9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Geld für Benzin

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2024. Der 7. Oktober war für Israel eine Holocaust-Erfahrung, sagt Joshua Sobol in der FAZ und besteht auf Israels Recht auf Selbstverteidigung. Für den Iran war der 7. Oktober ein Propagandaerfolg, sagt der Konfliktforscher Tareq Sydiq in der taz - der leider auch fürchtet, dass die Mullahs vor den iranischen Wahlen sehr fest in ihrem Sattel sitzen. Die Preußen-Stiftung ist ein Riesen-Apparat mit einem lächerlichen  Ausstellungsetat, und daran ändert auch Joe Chialo nichts, fürchtet die Welt. Im Tagesspiegel bezeichnet Stefan Aust die dritte Generation der RAF  als "unpolitisch".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2024 finden Sie hier

Europa

Ach, warum lässt der Staat diese harmlosen Terrorrentner von der RAF nicht endlich in Ruhe, fragte ein gemütlich gestimmter Jürgen Gottschlich gestern in der taz (unser Resümee). Heute muss Konrad Litschko die Nachricht nachreichen, dass bei Daniela Klette ein ganzes Waffenarsenal sichergestellt wurde: "Teile einer Panzerfaustgranate, eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, eine Kurzwaffe und Munition".

"Die dritte Generation ist eigentlich unpolitisch", meint RAF-Experte Stefan Aust, der im Tagesspiegel-Gespräch allerdings zugleich an deren Morde erinnert und einräumt, dass wir eigentlich kaum etwas wissen: "Wenn jemand lange im Untergrund ist, dabei mit ausländischen Nachrichtendiensten in Kontakt steht, etwa mit den Palästinensern, wenn es auch die Möglichkeit gibt, bei denen für den Kampf zu trainieren, dann weiß diese Person irgendwann, wie es geht. Wie man keine Fingerabdrücke hinterlässt und vieles anderes. Das waren Vollprofis."

Das Recht auf Abtreibung wird nach Abstimmungen im französischen Parlament und Im Senat wahrscheinlich in die französische Verfassung geschrieben, berichtet Rudolf Balmer in der taz: "Frankreich wird damit das erste Land der Welt, in dem die Verfassung Frauen das Recht auf die Abtreibung garantiert. 'Das Gesetz bestimmt die Bedingungen, unter denen die den Frauen garantierte Freiheit auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch ausgeübt wird', soll es dort in Zukunft heißen."

Charlie Hebdo zeigt die Reaktionen bestürzter Kleriker: "Man hat uns ihren Bauch weggenommen."


Wieder einmal gab es in der Türkei ein Grubenunglück, wieder einmal kamen Arbeiter ums Leben. Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne das Ausmaß der Korruption, bis es zu diesem Unfall kam. Unter anderem hat er damit zu tun, dass das Erdogan-Regime nehestehenden Unternehmen eine ganze Flut an Bergbaulizenzen erteilt hat: "Sind wir dank dieser Lizenzflut nun an wertvolle Bodenschätze gekommen und schwimmen im Wohlstand? Leider nicht. Wir sind ärmer als zu jenen Zeiten, als Erdogan an die Regierung kam. Während sich gewisse Leute die Taschen füllen, bleiben uns die Umweltkatastrophen und Todesfälle."

"Der russische Staat agiert mit der Brutalität eines pathologischen Idioten", schreibt der russische, im Exil lebende Schriftsteller Sergei Lebedew, der in der NZZ schildert, wie die russische Gesellschaft in Folge des "totalitären Anspruchs" des Staates auf seine Bürger immer mehr in Gleichgültigkeit und Angst versinkt. Die brutalen Repressionen gegen die LGBTQ-Community sind bekannt, derweil wird ein partielles Abtreibungsverbot diskutiert. Und: "Die Gesellschaft bröckelt. Mittlerweile kehren ehemalige Häftlinge, die in Gefängnissen für den Kampf in der Ukraine rekrutiert wurden und ihren Dienst abgeleistet haben, in ihre russische Heimat zurück. Sie sind begnadigt worden, haben ihre Rechte zurückgewonnen - als Lohn für weitere Untaten, sprich für die Tötung von Ukrainern. Dmitri Peskow, Putins Pressesprecher, gebrauchte dafür nicht zufällig den Begriff 'Blutbuße'. Unter den Rückkehrern gibt es kaltblütige Sadisten, Serienmörder und Triebtäter. Sie kehren dahin zurück, wo sie vor kurzem noch verhaftet und verurteilt wurden. Dank ihrer Beteiligung am verbrecherischen Krieg sind sie 'rein'. Nun leben sie wieder in Nachbarschaft der Angehörigen ihrer Opfer. In Nachbarschaft aller."
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Gesellschaft

In der SZ rechnet Ronen Steinke ab mit linken Jüdinnen wie Deborah Feldman oder Susan Neiman, die über jüdische Menschen in Deutschland spotten. Vor allem Feldman beschreib die jüdische Gemeinde in Deutschland als "bloß mit Konvertiten künstlich aufgefüllte, weitgehend hinterwäldlerische Veranstaltung, die mit 'authentischem' Judentum wenig zu tun habe", erinnert Steinke: "Sie kommen aus einer Welt, in der Juden keine strauchelnde Minderheit sind, sondern gut etablierter Teil der Gesellschaft. Feldman hat mit ihrer Familie zu Hause Jiddisch gesprochen. Sie hat großes religiöses und kulturelles Wissen angehäuft, in einem Alter, in dem jüdische Kinder in der deutschen Provinz vielleicht eher noch verunsichert versucht haben, einen Spagat zwischen Adventskalender und Chanukka-Leuchter hinzubekommen. Oder mit den muslimischen Kindern gemeinsam im Ethikunterricht abgestellt waren."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Joe Chialo gibt zwar mehr Geld für Kultur aus als sein Vorgänger Klaus Lederer, aber viel haben die Berliner Museen nicht davon, weiß Boris Pofalla in der Welt: Das betrifft auch die größten Museen in der Stadt. Sie sind Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für deren Unterhalt vor allem der Bund sorgt - Berlin trägt zum 370 Millionen Jahresbudget der Stiftung um die 47 Millionen Euro bei. Insgesamt sind es laut einer Münchner Beratungsfirma aber mindestens 66 Millionen Euro und 400 Stellen zu wenig. Und so herrscht Sparzwang. Die neunzehn Einrichtungen der Staatlichen Museen teilen sich eine einzige Pressestelle - und einen Ausstellungsetat von 4,8 Millionen Euro, wozu die Eintrittsgelder zwei Drittel beitragen - Summen also, die immer erst kurzfristig feststehen. Dieses Geld ist wohlgemerkt für alle gemeinsam vorgesehen: die sechs Häuser der Museumsinsel und die Neue Nationalgalerie, die Gemäldegalerie, den Hamburger Bahnhof, die Sammlung Berggruen… Das ist nichts anderes als ein Witz." Stattdessen fließt das Geld in überteuerte Prestigebauten, so Pofalla weiter: "Es ist, als würde man in Berlin exklusive Sportwagen sammeln, ohne Geld für Benzin zu haben."

Laut einen vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste durchgeführten Bericht liegen in 39 Museen und anderen Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 19.000 Objekte aus Namibia, meldet Jörg Häntzschel in der SZ: "Dass in den Museen so viele namibische Objekte liegen, sei erstaunlich, so Larissa Förster, eine der Leiterinnen des Projekts, 'besonders wenn man sie mit den Beständen des namibischen Nationalmuseums vergleicht', das nur 1600 Objekte besitzt. 'Ich hatte nur mit ein paar tausend Objekten gerechnet', sagt sie. Tatsächlich ist die Zahl aber nur ein Annäherungswert. In praktisch allen deutschen Museen liegen viele Objekte, die nie oder falsch inventarisiert wurden, und andere, die in den Inventaren erscheinen, aber inzwischen verloren oder kaputt gegangen sind oder im Krieg zerstört wurden. Außerdem haben etliche weitere Museen kleinere Namibia-Bestände."
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Politik

Der 7. Oktober war wie eine Holocaust-Erfahrung, sagt der Dramatiker Joshua Sobol im Gespräch mit Grete Götze in der FAZ, "auch wenn es viel weniger Menschen betroffen hat. Aber es hatte es den Geruch davon". In sehr deutlichen Worten besteht er auf dem Recht Israels auf Selbstverteidgung gegen eine faschistische Truppe, die alle Juden auslöschen will: "Ihre Ideologie kann man nicht zerstören. Aber sie haben einen Krieg begonnen, dann muss man bereit sein, eine Antwort zu bekommen, mit einer großen Zerstörung rechnen. Leider haben das viele Zivilisten mit dem Leben bezahlt. Aber es gibt auch eine kollektive Verantwortung auf Seiten der Palästinenser. Die Massen haben gejubelt, als die vergewaltigten Frauen in den Gazastreifen gebracht wurden. Vor dem Krieg waren die meisten dort Hamas-Anhänger. Jetzt verstehen sie vielleicht, dass sie ein System unterstützt haben, dass ihrem Schicksal gegenüber gleichgültig ist." Sobol hofft, dass der Krieg innerhalb von zwei Monaten endet. Dann hofft er, dass Netanjahu gekippt wird: "Der Ärger der Menschen zwischen 20 und 45 ist so groß, dass sie sagen werden: 'Schluss mit Netanjahu'. Es wird Neuwahlen geben."

"Am 7. Oktober 2023 erreichte Israels Politik ihren Tiefpunkt", schreibt Jakob Hessing, 1944 im Versteck eines KZ-Außenlagers als Sohn ostjüdischer Eltern geborener Germanist, der im Tagesspiegel indes nachzeichnet, wie Netanjahus Machtpolitik ihn zunehmend blind machte: "Er glaubte schon, seine kleine Diktatur errichten zu können, und sah nicht mehr, was vor seinen Augen geschah. Man hätte vielleicht erwarten können, dass der Schock des 7. Oktober auch bei ihm zu einem anderen Verhalten führen würde. Wer Netanjahu kannte, machte sich da keine Illusionen, aber selbst die Skeptiker waren überrascht, mit welcher Kaltblütigkeit er sofort die Situation zu seinen Gunsten wendete. Seit Ausbruch des Krieges zieht Netanjahu alle Register der Manipulation, die für ihn immer bezeichnend waren. Jede Verantwortung für die Katastrophe, die über Israel hereingebrochen ist, lehnt er ab und schiebt sie dem Militär zu…"

Im Iran stehen Wahlen zum Parlament und zum sogenannten Expertenrat an, der gegebenenfalls einen Nachfolger für Ajatollah Chamenei wählen müsste. Das Regime der Mullahs sitzt leider Gottes fest im Sattel, sagt der Konfliktforscher Tareq Sydiq im Gespräch mit Jannis Hagmann von der taz: "Statt durch Wahlen ein Ventil zu schaffen, durch das Unzufriedenheit artikuliert werden kann, setzt das Regime auf Repression. Es hat vom Versuch Abschied genommen, Massenlegitimation herzustellen und ist von vornherein auf gesellschaftliche Widerstände eingestellt. Auch 2022 war man gut vorbereitet." Mit Blick auf den 7. Oktober sieht Sydiq das Regime als Gewinner: "Während die Hamas für das Massaker einen hohen Preis zahlt, kann Iran einen Propagandaerfolg für sich verbuchen, ohne viel zu verlieren. Auch wurde die Annäherung von Israel und Saudi-Arabien ausgebremst, was für das Regime eine gute Nachricht ist. Außenpolitisch profitiert es also. Allerdings ist das Eskalationsrisiko in der Region real und da hat auch der Iran einiges zu verlieren."

Während China einer Wiederwahl Trumps entgegenfiebert, fürchten die anderen asiatischen Länder Trump II, glaubt Alexander Görlach in der Welt, denn: Es gibt eben keine "asiatische Nato": Richtig ist, dass von Vietnam bis Japan alle Staaten in der unmittelbaren Nähe eines immer kriegsbereiter auftretenden China ihre bereits seit Jahrzehnten bestehenden Bündnisse und Allianzen mit Washington in den drei Jahren, die US-Präsident Biden regiert, verstärkt haben. Neben der Inselnation Taiwan sind vor allem die Philippinen in der akuten Schusslinie Pekings. Die Kommunistische Partei Chinas möchte sich den Westausleger des Pazifiks unter den Nagel reißen. Doch dieser Teil des Weltmeeres steht unter der Direktion Manilas. Chinas Präsident Xi Jinping hat eine künstliche Insel aufschütten lassen und militarisiert. Von dort aus provoziert seine Marine, die unter seiner Ägide zur größten der Welt aufgerüstet wurde, die philippinische und bedroht gleichzeitig die Güter, die durch diesen Teil des Pazifiks transportiert werden."
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Medien

Philipp Bovermann kommt in der SZ noch mal auf den Rechtsstreit zurück, mit dem Correctiv nach seinem "Remigration"-Coup überzogen wurde (unsere Resümees). Anwälte der Teilnehmer der Potsdamer Konferenz, deren Inhalte Correctiv enthüllt hatte, bombardierten die Gerichte mit eidesstattlichen Erklärungen, die die Recherche in Details bestritten. Gleichzeitig betrieben die Anwälte, zu denen etwa Carsten Brennecke gehört, aber eine "Litigation-PR", die so tat, als sei der Kern der Correctiv-Aussagen strittig: "Den Eindruck, die Behauptungen in den Erklärungen seien das, was im Prozess verhandelt wird, bestärkte Brennecke durch Posts auf X. Als etwa Correctiv den eidesstattlichen Versicherungen nicht widersprach, schrieb er: 'Die Correctiv-Legende zum Potsdam-Treffen ist endgültig widerlegt.'" Bovermann wirft Correctiv aber indirekt auch vor, in manchen Passagen zwischen Fakt und Meinung nicht ausreichend getrennt zu haben.

Can Dündar vergleicht in Zeit online das Verfahren gegen Julian Assange mit seinem eigenen Fall - die Türkei hätte ja ebenfalls gern, dass Dündar an sie ausgeliefert wird. Aber anders als die USA ist die Türkei kein Rechtsstaat, ein wichtiger Unterschied, insistiert Dündar. Denoch: Hinsichtlich der Medien sei das Verfahren gegen Assange wichtig, "weil es die Grenzen von Journalismus abstecken könnte. Denn hier wird es der Justiz und Regierungen überlassen zu bestimmen, wer Journalist ist und wer nicht; zudem ist die Gefahr groß, dass Zensur und Selbstzensur Tür und Tor geöffnet wird, wenn das Aufdecken schmutziger Geheimnisse von Regierungen als schwer zu bestrafendes Verbrechen behandelt wird."
Archiv: Medien