9punkt - Die Debattenrundschau

Es ging um ein Blutbad

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2024. Die Äußerungen Judith Butlers über die Hamas stoßen auf Empörung: Sie spuckt auf Gräber, schreibt Jürgen Kaube in der FAZ. Trotz unterschiedlicher Ansichten zum Gazakrieg sind alle Kommentatoren der Meinung: Terror ist Terror, und Antisemitismus ist Antisemitismus. Atomwaffen sind kein Quatsch, sagt Joschka Fischer an die Adresse Olaf Scholz' in der Zeit. Wladimir Sorokin hofft in der NZZ, dass die Russen es irgendwann mal schaffen, zur Gesellschaft zu werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2024 finden Sie hier

Ideen

"Butler spuckt auf Gräber, über die sie vorschlägt, ein Seminar zu Wertungsgesichtspunkten bei Abschlachtungen abzuhalten", antwortet ein zorniger FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube auf Judith Butlers Behauptung, die Pogrome der Hamas seien kein Terror und auch nicht antisemitisch gemeint. Vielmehr versteht sie den Blutkarneval als "Widerstand" (unser Resümee): "Die Eltern der toten Kinder und die Kinder der toten Großeltern werden ihr für diese Unterscheidung danken. Judith Butler will sie wie uns erkennbar für dumm verkaufen. Denn sie weiß ja, dass am 7. Oktober am Rande des Gazastreifens auch Nicht-Israelis massakriert worden sind. Sie weiß, dass unter den Toten Kleinkinder waren und Jugendliche, die mit dem Staat Israel zu identifizieren das Abstraktionsvermögen von Killern erfordert. Der Überfall auf sie war weder eine militärische Operation, noch galt sie staatlichen Zielen. Es ging um ein Blutbad in der Bevölkerung."

Ähnlich sieht es Jan Feddersen in der taz. Butlers Verklärungen der Hamas seien zwar nichts Neues. Markant sei aber unter anderem folgender Umstand: "Dass Butler sich explizit auch politisch argumentierend versteht und dabei (empirisch blind) verkennt, dass der 7. Oktober kein Hamas-Angriff auf israelische Militärs war, sondern ein Schlachten und Morden an Wehrlosen (sehr oft: Teilen der israelischen Friedensbewegung). Die Hamas-Marodeure zeigten sich nicht in Gefolgschaft Mandelas und Gandhis, sondern in der Tradition der SS in Osteuropa."

Es sei richtig, Judith Butlers Aussage über den "bewaffneten Widerstand" der Hamas zu verurteilen - und trotzdem: "Die Feststellung, dass dem 7. Oktober andere Gewalt vorangegangen ist, ist so banal wie richtig", meint Nils Markwardt auf Zeit Online. Das Leid von Juden anzuerkennen, sei auch wichtig: "Aber wenn Debatte kein ideologischer Teamsport sein soll, muss im Gegenzug auch das Leid der Palästinenser anerkannt werden. Oder konkreter gesagt: Es ist skandalös, wenn - wie etwa im Zuge der Abschlussveranstaltung der Berlinale - manchen Leuten die über 1.000 am 7. Oktober getöteten oder in Geiselhaft genommenen Israelis kein Wort wert sind. Doch ebenso skandalös ist es, wenn anderen wiederum die mittlerweile über 30.000 toten Palästinenser im Gazastreifen offenbar lediglich wie ein unvermeidbarer Kollateralschaden des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung nach einem Terrorangriff erscheinen."

Warum verteidigt die "berühmteste linke Denkerin der Gegenwart" eine Terror-Organisation wie die Hamas, fragt sich Jens-Christian Rabe in der SZ. "Butler ist der Ansicht, dass die Deutung und Verurteilung der Ereignisse am 7. Oktober als antisemitischer Terror jede Diskussion über die 'politische und gewaltsame Struktur, aus der der Aufstand hervorging' sofort unmöglich mache. Dies erscheint allerdings, auch das ist Teil des Bildes, nicht nur auf der postkolonialen Linken längst viel mehr Menschen plausibel, als einer vernünftigen Diskussion zu wünschen ist."

In Frankreich gibt es übrigens, trotz der kommentarlosen Absage von Vorträgen in der Ecole Normale Supérieure, so gut wie keine Reaktionen der größeren Medien. Nur die trotzkistische Postille Révolution permanente zitiert einige Tweets rechter Politiker und solidarisiert sich mit Butler. "Die Angriffe auf Judith Butler sind Teil der Kriminalisierung des Ausdrucks der Solidarität mit Palästina und mit dem Kampf des palästinensischen Volkes."


In der Frankfurter Paulskirche sollte eine "Global Assembly" stattfinden und sich mit postkolonialen Fragen befassen. Sie wurde sozusagen in vorauseilender Unterwerfung abgesagt, weil man fürchtete, sowieso als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Hier das Statement der Veranstalter. Thomas Thiel bekennt in der FAZ seine Befremdung: "Ein Vorwurf ist keine Zensur, man kann ihm mit Argumenten begegnen."
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Gesellschaft

Gerne würde man das Dossier über den "Feminismus mit variabler Empörungsbereitschaft" der Zeitschrift Franc Tireur lesen. Steht aber leider nicht online.
Die taz bringt ein mehrseitiges Dossier zum Tag der Frau, der ja morgen in Berlin bekanntlich Feiertag ist. Hauptthema ist Schönheit. Ein Pro und contra beschäftigt sich mit der drängenden Frage: "Sollten sich Feminist*innen überhaupt mit ihrem Aussehen beschäftigen?" Valérie Catil schreibt über den Hype um das Diabetes- und Abnehmmedikament Ozempic ("wenn es sich durchsetzt, gewinnt vor allem das Unternehmen dahinter"). "Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden permanent auf Äußerlichkeiten angesprochen und verspottet", sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer (Frage: "Sie haben selbst lange in einer männlichen Rolle gelebt. Hätte sich die Frage nach Schönheit damals für Sie anders angefühlt?") Was es in dem Dossier nicht gibt: Nichts über den Iran, nichts über die Ukraine oder Russland, nichts über den Streit Gender- versus klassischer Feminismus.
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Wissenschaft

Petra Ahne muss in der FAZ berichten, dass zuständige Geologengremien es jüngst abgelehnt haben, das "Anthropozän" offiziell zur Erdepoche zu erheben - "manche Geologen halten es für ausreichend, die 'Menschenzeit' als 'Ereignis' zu bewerten, wie es auch beim Auftreten der Cyanobakterien der Fall ist, die vor 2,4 Millionen Jahren begannen, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern, mit folgenschweren Konsequenzen".
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Stichwörter: Anthropozän

Europa

In einer rotgrünen Koalition mit Joschka Fischer hätte Olaf Scholz keinen Spaß. Auf Scholz' Satz, die Debatte um eine eigene atomare Bewaffnung sei Quatsch, das sei die falsche Diskussion, antwortet Fischer im Gespräch mit Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing von der Zeit: "Dann frage ich den Kanzler: Ist die nukleare Schutzgarantie der USA für Europa Quatsch? Verdanken wir dieser nuklearen Schutzgarantie nicht sieben Jahrzehnte Frieden? Wenn man das bejaht, ist das Argument erledigt, es sei Quatsch, über eine eigene europäische atomare Abschreckung nachzudenken." Zum Gaza-Krieg sagt Fischer: "Es ist unendlich schwer zu vermitteln, aber: Israel muss überproportional stark sein und hart gegen seine Gegner agieren, weil es das Land sonst nicht gäbe."

Naika Foroutan, sonst für Diskriminierung und Rassismus zuständig, fragt in der Zeit, warum immer mehr Wähler mit Migrationshintergrund für die AfD stimmen. Ein Grund könnte sein, dass sich die Ideologien ähneln: "Grundsätzlich ist das Wählerprofil der türkeistämmigen Erdogan-Wähler mit ihrem nationalistischen, antifeministischen, homophoben und antisemitischen Repertoire durchaus anschlussfähig an die Wähler der AfD. Syrische Migranten hingegen sind ansprechbar über den Vorwurf, der Westen agiere scheinheilig: 'Russland wurde nicht boykottiert, als es Syrien bombardiert hat - aber bei der Ukraine sind alle eingeschritten.' Viele iranstämmige potenzielle Wähler teilen die tiefen antimuslimischen Ressentiments." Warum auch sollte man den Islam im Iran nicht lieben?

Das geplante "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees) begünstigt einseitig "Initiativen aus dem rot-grünen Milieu" und ist zudem verfassungswidrig, meint Susanne Gaschke in der NZZ und beruft sich auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Dieser findet, dass vor allem die Länder zuständig seien. Von anderer Seite kommt der Vorwurf, dass sich der Staat hier seine "Zivilgesellschaft" selber backt und auf Dauer stellt. Interessant sind die Passagen über das Unbehagen anderer politischer Stiftungen und Institutionen wie der parteinahen Stiftungen oder der Bundeszentrale für politische Bildung über die neue Konkurrenz.

Die russische Gesellschaft hat sich seit dem 16. Jahrhundert nicht nennenswert verändert, erklärt der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin, der vor kurzem seinen neuen Roman "Doktor Garin" veröffentlicht hat, im NZZ-Interview mit Benedict Neff. "Es gibt einen Herrscher an der Spitze, dann den Sicherheitsapparat, die Elite weiter unten und das Volk ganz unten. In der Zeit der siebzigjährigen Sowjetmacht wurden eigenständig denkende und unabhängige Menschen gezielt vernichtet. Darauf folgte eine kurze Periode mit einem wilden Kapitalismus, der Versuch von Demokratie. Danach kamen Leute vom KGB an die Macht, und sie haben diese mittelalterliche Pyramide wiederhergestellt, um eine verängstigte und über Jahrzehnte terrorisierte Bevölkerung wieder zu unterwerfen. Was können wir von dieser Gesellschaft erwarten? Sie erinnert mich an einen furchtbar vergewaltigten Menschen. Es ist noch zu früh, von diesen Leuten etwas zu erwarten. Sie müssen erst einmal aufhören, nur eine Bevölkerung zu sein, und eine Gesellschaft werden."
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Kulturpolitik

Bei der Aufgabe, NS-Raubkunst an ihre ursprünglichen Besitzer zurückzugeben, versagt Deutschland bisher, unter anderem wegen des hinhaltenden Widerstands der Museen. Darum forderte der Präsident der Beratenden Kommission für NS-Raubkunst im letzten Jahr mehr Kompetenzen für seine Kommission  (unsere Resümees). Nun wurden die Washingtoner Prinzipien mit den "Best Principles" reformiert, was unter anderem eine einseitige Anrufbarkeit der Kommission und den Zugang von Provenienzforscher zu allen wichtigen Dokumenten bedeutet. Deutschland hat dem am Dienstag zugestimmt. Seltsam, dass kein hochrangiger Vertreter der deutschen Regierung da war, wundert sich Jörg Häntzschel in der SZ. "Fürchtete der Bund, sich international zu blamieren - oder wollte er die Länder vor vollendete Tatsachen stellen, bevor er am nächsten Mittwoch mit diesen darüber verhandeln wird?"
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Raubkunst, NS-Raubkunst