9punkt - Die Debattenrundschau

In der warmen Brühe der Begriffe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2024. Die Zeit stellt Omri Boehms Dankesrede für den "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" und Eva Illouz' Laudatio online: Mit Lessing und Mendelssohn empfiehlt Boehm auch Juden und Arabern Freundschaft, nicht Brüderlichkeit. Die Jüdische Allgemeine erzählt, warum man Hillel Neuers Intervention zur UNRWA im Europaparlament nicht sehen kann. Warum kommt das mit den rechtsextremen Spendern für das Berliner Stadtschloss eigentlich erst raus, wo das ganze Schloss schon fertig ist, fragt sich der Tagesspiegel (aber nicht an die eigene Adresse). Regieren ist nicht Verwaltungshandeln, sagt der Historiker Gerd Krumeich im Spiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.03.2024 finden Sie hier

Ideen

Gestern Abend wurde die Leipziger Buchmesse eröffnet.

Die Zeit druckt bereits Omri Boehms Dankesrede für den "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung". Er bezieht sich auf Kant, Mendelssohn, Lessing und Arendt. Mit ihnen beschwört er den Begriff der Freundschaft, den er gegen den der Brüderlichkeit setzt und kommt dann auf die jüngste Gewalt in Israel und Gaza zu sprechen: "Wir schauen auf die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza am 7. Oktober - als ganze Familien abgeschlachtet, Kinder vor den Augen ihrer Eltern ermordet, Frauen systematisch vergewaltigt wurden - und erleben dann den moralischen Bankrott jener angeblichen Radikalen, die dies 'bewaffneten Widerstand' nennen. Wir schauen auf die Zerstörung Gazas, die Tötung Tausender Frauen und Kinder, das Verhungern - und erleben dann, wie angebliche liberale Theoretiker eine humanitäre Waffenruhe im Namen der 'Selbstverteidigung' monatelang delegitimieren." Angesichts dieser Gewalt bleibt für Boehm nur die besagte "Freundschaft: "Es gibt noch jüdisch-palästinensische Freundschaften, und wo sie existieren, bieten die Forderungen, die sie stellen, Licht."

Eva Illouz knüpft in ihrer Laudatio für Boehm an sein Buch "Israel - eine Utopie" (englisch "Haifa Republic") an, das die Möglichkeit eines Zusammenlebens von Arabern und Juden in einem Staat beschwört: "In 'Haifa Republic' wird eine radikale Vision von Juden und Palästinensern entworfen, die Seite an Seite leben und universalistische Institutionen und Werte in einem föderativen politischen Modell teilen. Was Boehm im Sinn hat, würde keine postkoloniale Heilung der Wunden erfordern, sondern im Gegenteil einen aktiven Akt des Vergessens als Hommage aller Seiten an die Menschlichkeit des anderen und an ihre eigene. Radikaler Universalismus geht eindeutig auf diese Vision zurück und ist ein Versuch, diese Vision für die israelische Gesellschaft zu systematisieren."

Gregor Dotzauer berichtet im Tagesspiegel von der Preisverleihung und stimmt Boehm zu: "Wer nicht selbst in den intellektuellen Schützengräben sitzt, wird Omri Boehm gerne beipflichten, zumal kaum jemand besser als er weiß, wie grotesk seine Hoffnung sowohl unter den Angehörigen der Hamas-Geiseln wie im Trümmerfeld von Gaza und in einem von Antisemitismusphobien vergifteten und paralysierten deutschen Diskurs anmuten dürfte. Seine vehemente Kritik an einer Zweistaatenlösung, die ohnehin zu einer kraftlosen Metapher für irgendeine Art von Friedensschluss geronnen ist, bleibt gerechtfertigt."
Archiv: Ideen

Geschichte

Berliner Topographie des Terrors zeigt eine Ausstellung zu Gewalt in der Weimarer Republik, die Klaus Hillenbrand für die taz bespricht: "Der Hamburger Aufstand von 1923, die Ruhrkämpfe im März 1920, der Aufstand in Mitteldeutschland - zweifellos setzte auch die kommunistische Linke auf Gewalt, wenn es ihr nützlich erschien. Da wurden nicht nur Fabrikanten-Villen niedergebrannt, sondern auch Menschen umgebracht. Die Ausstellung macht freilich deutlich, dass es die Rechtsradikalen waren, die bei ihren Versuchen, die Republik zu liquidieren, eine viel breitere Blutspur durch das Land zogen - mit den Mordattentaten wie gegen Karl Gareis, Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Walter Rathenau, mit Fememorden und Putschversuchen."

Für Andreas Kilb in der FAZ war das Verhängnis universeller: "Der Hass auf den jungen Staat, der sich den Reparationsforderungen der Alliierten hatte beugen müssen und zugleich die militärischen Kräfte der Reaktion zur Selbstverteidigung einsetzte, war allgemein. Nur die Zersplitterung der Rechten, die sich nicht auf eine Besetzung für die Rolle des Diktators einigen konnte, und die Revolutionsmüdigkeit der Arbeiterschaft verhinderten den frühen Untergang der ersten deutschen Demokratie."

Politik besteht nicht nur aus Argumenten und Deklarationen, man muss auch Gefühl zeigen, meint der Historiker Gerd Krumeich im Interview mit Spon: "Kanzler Olaf Scholz  macht aus dem Regieren eine Technik, eine rein vernunftgetriebene, seelenlose Bürokratie. Es fehlt an Charisma ebenso wie an der großen gemeinsamen Idee. Das ist gefährlich, wie man in der Geschichte sehen kann." Dann springt nämlich jemand in diese Lücke, warnt Krumeich mit Blick auf die AfD: "Historisch gibt es nur rechte Bewegungen, die dieses Instrumentarium beherrschen. Warum? Weil sie selbst aus Wut und Hass geboren sind, ohne diese gar keine Existenzgrundlage besitzen. Bleibt die Frage, inwieweit sich diese negativen Gefühle mit einer neuen Weltsicht und politischen Doktrin verbinden lassen. Mit einer genauen Idee, wie das vermeintliche Übel abgeworfen und besiegt werden könnte. Hat die AfD das? Die Nazis hatten das - leider."

Blaster Al Ackerman, Meine Unterhose zur Kunst machen, 1978. Aus der Ausstellung "Revolutionary Romances?" im Dresdner Albertinum


Schade, dass das Haus der Kulturen der Welt in seiner Ausstellung "Echos der Bruderländer" den Begriff der Solidarität "als religiöser Glaubenskern einer ansonsten säkularen Völkergemeinschaft" in der DDR nicht mal gründlich auseinandergenommen hat, meint Peter Richter in der SZ: "Gerade unter marxistischem Blickwinkel wären hier Details zu Außenhandelsverträgen, Rohstoffen und Waffenlieferungen vielsagend, um die Idealisierung von Solidargemeinschaften im Osten kritisch als Ausdruck ökonomischen Mangels zu dekonstruieren. Aber das Haus der Kulturen der Welt gibt sich neuerdings strikt antiintellektualistisch und badet lieber selbst in der warmen Brühe der Begriffe. 'Was ist der Preis der Erinnerung, und wie hoch sind die Kosten der Amnesie?', ruft der neue Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung wie ein von sich selbst berauschter Fernsehprediger wieder und wieder in seinen eigenen Katalogtext hinein." Viel interessanter findet Richter die Ausstellung "Revolutionary Romances?" im Dresdner Albertinum, "wo zum Teil ähnliche Arbeiten gezeigt werden, zum Teil auch von den gleichen Leuten, und wo noch deutlicher wird, wie sehr unter den Bedingungen des Staatssozialismus die Beschwörung der 'Solidarität' offensichtlich das ist, was woanders 'heiliger Geist' heißt. Die entsprechenden Wandbilder ähneln der Kunstgestaltung in Nachkriegskirchen nicht zufällig auffallend."

Außerdem: Tomasz Kurianowicz besucht für die Berliner Zeitung im Pilecki-Institut in Berlin die "phantastische" Ausstellung "Doppelt frei": "Die Schau thematisiert den Freiheitskampf polnischer Frauen und ihren doppelten Kampf um die Unabhängigkeit Polens und um die Erringung des Frauenwahlrechts. Dabei muss gesagt und unterstrichen werden, dass Polen eines der ersten Nationen in Europa war, in dem Frauen wählen durften." In der FR erinnert Arno Widmann daran, dass heute vor 220 Jahren Napoleon der Welt seinen Code Civil vorstellte, das bürgerliche Gesetzbuch Frankreichs.
Archiv: Geschichte

Europa

Gestern war Hillel Neuer von der NGO UN Watch im Europäischen Parlament. Dort wollte er über seine Erkenntnisse zur UNRWA sprechen, jener UN-Agentur, die sich exklusiv um palästinensische "Flüchtlinge" kümmert und die Hiller und die israelische Regierung der Kollaboration mit der Hamas beschuldigen. Eingeladen hatte ihn der schwedische Abgeordnete David Lega. Michael Thaidigsmann berichtet für die Jüdische Allgemeine: "Vorgesehen war eigentlich eine öffentliche Anhörung. Doch dann fand die Sitzung auf Antrag von Sozialdemokraten, Grünen und Linken 'in camera', also unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Kameras mussten ausgeschaltet werden, das geplante Webstreaming entfiel - sehr zum Missfallen Legas und Neuers. Die beiden hatten sich erhofft, 'den europäischen Steuerzahler' darüber informieren zu können, wie EU-Gelder möglicherweise für Dinge ausgegeben werden, die nicht förderwürdig und -fähig sind. Die Europäische Union ist - das ist unumstritten - einer der wichtigsten Geldgeber der UNRWA weltweit. 82 Millionen Euro soll die Organisation in diesem Jahr erhalten. Im Europaparlament gibt es offenbar eine Mehrheit dafür, dass das auch so bleibt." Hier Neuers UNRWA-Bericht.

Der Islamwissenschaftler Jan Altaner unterstützt im Leitartikel der taz die Position der meisten europäischen Politiker: Zwar könnten einige Anschuldigungen der Israelis und Neuers durchaus zutreffen. "Doch unabhängig davon unterstreicht Israels Weigerung, stichhaltige Beweise zu liefern, dass die Vorwürfe vor allem medienwirksam auf eine grundsätzliche Kritik an UNRWA abzielen. Dies legen auch Aussagen von UNRWA-Mitarbeitern nahe, nach denen sie durch Folter zu falschen Geständnissen über die Zugehörigkeit zur Hamas gezwungen worden seien."
Archiv: Europa
Stichwörter: Unrwa, Hamas

Kulturpolitik

Angesichts des ersten Propheten, der auf die Kuppel des Humboldt Forums gehievt wird, fragt sich im Tagesspiegel Nikolaus Bernau, warum eigentlich der Kasseler Architekten Philipp Oswalt in der Spenderliste des Fördervereins des Forums Rechtsradikale, Nationalisten, AfD-Anhänger und evangelikale Christen aufspüren musste, "nicht der Staat, nicht das Humboldt Forum, nicht der Förderverein" (und nicht die Zeitungen, möchte man hinzufügen). "Sicher wird es jetzt eine neue empörte Rede von Kulturstaatsministerin Claudia Roth geben. Aber sie ist genausowenig geneigt wie ihre Vorgängerin Monika Grütters, Spenden auch schlichtweg einmal zurückzuweisen. ... Was Roth aber wirklich tun könnte? Wenigstens das Humboldt Forum und sein postkolonial inspiriertes Gegenprogramm zu der nachgebauten Preußen-Außenarchitektur dauerhaft auskömmlich finanzieren; das Museum Europäischer Kulturen aus seiner Dahlemer Einsamkeit ins Humboldt Forum überführen und damit auch Europa und das Christentum zum Teil der debattierten Welt zu machen; das Projekt Dahlemer Forschungscampus im alten Völkerkundemuseum in Gang bringen und dauerhaft finanzieren, damit die Hunderttausenden von 'ethnologischen' Objekten, die nicht im Humboldt Forum gezeigt werden, auch sichtbar werden. Und selbstverständlich könnte sie die Forschungen finanzieren, die bisher Oswalt macht. So peinlich die Ergebnisse sind. Mal sehen, ob Roth sich auch nur für eines dieser Projekte engagiert."
Archiv: Kulturpolitik