9punkt - Die Debattenrundschau

Keine evangelischen Biker

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2024. Die Palästinenser in Gaza erleben eine zweite Nakba, sagt der Historiker Tom Segev im FR-Gespräch, in dem er ein sofortiges Ende des Krieges fordert. Die Kultur ist ein Teil des Antisemitismusproblems, konstatiert DHM-Chef Raphael Gross in der Berliner Zeitung. Der Tagesspiegel resümiert indes die Kritik am Vorschlag der CDU, die Antidiskriminierungsklausel auch auf die Wissenschaft auszuweiten. In der Welt glaubt Henryk Broder nicht an härtere Strafen für antisemitische Straftaten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.01.2024 finden Sie hier

Politik

Der Krieg in Gaza muss sofort beendet werden, fordert der israelische Historiker Tom Segev im FR-Interview mit Michael Hesse, in dem er Netanjahu mit Putin vergleicht: "Die Geiseln sind immer noch nicht freigelassen, die Hamas nicht vernichtet worden. Immer mehr Ex-Generäle sagen uns jetzt im Fernsehen, dass die Hamas nicht zerstört werden kann. Aber vor drei Monaten wurde uns etwas anderes versprochen. Die Situation in Gaza ist absolut schrecklich. Die Katastrophe in Gaza ist die schlimmste, die die Palästinenser seit 1948 erlebt haben. Es ist eigentlich eine zweite Nakba, eine zweite Vertreibung." Die Forderung nach einem Ende des Krieges habe allerdings "nichts mit Sympathie für die Hamas zu tun. Sie ist eine heuchlerische Organisation. ... Wenn der Hamas-Chef ein anständiger Mensch wäre, wäre er schon längst aus seinem Loch gekrochen und hätte sich ergeben, um sein Volk zu retten. Aber er kümmert sich nicht um die Menschen, sondern nur um die Ideologie. Wenn ich Palästinenser wäre, wäre ich grenzenlos wütend auf diese Hamas-Führung, die dieses Unglück über ihr Volk gebracht hat. Ich würde wahrscheinlich nicht mehr lange leben, wenn ich diese Meinung als Palästinenser äußern würde. Aber ich sitze in Israel."

In der Welt sieht Henryk M. Broder die Forderung der CSU nach härteren Strafen für antisemitische Straftaten, die vom Präsidenten des Zentralrates der Juden unterstützt wird, als naiv an. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass die Maßnahmen kaum abschreckend wirken, zudem "verkleiden" sich Antisemiten gern als Israel-Kritiker. Hinzu komme die Fehleinschätzung, dass Antisemitismus überwiegend von Rechtsextremen ausgehe: "Dabei war wohl jedem Bürger und jeder Bürgerin klar, dass es nicht katholische Pfadfinder waren, die 'Hamas, Hamas, Juden ins Gas!' riefen, und auch keine evangelischen Biker, die sich ein Palästina 'From the river to the sea' wünschten. Die Polizei hat diese Art der Datenerhebung inzwischen präzisiert. Es kann freilich eine Weile dauern, bis sich der Kurswechsel überall herumgesprochen hat."

Deutschland trägt eine Mitschuld an der "Verrohung" im Nahostkonflikt auch im Westjordanland, meint Charlotte Wiedemann in der taz. Wie viele linke Intellektuelle schreibt sie Deutschalnd einen großen Einfluss auf den Konflikt zu: "Anders als auf Putin hätte Deutschland, hätte die Europäische Union Einfluss auf Netanjahu. Doch am internationalen Druck, Israel möge sich mäßigen in seiner Kriegsführung, sind wir wenig beteiligt. Und mit 'wir' meine ich das offizielle Deutschland ebenso wie die Bewegung auf der Straße. Was sich Palästinasolidarität nennt, erschöpft sich zu oft im Rufen von Parolen, deren Wert vor allem darin besteht, dass sie vom deutschen Staat verboten werden. Wenn das oberste Gericht der Vereinten Nationen eine Genozid-Klage zulässt, während das Aussprechen des Begriffs in Deutschland als Volksverhetzung geahndet wird, leben wir offensichtlich in einem seltsam verengten Gehäuse. Doch darf sich deshalb das Denken und Empfinden nicht verengen."

Südafrika hat Israel in Den Haag wegen Völkermord angeklagt - und das in einem erstaunlichen Tempo, schreibt Claudia Bröll in der FAZ: "Offenkundig arbeiteten Juristen rund um die Uhr an dem 84 Seiten langen Dokument, während der Rest der Nation Weihnachten feierte. Für viele Südafrikaner, insbesondere für die Regierungspartei ANC, sei die Palästinenserfrage ein Herzensanliegen, sagt Gilbert Khadiagala, Professor für Internationale Beziehungen an der Witwatersrand-Universität. 'Der ANC sieht im Konflikt in Gaza die eigene Geschichte und den eigenen Widerstandskampf.' Es handle sich nicht um einen von machtpolitischen Interessen im eigenen Land getriebenen Vorstoß. Die Partei, die seit der Mandela-Ära Südafrika regiert, sehe eine 'moralische Verpflichtung' gegenüber Volksgruppen, die aus ihrer Sicht ähnlich unterdrückt würden wie die schwarze Bevölkerung damals in Südafrika. Khadiagala spricht von einem jahrzehntelangen 'Kreuzzug' Südafrikas."
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Gesellschaft

Lucien Scherrer legt in der NZZ dar, wie der Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay (unsere Resümees) von Akademikern und Journalisten als Rassismus-Fall dargestellt wird. Gay stand wegen ihrer Äußerungen zum Nahost-Konflikt in der Kritik, letztendlich musste sie aber wegen Plagiats-Vorwürfen zurücktreten, erinnert Scherrer: "Der schwarze Rassentheoretiker Ibram X. Kendi, der auch in Europa gefeiert wird, behauptete, Gay sei Opfer eines 'rassistischen Mobs': Ihre Arbeiten seien nur deshalb auf Plagiate geprüft worden, weil sie schwarz sei. Ähnliche Theorien verbreiteten Journalisten von einflussreichen Medienhäusern. Meinungsjournalistinnen von MSNBC und der 'New York Times# klagten über Angriffe auf 'jede schwarze Frau in diesem Land', die 'akademische Freiheit', die Diversität und den Pluralismus ... Dass es unter Gays Kritikern Rassisten gibt und es vielen Republikanern nur um die ideologische Deutungshoheit an den Universitäten geht, ist eine Tatsache. Von einem Angriff auf die akademische Freiheit und den Pluralismus zu sprechen, ist jedoch absurd. Plagiate, so verbreitet sie auch sein mögen, gehören nicht zur akademischen Freiheit."
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Geschichte

Auf geschichtedergegenwart.ch blickt der Historiker Jochen Lingelbach zurück auf die Geschichte der Genfer Flüchtlingskonvention, die zunächst nur für Personen galt, die aufgrund von "Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 in Europa eingetreten sind", geflüchtet waren. "Doch mit den wachsenden Forderungen aus dem globalen Süden ließ sich diese Sichtweise langfristig nicht mehr halten. Sie setzten nicht zuletzt den UNHCR selbst unter Druck, der ein Interesse daran hatte, nicht als rein europäische Organisation gesehen zu werden. Der damalige Hochkommissar Auguste Lindt fürchtete schon anlässlich der algerischen Flüchtlingskrise, dass man ihm Diskriminierung vorwerfen und ihn als 'Hochkommissar für ausschließlich europäische Flüchtlinge' bezeichnen könnte. Ein Weg aus diesem Dilemma bot zunächst die sogenannte 'good office'-Formel: Unter ihr konnte der UNHCR seine Hilfe anbieten, ohne dass hierfür eine Rechtsgrundlage geschaffen werden musste. Das bedeutete, dass die algerischen Geflüchteten zwar rechtlich nicht als internationale Flüchtlinge anerkannt wurden, der UNHCR dennoch aber zusammen mit staatlichen Stellen und internationalen Hilfsorganisationen tätig werden konnte."
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Europa

Christoph B. Schiltz lenkt in der Welt den Blick auf einen bevorstehenden kritischen Augenblick im Europäischen Parlament. EU-Ratspräsident Charles Michel wird sein Amt früher abgeben, was dem ungarischen Präsidenten Viktor Orban zu Gute kommen könnte: "Der Rechtspopulist könnte als oberster politischer Vertreter der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft - sie dauert von Anfang Juli bis Ende Dezember - Michel als Strippenzieher für Top-Personalien ersetzen, wenn zum Zeitpunkt von Michels Rücktritt noch kein regulärer Nachfolger für das Amt des EU-Ratspräsidenten gefunden sein sollte. So wollen es jedenfalls die komplizierten EU-Verträge. In diesem Fall drohten Chaos und Verwerfungen." Die restlichen Europäischen Eliten müssen also dringend zusammenarbeiten und rasch entscheiden - solange Michel noch im Amt ist, mahnt Schiltz.
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Kulturpolitik

Die Kultur ist ein Teil des Antisemitismusproblems, schreibt in der Berliner Zeitung der Präsident des Deutschen Historischen Museums Raphael Gross (der seinerzeit zu den wenigen Chefs großer Kulturinstitionen gehörte, die nicht den "Weltoffen"-Aufruf unterzeichnet hatten). Empörung über koloniale Verbrechen werde "missbraucht und gegen Israel als angeblichen Kolonialstaat gerichtet. Der Begriff 'Genozid' wird so ausgeweitet, dass die Shoah nur noch als ein Verbrechen unter vielen erscheint und relativiert wird. Diese Instrumentalisierung von postkolonialer Empörung für Antisemitismus ist heute zu einem weltweit verbreiteten kulturellen Code geworden. Wie um 1900 die Verbindung von Nationalismus und Antisemitismus einer war. Und dieser neue Code droht zu einer Art kultureller Eintrittskarte zu werden. Aus meiner Sicht wäre es wichtig, hier nachzudenken, wie man politisch auf einer globalen Ebene dagegen angehen kann. Welche Formen sich gerade auch im internationalen kulturellen und akademischen Bereich entwickeln lassen, um hier aufklärerisch tätig zu werden. Dazu gehört auch ein Austausch mit israelischen Kultureinrichtungen."

Es ist nicht nur der Inhalt von Joe Chialos Antidiskriminierungsklausel (Unser Resümee), der die Gegner wütend macht, schreibt Hannah Pilarczyk auf SpOn: "Offenbar war das Prozedere des CDU-Senators nämlich zu keiner Zeit mit dem Koalitionspartner SPD abgestimmt. Und eine Infoveranstaltung, die Chialo noch vor Weihnachten angekündigt hatte, zog er kurzerhand einen Tag vor - ohne alle Eingeladenen in Kenntnis zu setzen. 'Viel Porzellan' sei durch das Vorgehen zerschlagen worden, rügte etwa die Abgeordnete Elke Breitenbach (Die Linke)."

Aus der CDU kommt auch die Idee, die Klausel auf die Wissenschaft auszuweiten. Im Tagesspiegel sammelt Tilmann Warnecke kritische Stimmen: "Kern der Kritik ist die enge Verbindung der Klausel mit der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von Antisemitismus. Barbara Stollberg-Rilinger, die Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, sagte der Süddeutschen Zeitung zur Debatte in der Kultur, die IHRA-Definition sei nie als rechtsverbindlicher Text gedacht, Definitionen in der Wissenschaft ohnehin 'Arbeitsinstrumente', mithin Gegenstand von Debatten. Würde das Wissenschaftskolleg ein solches Bekenntnis bei seinen jüdischen Fellows als Bedingung für die Einladung einfordern, würden viele Netanjahu-kritische Wissenschaftler dies nicht akzeptieren, vermutete Stollberg-Rilinger. Sie wären angesichts des deutschen Bekenntniszwangs höchst befremdet."
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