9punkt - Die Debattenrundschau

Wetteifern, wer denn nun die größeren Opfer sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2023. "Demokratiefeindlichkeit ist kein Teil einer Kultur", betont Ahmad Mansour, der in der NZZ hofft, dass die Gefahren durch Islamismus nun endlich erkannt werden. Das Gefühl, benachteiligt zu sein, ist tief verwurzelt im Osten, meint der Theologe Richard Schröder, der den Ostdeutschen in der FAZ rät, sich nicht mit den Westdeutschen, sondern mit den etwa zwanzig anderen einst sozialistischen Diktaturen zu vergleichen. Millionen von Menschen leben unter Bedingungen, die schlimmer sind als die in Gaza und sie suchen nicht den Trost in Terrorismus, erwidert Henryk Broder in der Welt auf Christoph Heusgen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.12.2023 finden Sie hier

Politik

Kritik am Islamismus gilt vielen als rassistisch und islamfeindlich, auch wenn er von Muslimen kommt, erinnert Ahmad Mansour in einem Gastbeitrag in der NZZ. Hat der Terror des 7. Oktober daran etwas geändert, fragt er, sieht die Gesellschaft die Gefahr nun klarer? Er hegt leise Hoffnung: "Der Jubel über den Massenmord der Hamas, der auf manchen Strassen von migrantischen Jugendlichen und Erwachsenen zu beobachten war, die judenfeindlichen Kundgebungen an Hunderten Orten - all das hat die Frage nach Integration und Deradikalisierung völlig neu auf die politische Agenda gesetzt. Gerade säkulare Muslime fordern Klarheit und Aufmerksamkeit beim Thema Integration. Uns ist besonders bewusst, dass neben Israel auch alle anderen freien Gesellschaften, alle anderen säkularen Demokratien Angriffsziele des islamistischen Terrors sind. Immer mehr Menschen wachen auf aus einer Illusion des Multikulturellen. Viele Kulturen - ja, das ist wunderbar, wenn es um Essen und Musik geht, um Lyrik und Architektur. Aber es gibt nur eine Demokratie. Und keine 'Kultur', weder eine eingewanderte noch eine heimische, darf Demokratie und Grundgesetz zerstören. Demokratiefeindlichkeit ist kein Teil einer 'Kultur'."

Die Kritik an Israels militärischer Operation im Gaza-Streifen ist weitgehend unberechtigt, konstatiert Mark Kimmit, ehemaliger US-Brigadegeneral, in der Welt. Das Vorgehen Israels zeige, dass immer noch versucht werde, so weit wie möglich zivile Opfer zu vermeiden, die Rede von "wahlloser Bombardierung" sei demnach Unsinn. Zu beachten sei auch, dass die internationale Aufmerksamkeit für die Hamas eine große Rolle spiele: "Die Hamas-Führer wissen, dass sie nicht in der Lage sind, Israel auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Aber sie wissen auch, dass die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Israel, weltweit und insbesondere in Amerika ihre stärkste Waffe ist - und die größte Schwachstelle des Westens. Der Verlust eines Bataillons der Qassam-Brigaden ist für die Hamas ein geringer Preis, wenn Medien aus der ganzen Welt filmen können, wie sich die Gefangenen nackt und gedemütigt ergeben."

Die Vermischung von Politischem und Privatem hat in den USA historische Tradition, schreibt der amerikanische Autor R. Jay Magill in der NZZ. Mit Donald Trump hat diese Entwicklung einen Höhepunkt erreicht - wenn die Errungenschaften der amerikanischen Demokratie nicht verloren gehen sollen, muss die Unterscheidung wieder klar getroffen werden, so Magill: "Mit Donald Trump ist das Persönliche politischer geworden - und umgekehrt - als je zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Immobilienmogul aus New York war lange Zeit eine Art Witzfigur der amerikanischen Pop-Kultur. Doch seine Person ist das logische Endprodukt einer dreihundertjährigen Entwicklung. In der Gestalt des ehemaligen Präsidenten zeigt sich ein Charakterzug Amerikas; Trump ist keine Abweichung, sondern ein Anzeichen. Alle hehren Prinzipien des öffentlichen Lebens ordnet Trump dem Wahnwitz seiner Wünsche und Bedürfnisse unter. Der Ex-Präsident praktiziert Politik in der Form der Vendetta. Dabei tönt das alte "L'État, c'est moi!" an, oder neu: einmal Präsident, immer Präsident."

Die Frage nach den Ursachen von Terror geht oft mit einer Romantisierung und Verklärung desselben einher, meint Henryk M. Broder in der Welt und kritisiert den Diplomaten Christoph Heusgen, der in Folge des 7. Oktober die Kontextualisierung des Terrors forderte (unser Resümee). Auch nach den Angriffen auf das World Trade Center wurden schnell Stimmen von Intellektuellen laut, die Terror als Folge von Perspektivlosigkeit und Armut darstellten: "Und heute? Was hat die Hamas-Killer dazu getrieben, in Israel einzufallen und mehr als tausend Menschen - nicht nur Israelis und Juden - zu massakrieren? Was, außer der Lust am Morden, Foltern, Vergewaltigen, Verstümmeln? War es, wie Heusgen suggeriert, das ungute Gefühl, ein aussichtsloses Leben zu führen, keine Ausbildung, keinen Beruf und keine Perspektive zu haben? Die Tat und die Täter kennen wir schon, jetzt muss nur noch ein Motiv nachgeschoben werden. Millionen von Menschen leben unter Bedingungen, die schlimmer sind als die in Gaza - in Townships, Slums und Favelas. Folgt man Heusgen, müssten sie alle Trost und Erfüllung im Terrorismus suchen. Die wenigsten tun es."
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Geschichte

Buch in der Debatte

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Die unter dem Titel "Adieu, Osteuropa" bereits im Frühjahr erschienene "Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt" des Historikers Jacob Mikanowski wurde recht kontrovers besprochen. "Seit 1989 hat der Begriff Osteuropa einen negativen Beigeschmack, Länder haben ihn abgelegt, um sich vom Sozialismus und der Phase des Ostblocks abzugrenzen", sagt er im SpOn-Interview mit Nadia Pantel, in dem er Unterschiede zwischen West- und Osteuropa zu analysieren versucht: "Stark vereinfacht kann man sagen, dass Westeuropa im Mittelalter begann, seine religiöse und ethnische Vielfalt zu verlieren, während Osteuropa sie gewann. Westeuropa verdrängte seine Juden, Osteuropa nahm sie auf. Dort lebten Katholiken, orthodoxe Christen, Juden und Muslime, Armenier und Deutsche und Slawen in direkter Nachbarschaft. (…) Nach dem Ende des Feudalismus, vor dem Ersten Weltkrieg, entstand gleichzeitig eine Welt, die unserer heutigen viel ähnlicher ist. Sarajewo im Jahr 1913 war eine multiethnische Stadt, in der Menschen zwar ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft betonten, aber gleichzeitig im Austausch blieben. Jede Gruppe hatte ihren eigenen Musik- oder Sportverein. Die Menschen lebten segregiert. Aber sie drückten ihre Differenzen nicht durch Gewalt aus, sondern in Wettbewerb und Rivalität. Von diesem Zusammenleben können wir etwas lernen, vor allem im heutigen Europa, das immer stärker von Einwanderung geprägt wird."

"Knapp 35 Jahre nach der Herbstrevolution hat sich eine lange Litanei ostdeutscher Benachteiligungen gebildet, die von manchen nachgerade hingebungsvoll heruntergebetet wird", schreibt der in Frohburg geborene Theologe und SPD-Politiker Richard Schröder, der in der FAZ mit einigen Mythen, etwa um die mangelnde Repräsentation Ostdeutscher in den Eliten, aufräumt. Das im Osten oft anzutreffende Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, sei übrigens auch "nicht nach der Vereinigung entstanden. Es begleitet uns seit 1945. Wir hatten die weniger erfreuliche Besatzungsmacht und haben immer mit Neid und Bewunderung nach Westen gesehen. Allabendlich waren wir beim Westfernsehen als Zaungäste drüben. (...) Das Gefühl, benachteiligt zu sein, ist tief verwurzelt im Osten. Es hat die deutsche Einheit mit Übererwartungen überfrachtet, die enttäuscht werden mussten. (…) Es ist wohl unvermeidlich, dass die Ostdeutschen sich mit den Westdeutschen vergleichen. Angemessener wäre der Vergleich mit den etwa zwanzig Ländern, die ebenfalls die Transformation von der sozialistischen Diktatur zu einer neuen politischen Ordnung und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft durchlaufen mussten. Dieser Vergleich ergibt durchaus Erfreuliches für die Ostdeutschen. (…) Ostdeutschland wurde durch die Vereinigung sofort Teil der EU - ohne schmerzliche Angleichungsprozesse. Und durch die Treuhandanstalt wurde vermieden, dass das 'Volkseigentum' in die Hände von Oligarchen geriet."
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Europa

Auf "Unzucht zwischen Männern" standen in der UdSSR noch fünf Jahre Haft, heute drohen Schwulen und Lesben für die Demonstration von Homosexualität bis zu zwölf Jahre Gefängnis, schreibt die russische Journalistin Anna Narinskaja, die in der FAZ die immer brutaleren Repressionen gegen Homosexuelle in Russland skizziert - und nach Erklärungen sucht: "Putins System basiert auf strenger Hierarchie und Unterordnung. Diese Hierarchie soll, wie Putin selbst und Ideologen wie der konservative Philosoph Alexander Dugin verkündet haben, auch im Privatleben der Menschen gelten, vor allem in der Familie, über die schon in sowjetischen Lehrbüchern geschrieben stand: 'Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft.' Der Ehemann, der Mann muss das 'Haupt' der Familie sein, die Kinder haben die Pflicht, sich den Eltern unterzuordnen. Wenn sie das nicht tun, müssen sie bestraft werden - familiäre Gewalt ist in Russland entkriminalisiert. Dieses Modell entspricht dem Konzept der Machtvertikale, in der jeder Mensch sich seinem Vorgesetzten und letztlich ganz Russland sich Putin unterordnet. Dieses Modell, bei dem die Rollen gemäß Geschlecht und Alter verteilt sind, würde durch gleichgeschlechtliche Paare zerstört. Denn sie erscheinen als gleichberechtigt, als 'horizontal' und nicht 'vertikal' verbunden. Schon dadurch passen sie nicht in Putins Russland."
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Ideen

Es ist keineswegs so, dass alle der mehr als 2500 amerikanischen Universitäten Horte radikaler linker Identitätspolitik sind, hält der in Tennessee lehrende Judaist und Osteuropa-Historiker Ari Joskowicz, der in der FAZ von lebhaften Seminar-Diskussionen über den Nahostkonflikt berichtet, fest: "Keinesfalls will ich damit suggerieren, es gäbe keinen Antisemitismus auf amerikanischen Universitäten oder in der amerikanischen Gesellschaft. Das wäre genauso vermessen, wie zu behaupten, es gäbe keine Islamophobie. Ich höre immer wieder von muslimischen Studierenden oder Lehrenden, wie sie seit dem 7. Oktober rassistisch beschimpft worden sind. Ihre Erfahrungen finden meines Erachtens zu wenig Widerhall in den Medien, weil sie nicht in das größere Narrativ passen. In einer Situation, in der jüdische und muslimische Studierende als Gegenspieler dargestellt werden, erscheint der Fokus auf die Diskriminierung einer Gruppe schnell so, als würde man die der anderen relativieren. Gerade diejenigen Kritiker der Universitäten, die gerne lamentieren, dass unsere politische Kultur leidet, weil alle nur noch darum wetteifern, wer denn nun die größeren Opfer sind, scheinen ein Problem damit zu haben, anzuerkennen, dass Mitglieder unterschiedlicher Gruppen in diesem Moment gleichzeitig um ihre Sicherheit besorgt sein können."
Archiv: Ideen