in Gaza zur Schau gestellt wurden, ahnt den Grad der Brutalisierung in Teilen der palästinensischen Gesellschaft", erinnert in der FAZ Ralf Fücks, ehemaliger Chef der Böll-Stiftung, der befürchtet, dass Israel den "Kampf um die internationale öffentliche Meinung weitgehend verloren" hat. "Gleichzeitig zeigen Umfragen des 'Arab Barometer', dass eine Mehrheit in Gaza kein Vertrauen in die Hamas setzt. Deren Kriegspolitik nach außen geht einher mit brutaler Gewaltherrschaft nach innen. Auch deshalb muss Israel seinen Gegenangriff auf die politisch-militärischen Strukturen der Hamas konzentrieren. Zivile Opfer sind unvermeidlich, weil sich die Hamas systematisch in Kliniken, Schulen und Wohngebäuden verschanzt. Was am 7. Oktober stattfand, war ein alle Grenzen sprengender Gewaltexzess mit dem Ziel, Furcht und Schrecken zu verbreiten und möglichst viele Juden zu ermorden, weil sie Juden sind. Richtig: Es gibt keine Kollektivschuld, und es darf keine Kollektivstrafe für ein ganzes Volk geben. Aber es gibt eben doch die Mithaftung einer Nation für brutale Gewaltverbrechen, die von ihrer politischen Führung und Tausenden 'bewaffneten Kämpfern' begangen werden. Wer die Ereignisse vom 7. Oktober herunterspielt, um Israel in die Rolle des Aggressors zu rücken, betreibt Täter-Opfer-Umkehr. Jeder Staat dieser Welt würde nach einem solchen Massaker alles daransetzen, um eine Wiederholung zu verhindern."

"Der 7. Oktober hat alles verändert. Dieser Mini-Holocaust ist mit nichts zu vergleichen. Deswegen müssen wir es diesmal zu Ende bringen und die Infrastruktur der Hamas komplett zerstören", sagt Israels Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar, der im taz-Gespräch mit Daniel Bax und Tanja Tricarico, die Zahl der zivilen Opfer in Gaza nicht für unverhältnismäßig hält: "Die Hamas ist dort im Vorteil, ihre Leute können aus jedem Fenster schießen. Wir haben es mit einem asymmetrischen Krieg zu tun. Und die Hamas hat in den vergangenen Wochen mehr als 11.000 Raketen auf Israel abgeschossen. Stellen Sie sich vor, die Taliban hätten ähnlich viele Raketen auf Deutschland abgeschossen: Würden Sie sich das gefallen lassen? Wir gehen langsam, besonnen und so präzise wie möglich vor. Aber das kostet seine Zeit - und es heißt nicht, dass sich zivile Opfer vermeiden lassen."

Aggressoren wie Russland, die Hamas oder die Huthi-Milizen führen einen "Schattenkrieg" gegen westliche Staaten, schreibt Stefan Kornelius in der SZ. Die "Irrationalität" der Angriffe sorgt für Chaos und Ermüdung bei den westlichen Kriegsparteien, meint er. Wenn diese nicht endlich angemessen reagieren, tritt das Schlimmste ein, so Kornelius: "Wladimir Putin, die Hamas und ihre schiitischen Ziehväter hätten dann tatsächlich ihr Ziel erreicht. Die Schwächung bis Zerstörung des westlichen Bündnisses, womöglich gar der amerikanischen Demokratie und des Staates Israel. Die strategische Weitsicht dieser Staaten reicht offenbar nicht dazu aus, diese Bedrohung wahrzunehmen - und ein Mittel dagegen zu finden. Ein erster Schritt wäre getan, wenn die Apathie überwunden und den Aggressoren ihre Unterlegenheit in deren Kerngeschäft - der militärischen Gewalt - demonstriert würde. Nur wer sich ernsthaft wehren kann, wird von Putin & Co ernst genommen."
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Geschichte

Thoralf Cleven hat für die FR den Juristen Gerhard Wiese, den letzten noch lebenden Ankläger im Auschwitz-Prozess, der vor genau sechzig Jahren stattfand, getroffen. Im Prozess wurde unter anderem der SS-Oberscharführer und Gestapo-Referatsleiter Wilhelm Boger, der für seine grausamen Foltermethoden berüchtigt war, zu lebenslanger Haft verurteilt. Gerecht war der Ausgang des Prozesses für Wiese allerdings nicht, gibt Cleven wieder:"'Gerecht'?" Wiese schaut empört auf. 'Wir hatten für alle lebenslang beantragt. Doch wahrscheinlich gibt es für solche Leute keine gerechte Strafe. Die Todesstrafe wäre wohl am angemessensten gewesen.' Doch dem Team um Fritz Bauer ging es um anderes, erläutert Wiese: Auschwitz sollte juristisch als ein einheitliches großes Verbrechen eingestuft werden und jeden der über die Jahre mehr als 6.000 Bediensteten zu Mittäter:innen oder Teilnehmenden machen. Es hätte die folgenden Strafverfolgungen von NS-Verbrechen erheblich erleichtert. Doch das Schwurgericht lehnte ab. Die Konsequenz war, dass jedem Angeklagten einzelne Taten nachgewiesen werden mussten. Vize-Kommandant Robert Mulka erhielt deshalb ein Urteil für Einzeltaten, nicht jedoch für seine Tätigkeit als Organisator der Mordmaschinerie. Eine Revision verwarf Karlsruhe. Nicht jeder, der 'irgendwie' tätig geworden sei, so der Bundesgerichtshof damals, könne für 'alles' Geschehene Verantwortung tragen."
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Europa

Seit knapp einer Woche gibt es kein Lebenszeichen mehr von Alexej Nawalny, längst hätte er in ein Untersuchungsgefängnis in Moskau verlegt werden müssen, schreibt der russische Journalist Mikhail Zygar auf Spon: "Auffällig ist, dass Nawalnys Stiftung just vorvergangene Woche den Start einer Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2024 ankündigte. Diese forderte die Russen auf, bei dem anstehenden Urnengang für einen beliebigen anderen Kandidaten als Wladimir Putin zu stimmen. Die FBK stellte sogar Plakatwände in verschiedenen russischen Städten auf. Und genau in diesem Moment verschwand Nawalny. Gibt es einen Zusammenhang? Um mehr darüber zu erfahren, rief ich meine langjährige Freundin Marija Pewtschik an, die in Abwesenheit von Nawalny die FBK leitet. Ihrer Meinung nach führt das Putin-Regime einen psychologischen Krieg gegen die FBK. Seit Nawalnys Verschwinden ist das gesamte Team der Stiftung verunsichert, die Sorgen um Nawalny lassen die Arbeit an der Kampagne fast in den Hintergrund treten, erzählt Pewtschik."

Neben den antisemitischen Straftaten nehmen in Deutschland nach dem 07. Oktober auch die antimuslimischen Straftaten zu, behauptet Kübra Gümüsay in der Zeit und berichtet von "Generalverdacht, kollektive Vorverurteilungen, Kriminalisierung, rassistische Polizeigewalt, erniedrigende Diskussionen mit Lehrkräften, Dämonisierung. Und eine Härte und Kälte von politischer Seite, wie ich sie hier noch nie erlebt habe."
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Religion

Die vatikanische Erklärung zu Segnungen für homosexuelle Paare ist nicht mehr als eine "Mogelpackung", betont Christian Geyer in der FAZ, denn "im Modus der pastoralen Zuwendung, die jetzt Segnungen für homosexuelle Paare möglich macht, müssen sich die Gesegneten sagen lassen, dass ihre Sexualität eigentlich nicht geht. Darin liegt das Irrlichternde, das Wunschgetriebene der Schlagzeile 'Katholische Kirche erlaubt Segnung für homosexuelle Paare' als Echo auf die Veröffentlichung der vatikanischen Erklärung 'Fiducia supplicans' (Flehende Zuversicht). Ja, aber welche Segnung? Keine liturgische mit festem Ritual, sondern nur eine als spontane Geste der Volksfrömmigkeit, keine im Zusammenhang mit standesamtlichen Vorgängen, nichts an dieser Segnung soll auch nur in die Nähe einer etwa auch kirchlich so praktizierten 'Ehe für alle' führen. Bis in die Kleidervorschriften hinein - nichts anziehen, was an Hochzeit erinnern könnte! - werden die Umstände des erlaubten 'spontanen' Segens normiert, der freilich am allerbesten doch gar nicht stattfinden möge: 'Deshalb soll man die Segnung von Paaren, die sich in einer irregulären Situation befinden, weder fördern noch ein Ritual dafür vorsehen."
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