9punkt - Die Debattenrundschau

Die Deutschen träumten noch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2024. In Belarus sind bereits fünf Oppositionelle in Haft gestorben, zuletzt Ihar Lednik, berichtet die FAZ. In der NZZ erinnert Sergej Gerassimow an das erste ukrainische "Guernica" 1708. Die SZ fragt sich, ob die verfehlte deutsche Russlandpolitik noch jemals aufgearbeitet wird. Die Welt fragt, ob Correctiv wirklich unabhängig ist. Die NZZ erklärt, warum es in China so viele leerstehende Wohnungen gibt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2024 finden Sie hier

Europa

In Paris fand ein Gipfel zur Ukraine-Unterstützung statt, wo eine Äußerung Emmanuel Macrons Aufsehen erregte: Es gebe keinen Konsens darüber, westliche Truppen in die Ukraine zu schicken, aber "nichts ist ausgeschlosssen". Macron sagte auch: "Wir wollen keinen Krieg mit dem russischen Volk, wir sind entschlossen, die Kontrolle über die Eskalation zu behalten. Pierre Haski analysiert Macrons Äußerungen in seiner Kolumne in France Inter: "Sie werden bemerkt haben, das es eine Nuance gibt zwischen 'einem Krieg mit dem russischen Volk' und mit seinem Regime, dem von Putin, der nicht namentlich genannt wird. Wir sind weit entfernt vom ersten Jahr des Konflikts, als der französische Präsident Wladimir Putin schonte und 'Russland nicht demütigen' wollte. Die Zeiten haben sich wirklich geändert."

Das Versagen der deutschen Russlandpolitik ist bis heute nicht aufgearbeitet worden, hält Daniel Brössler in der SZ fest. Und Zweifel, ob Scholz die Zeitenwende wirklich ernst nimmt, hat Brössler auch: "Wenn Olaf Scholz trotz aller großen Unterstützung der Ukraine effektive Waffensysteme wie den Marschflugkörper Taurus mit Verweis auf die Reichweite und angeblich vom Grundgesetz diktierte Beschränkungen verweigert, mischt sich im Osten Europas in die Kritik daran der Verdacht, die Deutschen träumten noch von einer Neuauflage der Minsker Abkommen. Dabei kann es seit der Zeitenwende keinen Zweifel mehr geben an den Absichten Putins."

In Belarus ist "gewählt" worden, Gegenkandidaten zu Lukaschenko gab es nicht, die Opposition sitzt im Gefängnis, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. "In der vergangenen Woche ist Ihar Lednik in der Gewalt des Regimes gestorben. Er war damit schon mindestens der fünfte Häftling seit 2022, den die ihrerseits verfolgten Menschenrechtsaktivisten von 'Wjasna' als politischen Gefangenen eingestuft haben, dem dies geschah. Der 64 Jahre alte Lednik war trotz eines bekannten Herzleidens im April 2022 inhaftiert worden. Er hatte in einem Artikel die frühere Neutralität von Belarus als Sicherheitsgarantie bezeichnet und gefordert, den Unionsstaat mit Russland aufzulösen. Dafür wurde er wegen 'Beleidigung Lukaschenkos' zu drei Jahren Haft verurteilt. ... Befürchtet wird, dass diese fünf Todesfälle, von denen vier im vergangenen Dreivierteljahr verzeichnet wurden, nur 'die Spitze eines Eisbergs der Gewalt' sind, so die KAS [Konrad-Adenauer-Stiftung]. Zu den 1412 politischen Gefangenen, die 'Wjasna' derzeit zählt, dürften noch Tausende weitere dazukommen."

Die umstrittene Begnadigung eines Pädophilie-Mittäters könnte Viktor Orban gefährlich werden, meint im Interview mit der taz die Politologin Andrea Pető. Aber sicher ist das nicht, auch wenn letztes Wochenende 100.000 Menschen auf die Straße gingen: "Dass der Amnestie-Fall solche Wellen schlägt, zeigt, wie wichtig die verbliebenen unabhängigen Medien weiterhin sind. Für die bisher größte Demonstration, die Sie ansprechen, hatten jedoch Youtuber und Influencer mobilisiert. Die klassische Zivilgesellschaft hingegen ist leer und fragil, es gibt kaum unabhängige, kritische Organisationen. Und ihre Arbeit wird ihnen zunehmend schwergemacht, etwa von dem neuen Gesetz gegen 'ausländische Agenten' nach russischem Vorbild. Damit können jene überwacht werden, die die Regierung nicht unterstützen. Vor allem aber geht es um Einschüchterung."

Auch nach dem Krieg wird der Hass zwischen Russen und Ukrainern kein Ende finden, dafür wurzelt er zu tief, befürchtet Sergej Gerassimow in der NZZ mit Blick in die Geschichte: "Am 2. November 1708, um 6 Uhr morgens - schon damals griffen die Russen gerne frühmorgens an - starteten feindliche Truppen unter der Führung von Menschikow, einem Günstling von Zar Peter dem Großen, einen Angriff auf die ukrainische Stadt Baturin. Zwei Stunden später war die Stadt eingenommen, aber nicht dank dem Mut der Russen, sondern weil ein Verräter dem Feind einen unterirdischen Gang gezeigt hatte, der zur Festung führte. Darauf schlachteten die Russen alle (bis zu 15 000) Einwohner von Baturin ab. Vor ihrer Hinrichtung wurden die ukrainischen Kosaken auf die raffinierteste Weise gefoltert. Selbst Vlad Dracula wäre nie darauf gekommen: Ihre verstümmelten Körper wurden auf Flöße gelegt, die man den Fluss hinuntertreiben ließ, um alle Anwohner einzuschüchtern. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden in Stücke gehackt, gerädert oder aufgespießt. Das Massaker von Baturin ist das erste ukrainische 'Guernica', es fand früher statt und war zehnmal so blutig wie das spanische. Und es war zwanzigmal so blutig wie Oradour-sur-Glane und vierzigmal so blutig wie Lidice."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Boykotte - ob von Israelkritikern oder -verteidigern - bringen doch nichts, vor allem unterdrücken sie jede Debatte, meinen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in der FAZ und fordern etwas mehr Mut von den Kulturinstitutionen: "Sie sind massivem Druck einerseits von der Politik und andererseits von Aktivisten ausgesetzt. Deshalb sollten sie Boykottforderungen ablehnen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Wenn sie einknicken, hat dies nicht nur Konsequenzen für die jeweilige Institution, sondern für unsere Demokratie, die sich dadurch auszeichnet, dass Kontroversität nicht nur zugelassen, sondern ausdrücklich erwünscht ist."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Israelkritik, Mendel, Meron

Medien

In der Welt fächert Christian Meier die zahlreichen Zuwendungen auf, die Correctiv als gemeinnützige GmbH erhält. Neben Spenden und Geldern von Stiftungen erhält Correctiv für Bildungsprojekte auch öffentliche Fördermittel, etwa vom Bundesministerium für Bildung und Forschung oder der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Infolgedessen wird nun auch der Vorwurf erhoben, "Correctiv arbeite nicht unabhängig, sondern im Auftrag der Bundesregierung, um die AfD zu schwächen", so Meier weiter, der Zweifel an der Sachlichkeit der Berichterstattung rund um die Enthüllungen zum Potsdamer Treffen nicht ganz entkräften kann. Denn die Recherche wurde "mit eigenen Interpretationen aufgeladen. Historische Parallelen zum 'Madagaskar-Plan' und zur Wannseekonferenz werden gezogen - um sogleich festzustellen, dass unklar ist, ob diese Analogien von den Teilnehmern mitgedacht wurden. Doch die Bilder waren damit gesetzt - und wurden in die mediale Verarbeitung wie selbstverständlich aufgenommen. Solche Interpretationen und Analogien zu verwenden, ist zulässig. Doch Reportage und Deutung liegen hier direkt nebeneinander."

Wenn ein Journalist Kriegsverbrechen des russischen Militärs und der russischen Geheimdienste veröffentlicht und Schutz in einem westeuropäischen Land gesucht hätte - würden die Gerichte ernsthaft ein Auslieferungsverfahren an Moskau wegen Spionage in Erwägung ziehen, fragt der Autor Fabian Scheidler in der Berliner Zeitung mit Blick auf den Fall Assange: "Die Enthüllungen von Whistleblowern wie Edward Snowden und Chelsea Manning und von Journalisten wie Julian Assange haben gezeigt, dass im Schatten des sogenannten Kriegs gegen den Terror in den vergangenen Jahrzehnten ein gewaltiges Paralleluniversum entstanden ist, das mit dem illegalen Ausspionieren der eigenen Bürger und der willkürlichen Einkerkerung, Folterung und Tötung von politischen Gegnern beschäftigt ist. Diese Welt entzieht sich größtenteils der demokratischen Kontrolle, ja sie höhlt die demokratische Ordnung von innen aus."
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Politik

Chinas Wirtschaft ist eingebrochen, vor allem der Immobiliensektor schwächelt: 2021 stand fast ein Viertel aller Wohnung leer, schreibt der Volkswirtschaftler Beat Hotz-Hart in der NZZ. Ein neues Wachstumsmodell braucht mehr Binnenkonsum, was in China allerdings schwer durchzusetzen ist, fährt er fort, denn: "Eine höhere Konsumquote setzt einen Rückgang der Sparquote voraus, die in China traditionell sehr hoch ist. Gespart wird zum Beispiel, um sich eine Wohnung kaufen zu können. Man spart, um sich gegen die vielen Risiken des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, aber auch Alter und Gebrechlichkeit abzusichern. Böte der Staat durch höhere Renten und bessere Sozialleistungen ein gewisses Schutzniveau, dürfte die Sparquote sinken. Der Aufbau solcher Systeme braucht aber Zeit, Geld und Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Leistungen. Die Kommunistische Partei Chinas hat mit dem 'gemeinsamen Wohlstandsprogramm' Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Dieses wurde jedoch weitgehend wieder zurückgezogen, obwohl es aufgrund der Alterung der Gesellschaft und der Schwächung des Familienverbunds dringend nötig wäre. Xi Jinping wendet sich gegen Formen der sozialen Wohlfahrt, diese sei eine populistische Politik, verursache hohe Sozialausgaben und schaffe faule Menschen, die keinen Beitrag zur Wirtschaft leisten würden."

Argentiniens Präsident Javier Milei streicht der Kultur die Subventionen, was für viele Institutionen das Aus bedeuten könnte, berichtet Tobias Käufer in der Welt: "Argentiniens Kulturszene, so heißt es ... aus dem Milei-Lager, sei eng mit dem linksperonistischen Lager verbunden. Im Gegenzug für staatliche Subventionen gäbe es aus Reihen der Kultur Kritik an libertären oder konservativen Politikvorstellungen. Milei spricht von einem staatlichen geförderten Propagandaapparat, den sich der Peronismus geschaffen habe. Das sei nicht der Fall, widerspricht Theaterdirektor Javier Margulis im Gespräch mit Welt. 'Im Allgemeinen ist die unabhängige Kultur links, aber es ist nicht wahr, dass sie peronistisch ist.' Er kenne viele Theater, die damit nichts zu tun hätten. In den Theater- und Schauspielverbänden gäbe Schauspieler aller politischen Richtungen, die arbeiten und sich engagieren: 'Sie sind nicht alle Peronisten.'"
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Ideen

Salonkolumnist Bernd Rheinberg weitet nach dem Berlinale-Eklat den Fokus und blickt auf den deutschen Kulturbetrieb insgesamt, dem er "ästhetisches Desinteresse und Infizierung durch das Virus Politik" attestiert: "Es sind vor allem die politischen Ergüsse der Sozialwissenschaften, die der künstlerischen Kreativität die Pinsel, Federn und Kameras führen. Wenn die Kunst zur Magd der Politik wird, dann hat das zur Folge, dass junge Künstler, weil ihnen die eigenen Ideen fehlen oder sie das Risiko des echten Eigensinns scheuen, ihre Entwicklung nicht im Reich der Freiheit beginnen, sondern in der gedanklichen und ästhetischen Enge des politischen Dogmas, das sich gerade als Trend pandemisch verbreitet."
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Gesellschaft

In der FAZ regt sich Jürgen Kaube über das Canceln im Allgemeinen und die Umbenennung der Otfried-Preußler-Schule in Pullach (mehr dazu hier) im Besonderen auf: "Es ist wie bei anderen Beispielen für das Canceln: Sie sind von einer solchen Dummheit, dass es wehtut. Der Name des größten deutschsprachigen Kinderbuchautors, er soll nicht mehr zu einer Schule passen. Und Jim Knopf, ein Buch gegen Rassismus durch und durch, wird in Text und Bild so lange nachbearbeitet, bis man glaubt, keinen Vorwurf aus der Abteilung des 'sensitivity reading' fürchten zu müssen. Den Nachweis, dass die um Worte wie 'Neger' (verwendet nur von einer als 'Untertan' bezeichneten Figur) oder 'Indianer' bereinigten Ausgaben zu mehr Toleranz, weniger Vorurteilen und weniger Verletzungen führen, erspart man sich. Hauptsache, die Erwachsenen haben ein gutes Gewissen."
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