Hans-Ulrich Treichel

Tagesanbruch

Erzählung
Cover: Tagesanbruch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
ISBN 9783518425251
Gebunden, 86 Seiten, 17,95 EUR

Klappentext

Eine Mutter hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Er ist tot, wie sich bald herausstellt; sie hat ihn während der letzten Monate seiner Erkrankung gepflegt. Bevor die alte Frau den Arzt ruft, beginnt sie mit dem Sohn ein letztes Gespräch, einen Monolog, der zur Bilanz und zur Erinnerung wird: an ein Leben an der Seite eines kriegsversehrten Mannes, an das gemeinsam geführte Textilgeschäft im Nachkriegsdeutschland, an das Glück, ein Klavier anzuschaffen, "etwas von Dauer", schwarzglänzend und für den einzigen Sohn, den sie liebte und der doch immer ein Fremder für sie geblieben ist. Denn seine Existenz verdankt sich womöglich einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens bedrängt hat.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 16.07.2016

Sprachlosigkeit hat in der Literatur die Eigenart, dass sie allzu oft wortreich auftritt und dass Unsagbare erst zwischen unzähligen Zeilen lesbar wird, weiß Claus-Ulrich Bielefeld. Hans-Ulrich Treichel gelingt es in "Tagesanbruch" jedoch langjähriges Schweigen und Erdulden ungeheuer zu verdichten, und in kleinen Schritten dramatisch und in Form eines Geständnisses, das eine Mutter ihrem kurz zuvor gestorbenen Sohn macht, aufzubrechen, erklärt der Rezensent. Es ist die Geschichte einer einfachen Frau aus dem Osten, deren Mann im Krieg versehrt wurde, und der selbst viel Grausames widerfahren ist, fasst Bielefeld zusammen. Den Knoten ihres Schicksals versucht die Mutter erst durch ihr Erzählen zu lösen, berichtet der Rezensent. Das anhaltende Trauma, auch der deutschen Kriegsgeneration, wird dank Treichels Einfühlungsvermögen und seiner historischen Genauigkeit ein klein wenig benennbarer, lobt Bielefeld.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2016

Rezensentin Sandra Kegel folgt der Selbstfindung einer alten Frau am Totenbett ihres Sohnes, wie Hans-Ulrich Treichel sie inszeniert, mit Spannung und großer Anteilnahme. Es sind die Lügen einer ganzen Generation, deren Beichte Kegel hier beiwohnt. Flucht, Vertreibung, Gewalt, Hoffnung und Schuld werden offenbar. Dass der Autor dafür so wenig Raum und so wenige Worte beansprucht, findet Kegel erstaunlich. Die poetologische Strenge und die motivische Sorgfalt aber ergreifen sie. Vor ihren Augen werden die 50er Jahre lebendig, bieder und voller Angst.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 23.05.2016

Wie in einem Brennglas werden für Ulrich Rüdenauer in diesem Buch das Lebensthema und der Stil Hans-Ulrich Treichels deutlich. Der alte Treichel-Sound, der melancholische Ton, das erzählerische Kreisen um Alltag, Sorgen und Verstörung im Nachkriegsdeutschland, alles wieder da, meint Rüdenauer. Ein bisschen enttäuscht scheint er schon, dass sich der Autor nicht neu erfindet, aber letztlich überwiegt doch die Freude über das Buch. Die Lebensbeichte einer Mutter für ihren toten Sohn scheint ihm voller Tragik und Atmosphäre.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.05.2016

Christoph Schröder kennt und schätzt die Erzählkunst Hans-Ulrich Treichels und sein Thema. Von Flucht aus den Ostgebieten, Wiederaufbau und Nachkriegsenge in der deutschen Provinz erzählt auch dieser kleine Text, in dem eine Mutter am Totenbett des Sohnes die traumatische Geschichte einer unklaren Vaterschaft beichtet. Schröder vermisst hier allerdings die Komik, die sich sonst mit Treichels scharfen Beobachtungen paart, wie er erklärt. Stattdessen kommt der Text sehr reduziert und traurig daher, meint er. Die ästhetische Behandlung des Stoffes aber überrascht Schröder. Das Zwiegespräch der Mutter mit dem toten Sohn entwickelt für ihn eine erstaunliche Intimität.