Katja Petrowskaja

Vielleicht Esther

Cover: Vielleicht Esther
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
ISBN 9783518424049
Gebunden, 285 Seiten, 19,95 EUR

Klappentext

Hieß sie wirklich Esther, die Großmutter des Vaters, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückblieb? Die jiddischen Worte, die sie vertrauensvoll an die deutschen Soldaten auf der Straße richtete, wer hat sie gehört? Und als die Soldaten die Babuschka erschossen, "mit nachlässiger Routine", wer hat am Fenster gestanden und zugeschaut? Die unabgeschlossene Familiengeschichte, die Katja Petrowskaja in kurzen Kapiteln erzählt, hätte ein tragischer Epochenroman werden können: der Student Judas Stern, ein Großonkel, verübte 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat in Moskau. Sterns Bruder, ein Revolutionär aus Odessa, gab sich den Untergrundnamen Petrowski. Ein Urgroßvater gründete in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme jüdische Kinder. Wenn aber schon der Name nicht mehr gewiß ist, was kann man dann überhaupt wissen?

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 05.04.2014

Ein Märchen, ein Roman? Für Samuel Moser ist das Buch von Katja Petrowskaja beides, und zwar im besten Sinne. Wie die Autorin durch das 20. Jahrhundert hindurch, durch Kiew, Berlin, Warschau, Moskau, unerschrocken und unvoreingenommen die Spuren ihrer Vorfahren, besonders derer, die dem Holocaust zum Opfer fielen, verfolgt, findet Moser bewundernswert. Beeindruckend scheint ihm, wie die genauen Bilder, die Petrowskaja findet, metaphysische Horizonte eröffnen, sodass Gewalt und Tod erahnbar werden und das Verschwinden in der Geschichte reversibel scheint. Dass die Autorin bei aller Genauigkeit keine Antworten anpeilt, sondern Nichtwissen und Leere zulässt, macht die Lektüre für Moser zu einer buchstäblich traumhaften Erfahrung.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 29.03.2014

So hervorragend findet Ulrich Gutmair Katja Petrowskajas Roman über ihre Familiengeschichte in der Ukraine, dass er über Wesen und Zweck von Überlieferung zu philosophieren beginnt. In der Unklarheit darüber, wie die eigene Urgroßmutter tatsächlich geheißen hatte - "vielleicht Esther", aber alle nannten sie Babuschka - liegt für den Kritiker auch ein Wissen darüber verborgen, dass Überlieferung und Erinnerung immer lücken- und fehlerhaft, beschönigt oder rhetorisch überspitzt sind. So handelt auch der vorliegende Roman davon, welche Sprache Überlieferung für sich findet, und ist somit trotz seines dokumentarisch erzählenden Charakters "Literatur im besten Sinne", erklärt der Rezensent. Auch geht es in Petrowskajas Roman darum, welche Zuordnungen die Ideologien des 20. Jahrhunderts "auf die Körper gestanzt" haben und kommt zu dem Schluss: wir sind nicht Deutsche, Russen, Kommunisten oder Faschisten, wir sind alle Kinder von Kain, führt Gutmair weiter aus und meint: Auch darin artikuliert sich, welche Aufgabe und Funktion die Überlieferung für die Nachgeborenen hat.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.03.2014

Helmut Böttiger hat die aus der Ukraine stammende und auf Deutsch schreibende Katja Petrowskaja in Berlin getroffen und mit ihr für den Aufmacher der Literaturbeilage über ihren jüngst erschienenen Roman "Vielleicht Esther" gesprochen. In dieser Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte lässt die seit 1999 in Berlin lebende Autorin ihre Ich-Erzählerin in ein polnisches Dorf reisen und dort nach ihren sowjetisch-russisch-jüdischen Wurzeln forschen. Für den Rezensenten manifestiert sich in der sprunghaft-assoziativen Wahrnehmung und Sprache Petrowskajas, die durch eindrucksvolle Bilder besticht, ein spezifisch "osteuropäisches Netz aus literarischen Sprachen und Bezügen". Damit wird diese Erforschung der eigenen Familiengeschichte, die genauso in die Vergangenheit wie in die Gegenwart zielt, zu "Literatur", wie Böttiger betont.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 11.03.2014

Schön unroutiniert erscheinen Jens Bisky Katja Petrowskajas Geschichten. Dass sie von Tod und Verschwinden handeln, vom Aufzehren der Familie durch Krieg und Verfolgung und Flucht und der Suche nach Spuren in entsetzlicher Vergangenheit, erfordert laut Bisky Behutsamkeit beim Erzählen. Darüber wie auch über Takt verfügt die Autorin, schreibt Bisky. Für den Rezensenten entsteht so Familiengeschichtsliteratur, aber ohne die üblichen Routinen dieses beliebten Genres, atemberaubend unbefangen recherchiert mit Hilfe von Suchmaschinen und in Familienüberlieferungen und Archiven zwischen Kiew, Berlin, Warschau und Mauthausen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.2014

Mit diesem Buch sieht Rezensent Jan Wiele neueste Vorwürfe an die Gegenwartsliteratur widerlegt. Was die Autorin Katja Petrowskaja hier unternimmt, stuft Wiele zwar als autobiografische, mythologisch und durch Fotos und Archivfunde angereicherte Metafktion ein, allerdings liegt dem Text laut Wiele auch ein erzählerisches Prinzip zugrunde, dass ganz und gar literarisch ist. Das ist der Versuch zu erzählen, was eigentlich nicht kommunizierbar ist. Hier: Die vom Holocaust geprägte Familiengeschichte der aus Kiew stammenden Autorin. Der Wechsel zwischen leichtem Ton, jähen Abgründen und bitterer Ironie ist für den Rezensenten dabei von erheblichem Reiz.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.03.2014

Katja Petrowskajas neuer Roman "Vielleicht Esther" hat Rezensentin Cornelia Geissler tief beeindruckt. Denn obwohl die Autorin hier ihre eigene Familiengeschichte niederschreibt, hat die Kritikerin bald das Gefühl bei der Recherche dabei gewesen zu sein. So packend, so nahe berichte die in Kiew geborene und auf Deutsch publizierende Schriftstellerin von den lebenden, vor allem aber den toten Mitgliedern ihrer Familie, dass Geissler sich dem Bann dieser Geschichte nicht mehr entziehen kann: Sie folgt Petrowskajas Suche nach ihrer Großmutter Esther anhand von Dokumenten und Fotografien, reist in dem Buch mit der Autorin nach Auschwitz und ergründet mit ihr die Tradition der Familie, Gehörlose zu unterrichten. Nicht zuletzt bewundert die Kritikerin Petrowskajas sinnlichen und bildlichen Umgang mit Sprache.