9punkt - Die Debattenrundschau

Das Aufmerksamkeitsprivileg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2024. "Er ist wieder da", ist die Überschrift zum FAZ-Essay von Dan Diner. Gemeint ist der Antisemitismus, besonders hässlich heute in seiner postkolonialen Form. In der NZZ erzählt Ernst Piper, wie zynisch die Briten vor der Gründung Israels Nahostpolitik machten. In der SZ blickt der Historiker Volker Weiß auf die Geschichte des Begriffs "Remigration". Mehrere Medien widmen sich dem bereits vermissten Hamburger Institut für Sozialforschung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.01.2024 finden Sie hier

Ideen

"Er ist wieder da", ist Dan Diners ganzseitiger FAZ-Essay überschrieben. Gemeint ist der Antisemitismus, der natürlich nie ganz weg war, weder im Christentum, noch im Islam, noch in der sich säkularisierenden Moderne, geschweige denn in den Regimes des Totalitarismus. Heute ist der Antisemitismus sowohl rechts ("großer Austausch"), als auch links, und besondes krass in der modischen Linken: "Im Diskurs einer postkolonialen Weltdeutung werden die Muster eines archaisch überlieferten Mythologems erkennbar: die an die Juden herangetragene Vorstellung von deren Erwählung, genauer: der Zurückweisung einer derartigen Vorstellung. Ein solcherart theologisch formatiertes Deutungsmuster findet sich vor allem in der Kontroverse um das Aufmerksamkeitsprivileg wieder, das der Holocaust vorgeblich für sich in Anspruch nimmt: seine einer Gleichsetzung mit anderen Massenverbrechen sich entziehende Besonderheit."
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Geschichte

In der NZZ zeichnet der Historiker Ernst Piper die Geschichte der Gründung Israels nach. So erinnert Piper etwa an das am 17. Mai 1939 von der britischen Regierung veröffentlichte "'Weißbuch für Palästina', das betonte, die Errichtung eines jüdischen Staates gegen den Willen der arabischen Bevölkerung sei nie geplant gewesen. In den nächsten fünf Jahren sollten noch jeweils 10.000 Juden nach Palästina einwandern dürfen. Landverkauf an Juden war ab sofort verboten. Mit dieser Politik schloss Großbritannien sehenden Auges den letzten Fluchtweg für Juden aus Europa. Auf Zypern gab es nach Kriegsende zwölf britische Lager. In ihnen waren 50.000 Juden interniert, die versucht hatten, auf Schiffen Palästina zu erreichen. Manche dieser Schiffe waren sogar nach Europa zurückgeschickt worden. Großbritannien und später auch die USA taten alles, um den Eindruck zu vermeiden, sie führten einen 'jüdischen Krieg'. Sie kämpften vielmehr für eigene Interessen, um den nationalen Konsens nicht zu gefährden. Zeitweise war sogar der Jischuv, die jüdische Bevölkerung des britischen Mandatsgebiets Palästina, akut bedroht."

In der SZ blickt der Historiker Volker Weiß zurück auf die Ursprünge des Konzepts von "Remigration" und "Volkstod", das der rechtsextreme Martin Sellner nun wieder bei dem geheimen AfD-Treffen in Potsdam ausbreitete: Das Konzept "gehört zur Grundausstattung völkischen Denkens. Die Angst, als Volk auszusterben, trieb schon Autoren um, als in allen Imperien des 19. Jahrhunderts ganz selbstverständlich diverse Sprachen, Nationen und Kulturen vorzufinden waren. Bemerkenswerterweise etablierte sich in nationalen Kreisen gleichzeitig noch eine gegenläufige Debatte um die Überbevölkerung des Deutschen Reiches, mit der die koloniale Expansion nach Übersee und in Osteuropa propagiert wurde. Die Konzepte der 'Umvolkung', die heute dem Gegner unterstellt werden, stammten ursprünglich aus Planungen deutsch-imperialer Volkstumspolitiker. Das nationale Lager konnte die sich eigentlich widersprechenden Ängste sowohl vor dem 'Volkstod' als auch vor mangelndem Lebensraum je nach Bedarf schüren. Im Nationalsozialismus wurde solches Denken bekanntlich zur staatspolitischen Leitlinie."
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Wissenschaft

"Die Stärke des Hamburger Instituts für Sozialforschung lag in seiner Unabhängigkeit - in finanzieller wie in organisatorischer Hinsicht, wobei Beides zusammenhängt", ließ das Institut per knapper und kühler Pressemitteilung verlauten und erteilt damit auch Ideen, eine Stiftung einzusetzen (Unser Resümee), eine Absage, schreibt Gustav Seibt in der SZ: "Im Klartext: Selbst wenn der 71-jährige Gründer und Mäzen Reemtsma seine Gelder weiter fließen lassen würde, würde er einer Nachfolgeorganisation nicht jene Einsamkeit und Freiheit zutrauen, die er in seiner Person verkörpert und gesichert hatte. Das Institut käme in den bürokratischen Mahlstrom heutiger Wissenschaftsorganisation mit ihren Gremien, Beiräten, Jurys, Gutachten, Pfründen, Hierarchien und dem damit verbundenen geistigen Konformismus. Das Institut liefe Gefahr, seine Besonderheit, sein unverwechselbares Gepräge zu verlieren, so lautet die stolze These hinter dem jetzt verkündeten Ende."

"Die Frage bleibt nun, gibt es etwas Äquivalentes?", kommentiert Michael Hesse, der für die FR unter anderem mit dem Politologen Carlo Masala gesprochen hat. Nein, meint dieser, denn "das Hamburger Institut hat seinen Leuten den Luxus geboten, wirklich jahrelang an Themen zu forschen. Das findet man so nicht wieder, nicht an den Universitäten, weil wir nicht die Zeit dafür haben. Und Drittmittelforschung setzt einen die Pistole auf die Brust, weil es immer für drei bis vier Jahre finanziert wird."

Auch Robert Matthies und André Zuschlag scheinen in der taz nicht ganz zu verstehen, warum der 700 Millionen Euro schwere Reemtsma das Institut nicht in eine Stiftung überführt, die ja auch unabhängig arbeiten könnte. Und "wie die Hamburger Wissenschaftsbehörde auf das angekündigte Aus reagiert, bleibt zunächst unklar: Eine Anfrage der taz, was das Ende des HIS für den Wissenschaftsstandort Hamburg bedeutet und ob nicht eine Rettung des Instituts im Sinne der Wissenschaftsvielfalt wünschenswert sei, blieb am Montag unbeantwortet."
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Europa

Soll man die AfD angesichts ihrer großen Erfolge in den Umfragen und guten Aussichten bei kommenden Wahlen verbieten? Ein sehr riskanter Schritt, meint taz-Redakteur Christian Jakob im Leitartikel, der aufruft über alle denkbaren Maßnahmen gegen die Partei offen zu diskutieren: "Das sehr verdienstvolle Thüringenprojekt des Verfassungsblogs macht sich seit Längerem Gedanken, wie die Demokratie gegen eine 'autoritär-populistische Machtübernahme' resilient gemacht werden kann. Unter anderem schlägt es vor, die Landesverfassung so zu ändern, dass Höcke in einem dritten Wahlgang nicht mit einfacher Mehrheit zum Regierungschef gewählt werden kann. Das Beamtenrecht solle so reformiert werden, dass die Spitzen von Verfassungsschutz (VS) und Polizei nicht einfach neu besetzt werden könnten. Andere denkbare Gegenstrategien sind mühsamer, viele unsicher, einige gefährlich. Der schlechteste Weg ist aber, über diese Strategien nicht zu reden. Zu klären ist, wann das Gegenmittel schlimmer ist als das Problem - und wann eben nicht." "Antifaschismus ist wieder 'in'", meldet die taz im Berlin-Teil und verweist auf die starke Mobilisierung nach den Correctiv-Enthüllungen über die "Remigrations"-Träume der AfD.

Das von Correctiv aufgedeckte "Remigrations"-Treffen beweist, dass die AfD rechtsextrem ist, meint Reinhard Müller in der FAZ: Wenn "wichtige Mitglieder der Partei den womöglich regelmäßigen Austausch mit völkischen Extremisten pflegen (ausgerechnet daran will sich der AfD-Vorsitzende nicht erinnern?), dann bestätigt das, dass der zuletzt offenbar verfolgte Kurs einer öffentlichen Mäßigung (Auflösung des 'Flügels', versuchte Zurückhaltung mit radikalen Äußerungen) nur Schein gewesen ist." Allerdings heiße das nicht, dass Immigration nicht ein Problem ist: "Der Massenzustrom ist keine Erfindung hysterischer Politiker oder Medien, und er hat Folgen mit Sprengkraft, die erst nach und nach spürbar sind. Dem können sich allenfalls die einstweilen verschließen, die gut abgesichert Verantwortung bestenfalls für sich selbst tragen."
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Politik

Über eine teuflische Aktion der Hamas berichtet als eines der ersten Medien die New York Post (mehr inzwischen auch bei Spiegel online). Die Terroristen filmten die drei Geiseln Noa Argamani, Itai Svirsky und Yossi Sharabi, so der Reporter Ronny Reyes. Noa Argamani ist die junge Tochter einer Chinesin, die am 7. Oktober in einem netzweit zirkulierenden Video zu sehen war, wie sie auf einem Motorrad von Hamas-Terroristen entführt wurde. "Argamani, Sharabi und Svirsky waren zunächst in einem undatierten Video zu sehen, das die Hamas am Sonntag veröffentlichte - es war das erste Mal, dass Aufnahmen von ihnen auftauchten, seit sie während des brutalen Angriffs der palästinensischen Terrorgruppe auf Israel am 7. Oktober entführt worden waren. Das Trio wurde dabei gefilmt, wie es die israelischen Beamten aufforderte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sie zu befreien. In dem 37-sekündigen Clip wurde gewarnt, dass das Schicksal der Geiseln am Montag bekannt gegeben würde." Am nächsten Tag folgte eine Art Ratevideo mit der Frage, was mit den dreien wohl passiert sei.

Schließlich folgte ein drittes Video, in dem Noa Argamani bekannt geben musste, dass Sharabi und Svirsky getötet worden seien, angeblich durch einen israelischen Raketeneinschlag. Das Foto zeigt ein Standbild aus einem der Videos:

Auszug aus einem der Hamas-Videos. Wir entnehmen das Bild einem Twitter-Post


Der Völkerrechtler Kai Ambos legt in der Welt anhand verschiedener Aspekte dar, weshalb der Genozidvorwurf Südafrikas gegenüber Israel nicht gerechtfertigt ist: "Aus der völkerrechtlich maßgeblichen Definition der Genozidkonvention, die Eingang in alle nachfolgenden Instrumente gefunden hat, ergibt sich insoweit, dass es um den Schutz der Existenz bestimmter Gruppen geht, wobei - dies ist entscheidend - der Täter mit der übergreifenden Absicht handeln muss, die betreffende Gruppe mindestens zum Teil zu zerstören. Es handelt sich also um einen Tatbestand mit einer 'überschießenden Innentendenz', der Täter muss mehr wollen als er objektiv ausführt. Beispielhaft: die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe oder die Verursachung schwerer Schäden an ihren Mitgliedern - beides Handlungen, die einem Genozid objektiv zugrunde liegen können - reicht für die Bejahung eines Genozids nicht aus; es bedarf immer der darüber hinausgehenden Zerstörungsabsicht. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass ein Genozid nicht alleine deshalb angenommen werden kann, weil massive Militärschläge erfolgen und erhebliche Schäden an Menschen oder Sachen verursachen."

Dass eine Reporterin - hier von Vice - eine offizielle Funktionärin des iranischen Regimes direkt mit den Repressionen gegen Frauen konfrontiert, dürfte äußerst selten sein. Das Interview kann man auf Twitter sehen:
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Kulturpolitik

Jens Winter setzt sich in der taz nochmal kritisch mit den Protestaufrufen gegen Joe Chialos Antidiskriminierungsklausel auseinander (unsere Resümees). Künftig sollen Veranstalter sich gegen alle Formen der Diskirminierung, darunter israelbezogenen Antisemitismus nach der IHRA-Definition aussprechen, bevor sie in den Genuss von Subventionen gelangen. Es gehe doch nur darum, BDS-Positionen auszuschließen, meint Winter, also Künstler, die fordern, dass andere Künstler boykottiert werden: Aber "keiner der Texte kann präzise benennen, was die schrecklichen Verwerfungen sein sollen, die ein Bekenntnis gegen israelbezogenen Antisemitismus mit sich bringen soll. Warum es überhaupt ein Problem ist, dass der deutsche Staat keine Personen fördern möchte, die einen demokratischen Staat wie Israel delegitimieren wollen, blieb sogar auf Nachfrage unbeantwortet."
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