9punkt - Die Debattenrundschau

System der abgestuften Ungleichheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2024. Die Milizen der RSF stapeln die Leichen so hoch, dass man sie vom Weltraum aus sehen kann, erzählt Nathaniel Raymond von der Yale-Universität im Spiegel - für den Konflikt im Sudan interessiert sich trotzdem keiner. In einem Twitter-Post begründet Fania Oz-Salzberger nochmal, warum die voraussetzungslose Anerkennung Palästinas durch einige EU-Länder nur der Hamas nutzt. Russland verschiebt mal eben die Seegrenzen in der Ostsee, und der Westen lässt sich diese Provokation gefallen, notiert die SZ. In der NZZ prangert der Historiker Pratinav Anil die Zähigkeit des Kastensystems in Indien an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.05.2024 finden Sie hier

Politik

Gaza ist hierzulande überall präsent. Wofür sich niemand zu interessieren scheint, ist der Sudan. In einem wirklich sehr eindrucksvollen Interview mit dem Spiegel zeichnet Nathaniel Raymond vom Humanitarian Research Lab der Yale-Universität ein verheerendes Bild von der Situation in Al-Faschir, der Hauptstadt Nord-Darfurs, wo die islamistischen Milizen der Rapid Support Forces (RSF) mit der sudanesischen Armee (SAF) um die Macht ringen. "Der letzte Uno-Konvoi kam Ende April nach Al-Faschir. Seitdem kam kein Nachschub mehr. Und schon vor Ausbruch der Kämpfe starben beispielsweise im Zamzam Camp mindestens ein Dutzend Kinder am Tag an Mangelernährung. Es gab schon vor den Kämpfen Wasserknappheit und Stromausfälle. Menschen aßen Erdnussschalen und Gräser." Was den Bewohnern bevorsteht, wenn die RSF gewinnen, weiß die Welt seit dem Massaker von Al-Dschunaina: "Es ging vor allem um das Töten von Männern und Jungen. Aber auch von Frauen und Kindern. Es haben großflächig Vergewaltigungen stattgefunden. In einem Fall banden die RSF-Kämpfer eine Gruppe lebender Kinder zusammen und erschossen sie alle. Sie türmten die Leichen der Stadt zu so großen Stapeln auf, dass wir sie vom Weltraum aus, mit den Satelliten, die wir benutzen, sehen konnten."

"Sudan entwickelt sich zur größten Hungerkatastrophe seit Jahrzehnten", entsetzt sich in der SZ auch Arne Perras. "Mindestens sieben Millionen Menschen erleiden extremen Nahrungsmangel, das heißt: Sie können noch höchstens ein Drittel ihres Energiebedarfs decken." Regierungen oder die UN können dort wenig ausrichten, weil sie keinen Zugang zu der Region haben. Helfen könne man dennoch, meint Perras. "So wäre es schon von großem Nutzen, wenn das Internet wieder auf breiter Fläche funktionierte, um Geld mobil anzuweisen. Außerdem gibt es gut organisierte Hilfsnetzwerke an der Basis, die fantastische Arbeit leisten, soweit sie eben können. Es gilt, dieses Netz zu nutzen, wenn Hilfe in die Todeszonen gelangen soll."

Die Historikerin Fania Oz-Salzberger, Tochter von Amos Oz und eine der Stimmen der gemäßigten Linken in Israel, nimmt auf Twitter nochmal Stellung zur Entscheidung Irlands, Norwegens und Spaniens, das Land Palästina ohne Vorbedingungen anzuerkennen: "Die Formulierung 'Die Hamas vertritt nicht die Palästinenser' ist äußerst problematisch. Die Hamas ist tragischerweise immer noch die offizielle Regierung von Gaza. Die Hamas und ihre zahlreichen Freunde, auch hier auf X, sonnen sich bereits in der neuen Anerkennung. So wie die Dinge jetzt stehen, vertritt die Hamas Millionen von Palästinensern und es kann leicht geschehen, dass sie wiedergewählt wird, um das zukünftige freie Palästina zu regieren. Irland, Spanien und Norwegen haben zu diesem möglichen Szenario nichts zu sagen. Dieses Schweigen ist eine enorme Belohnung für die Hamas."

Andrew Fox, ehemaliger britischer Offizier, der unter anderem in Afghanistan gedient hat, behauptet in Tablet, dass die Israel Defense Forces (IDF) in Gaza ein strategisches Meisterstück abliefern - auch wenn es aus der Brille westlicher Länder nicht so aussieht. Aber die IDF wollten eben nicht den ganzen Gaza-Streifen befrieden und wieder aufbauen. Es gehe vor allem, die Hamas zu schwächen, wenn auch nicht komplett zu zerstören, denn dazu sei die Begeisterung der Gazaner für die Schlächter, die sie anführen, zu groß. Die wichtigsten Ziele der IDF seien es darum, die Hamas-Infrastrukturen - vor allem die Tunnel - zu zerstören und ein ein Kilometer breites Glacis hinter dem Grenzzaun zu schaffen. "Wenn es nach Israel geht, wird niemand in Gaza mehr in die Nähe der Grenze kommen. Ob sich Washington gegen diese Politik durchsetzen wird, bleibt jedoch abzuwarten, weshalb für Israel das wichtigste strategische Ziel in Gaza wohl darin besteht, die Internationalisierung des Streifens durch fantastische Pläne für 'den Tag danach' so weit wie möglich zu begrenzen."

Sehr kritisch sieht Alexander Haneke in der FAZ die Anklage des Internationalen Strafgerichtshof gegen Israel, das von der Hamas in Zwangslagen gebracht wird, die vom Chefankläger Karim Khan nicht mal benannt werden - denn dass die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht, wird in der Klageschrift nicht erwähnt. "Es ist das Kalkül der Hamas, Israel in einen Vernichtungskrieg zu zwingen. Israel hat kein Interesse an zivilen Opfern. Im Gegenteil, von den Toten und dem steigenden Druck auf Israel profitiert nur die Hamas. Und "was ist verhältnismäßig, wenn Israel einen weiteren 7. Oktober nur verhindern kann, indem es die Hamas in den engen Gassen von Gaza vernichtet?"

Im Interview mit der NZZ kann der iranisch-österreichische Autor Amir Gudarzi einfach nicht verstehen, dass so viele Menschen - und vor allem Linke - hierzulande auf die Hamas-Propaganda hereinfallen und sie sogar übernehmen. Irritierend findet er es auch, dass sich diese Linke für Gräueltaten anderswo wenig interessiert: "Der Kampf der Frauen in Iran ging an dieser Linken jahrelang spurlos vorbei. Heute hört man den iranischen Ruf 'Frau, Leben, Freiheit' im Westen kaum noch." Auch die Uiguren in China interessieren die westliche Linke nicht. "Ich habe auch noch nie ein muslimisches Land gesehen, das als Protest die Beziehung zu China abbricht. Der Grund ist einfach: China ist zu groß, zu mächtig. Niemand traut sich da was zu machen. Die Türkei ist auch ein gutes Beispiel. Sie ist eine Besatzungsmacht und kolonialisiert gerade die kurdischen Gebiete in Syrien. Auch dagegen sehe ich - außer von den Kurden selbst - keine Proteste. Aber die Hamas hat Glück. Sie braucht gar keine Propaganda mehr zu machen: Die Demonstrierenden hier bei uns sind ihr Sprachrohr."
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Europa

In der SZ kann Stefan Kornelius einfach nicht verstehen, dass der Westen so zaghaft, wenn überhaupt, auf die Attacken Russlands reagiert: "Der Moskauer Gesetzentwurf zur Verschiebung der Seegrenzen in der Ostsee ist nicht zufällig an die Öffentlichkeit geraten. Nun wurden die ersten Grenzbojen zu Estland versetzt - eine eklatante Provokation. Die Übung mit taktischen Nuklearwaffen an der Grenze zur Ukraine dient der Einschüchterung und trägt die Botschaft, dass eine nukleare Eskalation nach wie vor als Option gesehen wird. In der Ukraine selbst zeigt der furiose Angriff auf die Region Charkiw, dass die westliche Schläfrigkeit bei der Waffenlieferung - gepaart mit skurrilen Nutzungsbedingungen etwa für Langstreckenflugkörper oder Drohnen - einen nicht mehr gutzumachenden Schaden angerichtet haben." Appeasement hilft da nicht, meint Kornelius, es wirke "geradezu kontraproduktiv, seinen wachsenden Provokationen keine Grenzen zu setzen - so wächst die Kriegsgefahr nur, so schlittert der Westen immer stärker in diesen Krieg hinein".

"The Muslim Vote" ist zwar keine Partei aber eine "campaign group", die bei der gerade ausgerufenen britischen Unterhauswahl bestimmte Politiker zur Wahl empfehlen wird, berichtet Neha Gohil im Guardian. "Sie will in Kürze eine Liste der von ihr unterstützten Kandidaten erstellen." Muslime fühlten sich von frühen Stellungnahmen von Labour pro Israel nach dem 7. Oktober gestört - das hatte bei den Kommunalwahlen bereits Einfluss: "In 58 Gemeinderatsbezirken, in denen sich mehr als einer von fünf Einwohnern als Muslim identifiziert, ging der Stimmenanteil von Labour bei den diesjährigen Kommunalwahlen um 21 Prozent zurück, wie eine Analyse der BBC ergab. Bei den Bürgermeisterwahlen in den West Midlands war der Sieg der Labour-Partei besonders knapp, was zum Teil auf den unabhängigen Kandidaten Akhmed Yakoob zurückzuführen ist, der den dritten Platz belegte und seine Kampagne teilweise auf einem Gaza-Ticket führte."

Dominic Johnson kommentiert in der taz die Ausrufung der Unterhauswahl durch Rishi Sunak am Mittwochabend - eine Chance gibt er ihm nicht: "Die kleine Sekunde nach Abschluss seiner verregneten Wahlankündigung vor 10 Downing Street am Mittwochabend, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach Bände."

Tornike Mandaria porträtiert in einer längeren taz-Reportage die jungen Demonstranten von Georgien, die sich seit Monaten gegen ein "Ausländische-Agenten"-Gesetz à la Moskau wenden. "Ihre Waffen sind Pfefferspray und eine unerschütterliche Entschlossenheit. Sie alle sind Vertreter*innen der Generation Z, die, in den neunziger und nuller Jahren geboren, zu einem echten Machtfaktor in der georgischen Politik geworden sind. Liberale NGOs und Online-Medien, die in der Regel auf westliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind, sind für viele junge Menschen in Georgien die Hauptinformationsquelle und spielen eine Schlüsselrolle bei der Meinungsbildung. Angesichts eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber der politischen Elite befürworten sie einen dezentralen Ansatz und lehnen daher die Idee eines Anführers oder einer Anführerin der Proteste ab."

Im Blick auf die Europawahlen muss Rudolf Balmer in der taz konstatieren: "In Frankreich ziehen die Listen der extremen Rechten zusammengezählt annähernd 40 Prozent der Wählerschaft an, während die Macronisten diskreditiert und die Linksparteien gespalten sind." Marine Le Pen hat Kreide gefressen, was sie unlängst auch durch den Bruch mit der AfD unterstrich. "Marine Le Pen hatte verstanden, dass sie allein mit Wahlkampagnen niemals an die Macht kommen würde, solange die konservative Rechte eine formelle Zusammenarbeit oder Allianz ablehnt. Patrick Buisson, ein ehemaliger Journalist und 2007 Berater des Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, hatte ihr mit seiner Interpretation der Theorie der kulturellen Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ein Strategiekonzept geliefert, das seither von mehreren Vertretern der extremen Rechten in Frankreich zitiert wird." Als treibende Kraft benennt Balmer aber auch den Milliardär Vincent Bolloré.

Auf Zeit online ist Alan Posener geschockt über eine Reportage im Spiegel, die nachzeichnet, wie Flüchtlinge mit Wissen und Billigung der EU in Nordafrika vor der Einschiffung abgefangen und buchstäblich in die Wüste geschickt werden. So geht's nicht, ruft er. Was also tun? "Es ist ja richtig, die illegale Migration möglichst nahe an den Heimatländern der Migrantinnen aufzufangen. Die alte Idee des früheren SPD-Innenministers Otto Schily, Lager in Nordafrika - oder auch in Ländern wie Ruanda - einzurichten, in denen Asylanträge, aber auch Anträge auf Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse oder Familienzusammenführung gestellt werden können, hat es inzwischen ins CDU-Grundsatzprogramm geschafft. Gut so. Aber es muss klar sein, dass solche Einrichtungen von europäischen Behörden nach europäischen Richtlinien eingerichtet und auch beaufsichtigt werden müssen. Sie sollten extraterritoriale Gebilde sein, wie Botschaftsgebäude, in denen europäische Normen und europäisches Recht herrschen. Das kostet. Aber billig ist eine echte Lösung nicht zu haben. Billig sind nur Scheinlösungen zu haben."
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Gesellschaft

75 Jahre Grundgesetz, schön und gut. Aber gerade der Artikel 5, der die Meinungsfreiheit garantiert, ist heutzutage angekratzt, meint der Rechtsprofessor Christoph Degenhart in der FAZ - und dies durch den Staat selbst. Zum einen, so Degenhardt, sei der Staat eifrig dabei, "die Grenzen der Strafbarkeit zu verschieben", etwa wenn es um die Beleidigung von Politikern geht. Und dann stört ihn immer intensiveres "staatliches Informationshandeln durch unmittelbare wie mittelbare mediale Aktivitäten staatlicher Stellen". In diesem Kontext sieht Degenhardt auch das geplante Demokratiefördergesetz, das Organisationen der angeblichen Zivilgesellschaft sozusagen verstaatlichen will. "So begrüßenswert das Anliegen erscheinen mag: Nicht nur sind staatlich alimentierte Nichtregierungsorganisationen ein Widerspruch in sich. Staatliche Finanzierung bedeutet Staatsnähe, schafft Abhängigkeiten und staatliches Einflusspotenzial."

Erstaunlich religiöse Momente erkennt Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World in der Gazamanie heutiger Demonstranten: "Gaza, das ist das Gute, das leidet und gequält wird - auch das ein immer wieder kehrendes religiöses Motiv - und Israel das Böse, das es quält. Gaza ist quasi Jesus in unserer Zeit. Und das macht diese ganze Bewegung so ungeheuer problematisch, denn in ihr aktualisieren sich ganz alte europäische Traditionen, in denen die Juden als Jesusmörder eine zentrale Rolle spielten. By the way, viele Islamisten haben diese Idee inzwischen übernommen, schließlich ist Jesus der zweitwichtigste Prophet im Islam, während in der Szene daran gearbeitet wird, aus Jesus sozusagen den ersten Palästinenser zu machen."

Gestern wurde das kurzzeitig von antiisraelischen Demonstanten besetzte Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin geräumt. Uni-Präsidentin  Julia von Blumenthal betonte, dass sie die Räumung nur auf Weisung von ganz oben verlanlasst hatte. Bei der Besetzung wurden missliebige Professoren auch direkt angegangen, wie etwa der Migrationsforscher Ruud Koopmans.
Indien mag nach außen wie ein riesiges Land der Vielfalt erscheinen, nach innen ist es jedoch fast monolithisch in seinem Glauben an Premierminister Narendra Modi und das Kastensystem, schreibt in der NZZ der in Oxford lehrende Historiker Pratinav Anil: "Bhimrao Ramji Ambedkar, der Verfasser der indischen Verfassung und einer der wortgewaltigsten Kritiker des Hinduismus, ging so weit, das Kastensystem als Kern des Glaubens zu bezeichnen. Es handle sich um ein System der 'abgestuften Ungleichheit', in dem die Gesellschaft durch 'aufsteigende Grade des Hasses und absteigende Grade der Verachtung' zusammengehalten werde. Darin kenne jeder seinen Platz. Niemand komme auf Ideen, die über seinen Stand hinausgingen." Damit kommen übrigens nicht nur die meisten Hindus gut klar, meint Anil. "Das Kastensystem ist Muslimen, Sikhs und Christen keineswegs fremd. Im indischen Islam findet sich eine Kopie des hinduistischen Kastenwesens: Es gibt die Ashraf, die oberen Kasten, die so tun, als würden sie von nahöstlichem Adel abstammen; dann die Ajlaf, welche minderen Kasten angehören, und schliesslich die Arzal, 'Unberührbare' und Ausgestoßene."
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