9punkt - Die Debattenrundschau

Was denken sich diese Leute?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2024. Auf Zeit Online ermahnt Timothy Garton Ash Europa, die Ukraine nicht zu vergessen. Höhere Rüstungsausgaben begünstigen nur soziale Ungleichheit, glaubt Christoph Butterwegge in der FR. Ebenfalls in der FR vermisst Colin Crouch einen "echten Konservatismus", der vor Rechtsextremen schützt. In der NZZ ist Zeruya Shalev fassungslos über eine Linke, die die Friedensaktivisten in Israel im Stich lässt. Argentiniens Präsident Javier Milei will auch vergewaltigten Frauen Schwangerschaftsabbrüche verwehren, berichtet die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.02.2024 finden Sie hier

Europa

In einem von Prospect übernommenen Artikel auf Zeit Online mahnt Timothy Garton Ash, auch angesichts des Kriegs in Nahost, den Krieg in der Ukraine nicht zu vergessen. "Die Ukraine hat sich für Europa entschieden. Jetzt muss sich Europa für die Ukraine entscheiden", schreibt er und drängt auf verstärkte europäische Unterstützung für die Ukraine, denn: "In Wirklichkeit sind weder Russland noch die Ukraine im Moment bereit, in Verhandlungen einzutreten oder den Konflikt einzufrieren. Sollte allerdings die gegenwärtige Grenzlinie oder etwas Vergleichbares jemals eingefroren werden, dann könnte Putin das als großen Sieg für sich reklamieren. Und es wäre eine gewaltige Niederlage für die Ukraine. Millionen ukrainischer Männer und Frauen stünden vor der Wahl: Entweder könnten sie niemals in ihre Heimat zurückkehren oder müssten unter einer verhassten russischen Diktatur leben, eine Sprache sprechen, die sie nicht mehr sprechen wollen, und dabei zusehen, wie ihre Kinder in der Schule mit einer grotesken Verfälschung ihrer eigenen Geschichte indoktriniert werden. Die Restukraine wäre enttäuscht, entmutigt und entvölkert - Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg aus ihrem Land geflohen sind, würden ihr Leben dauerhaft im Ausland einrichten, und zu Hause würde der Populismus wüten, mit Zwietracht nach innen und bitteren Anklagen an den Westen."

Indes warnt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge in der FR vor höheren Rüstungsausgaben - eine militärische Bedrohung Deutschlands durch Russland oder einen anderen Staat sei nicht erkennbar. Es sei "absurd zu glauben, russische Truppen könnten ein Nato-Mitglied wie Deutschland angreifen, gelang es ihnen doch bisher nicht einmal, größere Teile der militärisch weit schwächeren Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen. Widersinnig ist es, das Ausmaß der Rüstungsanstrengungen eines Landes vom Bruttoinlandsprodukt, also von seinem Wirtschaftswachstum, statt von der militärischen Bedrohungslage abhängig zu machen. Jedenfalls verstärkt Aufrüstung die soziale Ungleichheit, denn sie macht die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Hauptprofiteure der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende sind die Großaktionäre deutscher und US-amerikanischer Rüstungskonzerne. Dass ihr fast zwangsläufig eine sozialpolitische Zeitenwende folgt, wird zur Senkung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit führen."

Sehr ausführlich blicken die Politikwissenschaftler Joachim Krause und Karl Kaiser in der FAZ derweil auf das ambivalente Verhältnis deutscher Regierungen von Adenauer bis Kohl zur nuklearen Bewaffnung zurück, um zu dem Schluss zu kommen: "Deutschland hat heute nicht mehr die Möglichkeit, nukleare Ambivalenz als Hebel in der internationalen Politik einzusetzen. Mit dem Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Kernenergie ist diese Option verloren. Es bleibt nur zu hoffen, dass es zu keiner Situation kommen wird, in der dieser Hebel schmerzlich vermisst werden könnte."

2024 finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Die Opposition drohe dabei wegen interner Streitigkeiten die Stadt Istanbul an Erdogan zu verlieren, warnt der türkische Journalist Yavuz Baydar im Tagesspiegel: Dabei sei es für die Opposition fatal, dass sich das parteiübergreifende Bündnis gegen Erdogan aufgelöst hatte. "Aktuell gibt es allein in Istanbul sechs Kandidaten. Weitere werden folgen. Die derzeitige Kandidatenaufstellung ist ein Alptraum für Ekrem Imamoglu, den aktuellen Bürgermeister von Istanbul, der als die letzte Hoffnung gilt, Erdogan herauszufordern. Dass seine Partei, die CHP, immer noch in einem Sumpf von Machtkämpfen steckt, ist dabei weniger wichtig als die grundlegenden Zahlen, die jetzt nicht mehr stimmen. Imamoglu hatte die Wahlen 2019 knapp gewonnen: Sein Sieg wäre nicht möglich gewesen, wenn sich nicht große Teile der kurdischen Wähler mit den Wählern der nationalistischen Oppositionspartei IYIP zusammengetan hätten. Letztere ist inzwischen aus dem Oppositionsbündnis ausgetreten."

"Die Nationalisten sind fast überall in Europa auf dem Vormarsch, was sehr beunruhigend ist", sagt der französische Außenminister Stéphane Séjourné, der an diesem Montag Außenministerin Baerbock und den polnischen Außenminister Sikorski zu einem Weimarer Dreiecksgipfel trifft, im FAZ-Gespräch: "Es gibt einen Faktor, den wir an diesem Montag gemeinsam anprangern werden: die russische Erzählung von einem dekadenten Europa. Sie erleben das auch in Polen. Als ob der Westen in seiner Lebensweise, in seiner im politischen Sinne liberalen Gefasstheit völlig dekadent wäre. Es muss ein politischer und kultureller Kampf geführt werden, um ins Bewusstsein zu rufen, dass unsere Lebensweise eine Chance ist."

In der taz resümiert Jens Uthoff einen von Max Czollek und Sasha Marianna Salzmann kuratierten Abend im Berliner Haus der Kulturen der Welt zum Thema "Utopie Osteuropa", bei dem vor allem eines klar wurde: "Der Osten wird viel zu sehr als etwas Einheitliches gesehen." Das gelte nicht nur für den deutschen Osten, sondern beispielsweise auch für die Ukraine, wie die ukrainische Schriftstellerin Yevgenia Belorusets darlegt: "Sehr viele unterschiedliche Erfahrungen seien in der Ukraine nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs gemacht worden, 'viele davon unbenannt'. Die Ukraine werde oft in vereinfachten Narrativen abgebildet, sei aber multiethnisch und heterogen. 'Seit 2014 ist der innere Dialog, der in der Ukraine geführt wurde, durch eine äußere Intervention unterbrochen worden.' Belorusets drängt auf Bewältigung der jüngeren Vergangenheit: "Welche Fehler wir alle gemacht haben, dass dieser Krieg geschehen konnte, sollten wir uns immer wieder fragen.'"
Archiv: Europa

Gesellschaft

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Im NZZ-Gespräch mit Birgit Schmid zeigt sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev, deren früher Roman "Nicht ich" gerade auf Deutsch veröffentlicht wurde, fassungslos über eine Linke, die die Taten der Hamas nicht verurteilt. "Wie kann man sich links nennen und eine Terrororganisation verharmlosen, die schlimmste Kriegsverbrechen begeht, die homosexuelle Leute hängen lässt und Frauen keine Rechte gibt? (...) Mir kommt es vor, als stehe die Welt auf dem Kopf. Was denken sich diese Leute? Sie leben in Sicherheit und Frieden. Niemand attackiert sie, niemand entführt ihre Kinder, niemand vergewaltigt ihre Frauen, niemand schiesst mit Raketen auf sie. Israelische Künstler und Musiker setzen sich für ein friedliches Zusammenleben zwischen Arabern und Israeli ein. Unter ihnen sind viele Friedensaktivisten. Und diese will man nun so bestrafen?"

In den Wissenschaften wird nicht gecancelt, ein gewisses Maß an Skepsis muss aber jeder Wissenschaftler ertragen, schreibt die Ökonomin Margit Osterloh in der NZZ. Dazu führt sie den Fall der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus, die 2022 erst verspätet einen Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit an der Humboldt Universität halten durfte (Unsere Resümees). "Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Erstens, es wurden schon immer unliebsame Wissenschaftler zensiert (...). Aber heute muss bei uns niemand den Schierlingstrunk nehmen wie Sokrates, seine Forschungsergebnisse widerrufen wie Galileo Galilei oder ins Gefängnis gehen wie Wilhelm Reich. Freilich gibt es immer erhebliche persönliche Opfer, etwa psychischen Stress durch Shitstorms, den kleinen Bruder der Cancel-Culture. Aber häufig profitieren die Betroffenen sogar auf die Länge. Marie-Luise Vollbrecht hat mittlerweile einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht, der ihrer akademischen Karriere förderlich sein wird."

"Dem Konservatismus vom alten Stil, besonders dem Christdemokratismus, mangelt es an kultureller Modernität", sagt der britische Soziologe Colin Crouch im FR-Gespräch. Dabei brauchen wir "echten" Konservatismus, "der an den Rechtsstaat und an die soziale Diversität glaubt", weil er vor Rechtsextremen schütze. Aber: "Heute aber verändert sich etwas. Die schwedischen Konservativen nehmen die Unterstützung der Rechtsextremisten an, um eine sozialdemokratische Regierung zu verhindern. Die niederländischen Liberalen (die in Wirklichkeit Konservative sind) spielen mit der Idee einer Koalition mit Extremisten. Auch die spanischen Konservativen denken so. In Großbritannien und den Vereinten Staaten, wo die Wahlsysteme den Aufstieg von neuen Parteien hemmen, müssen die Extremisten eine existierende konservative Partei übernehmen. In Amerika haben sie es geschafft; bei den britischen Konservativen wird der Streit darüber noch geführt."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Gegen alle Warnungen hält Israels Regierung an einer Militäroffensive in Rafah fest, der Vorstoß könnte auch Folgen für die regionale Stabilität haben, warnt Felix Wellisch in der taz: "Das benachbarte Ägypten erwägt laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AP, im Falle einer Offensive israelischer Truppen in Rafah, den Friedensvertrag zwischen beiden Ländern auszusetzen. Ägypten hatte mit dem Camp-David-Abkommen als erster arabischer Staat Israel anerkannt und 1979 Frieden geschlossen. Dessen Aussetzung wäre ein schwerer Schlag für Israels Sicherheit. Berichten zufolge verlegte die ägyptische Armee 40 Panzer und Truppentransporter an die Grenze nach Gaza."

Die taz lässt außerdem Geflüchtete aus Rafah zu Wort kommen, etwa Hatem Medhat Ghoul: "Die Umgebung hier macht uns ganz krank: Wir haben Allergien wegen des Wassers, unsere Körper sind ausgetrocknet wegen der Unterernährung. Wir haben Glück momentan, weil es nicht mehr ganz so kalt ist. Wenn wir Decken haben, geben wir sie den Kindern, und wir Erwachsenen tragen zwei Hosen und versuchen uns mit unserer Kleidung warm zu halten. Ich bitte die Menschen von außerhalb: Schaut auf uns mit Augen der Barmherzigkeit. Wir verdienen es nicht zu sterben. Wir wollen in Gaza bleiben und nicht emigriere, und dafür bezahlen wir nun den Preis. In der ganzen arabischen Welt sind wir die einzigen Menschen, die diesen Preis bezahlen müssen."

Der neue argentinische Präsident Javier Milei will das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch für Frauen massiv einschränken, berichtet Frederik Schindler in der Welt. "Selbst vergewaltigten Frauen sollen Schwangerschaftsabbrüche verwehrt werden. Dies ist ein schlicht menschenverachtendes Vorhaben, das erneut Frauen bestraft, denen gerade die Selbstbestimmung über ihren Körper mit Gewalt genommen wurde. Sie sollen gezwungen werden, die Kinder ihrer Vergewaltiger zu gebären und sich damit permanent an ihr erlebtes Grauen zu erinnern. Ausschließlich bei einer akuten Gefahr für das Leben der Mutter wären Abtreibungen erlaubt. Die Gesetzgebung würde damit auf den Stand von 1921 zurückfallen."
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Medien

Dass Alexandra Föderl-Schmid übernommene Passagen in journalistischen Texten nicht kenntlich gemacht hat (Unsere Resümees), ist nicht schön, ein "Weltuntergang" ist es nicht, schreibt Steffen Grimberg in der taz. Schlimmer ist, was die SZ daraus gemacht hat, fährt er fort: "Problematisch wird es, wenn die SZ deswegen nach einem Maulwurf sucht wie nach den Panama Papers. Das schießt deutlich übers Ziel hinaus und zeugt von einer höchst ungesunden Nervosität in den eigenen Reihen. Ja, Redaktionskonferenzen und dergleichen fallen unters Redaktionsgeheimnis. So weit die Theorie, die Praxis sah schon immer ein bisschen anders aus. Das Problem liegt aber woanders: Was ist das für eine Stimmung und Haltung in einem Laden, wenn dort alles in angeblich voller Länge nach draußen gereicht wird? Und der dann mit zu Recht umstrittenen Aktionen wie dem Massenabgleich von IP-Adressen reagiert?"

Auf TikTok findet nach dem 7. Oktober eine "TikTok Intifada" statt, erklärt Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, im SZ-Interview mit Vera Schroeder. Schnabel beobachtete dabei eine starke Radikalisierung von zunächst unpolitischen Accounts, die aber schnell ohne Bedenken neue antisemitische Codes mit ihren Followern teilten. "Es gibt große allgemeine Bildungslücken bei diesem Thema. Wir sprechen als Gesellschaft insgesamt wenig über aktuelle Formen des Antisemitismus. Wenn es um Antisemitismus geht, dann um die Shoah oder das Thema Erinnerungskultur. Gerade im Netz weitverbreitete aktuelle antisemitische Codes sind wenig bekannt, auch wie antisemitische Äußerungen mit Emoticons oder Auslassungen verklausuliert werden, um die automatisierte KI-Zensur zu umgehen. Da schreibt man 'seis juden' als Variante von 'scheiß' oder wählt die Verbindung der israelischen Flagge mit einem Schuh oder einer Toilette und Blitz-Emojis als Symbol für die SS."
Archiv: Medien