V.S. Naipaul

Ein halbes Leben

Roman
Cover: Ein halbes Leben
Claassen Verlag, München 2001
ISBN 9783546003063
Gebunden, 240 Seiten, 19,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Sabine Roth und Dirk Gunsteren. In einer Region Indiens, die von der Auflehnung gegen die Kolonialmacht unberührt bleibt, fristet Willie Chandrans Vater ein Dasein nach den Vorstellungen seiner Vorfahren. Insgeheim träumt er jedoch von Taten, die seine wahre Größe bezeugen könnten. Vergebens: Seine kärglichen Versuche spiritueller Erneuerung führen ins Verstummen, und auch seine Heirat mit einer Frau aus einer niederen Kaste, die er nicht einmal liebt, hat nur ein Ergebnis: Chandran wird Opfer seiner eigenen Rebellion. Aus dieser unglücklichen Verbindung geht Willie Chandran hervor...

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.08.2002

Anlässlich des 70. Geburtstages des Literaturnobelpreisträgers V. S. Naipaul bespricht Georg Sütterlin gleich eine ganze Reihe soeben auf Deutsch erschienener Werke des zu einem der "besten" Schriftsteller der Welt gekürten Literaten. "Ein halbes Leben" wirkt auf den Rezensenten schon im Titel "mehrdeutig". So werde hier ein Leben erzählt, das nur "zur Hälfte" zur "Entfaltung" komme, zugleich werde dieses Leben aber auch nur "zur Hälfte" erzählt. Im Roman geht es um die Geschichte des Inders Willie Chandran, der ein Stipendium nutzt, dem heimischen Elend zu entfliehen und nach England geht, sich dort in eine portugiesisch-afrikanische Studentin verliebt, ihr nach Mocambique folgt, seine Frau verlässt und schließlich, inzwischen Anfang vierzig, seiner Schwester in Berlin sein Leben erzählt, berichtet der Rezensent. Beeindruckt von Naipauls "glasklarer Sprache" und dessen Talent, "viel sagen und gleichzeitig so leicht lesbar" schreiben zu können, hat Sütterlin trotzdem den Eindruck, dass Naipaul sein Diktum über den Tod der Romanform hier zum Tragen gebracht habe. Außerdem wirkt dieser Roman, denkt der Rezensent, wie eine "Verallgemeinerung der eigenen Befindlichkeit" des Autors, der vieles mit seinem Protagonisten gemeinsam habe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 13.12.2001

An den Wilhelm Meister scheint das Buch ja doch nur sehr vage zu erinnern. Was Naipaul hier entwirft, ist für Peter Münder schließlich "wahrlich kein Bildnis des Künstlers als junger Mann". Das "Wie wurde ich, was ich bin?" führt also weniger entlang der klassischen Entwicklungsstufen als auf einen Weg von Indien über London nach Berlin, auf dem das "große richtungsweisende Schlüsselerlebnis" ebenso ausbleibt wie das "Sendungsbewusstsein des zu Höherem Berufenen". Und auch mit Naipauls Biografie hat das alles nichts zu tun, wie Münder uns warnt. Statt seiner begegnen wir einem "muffig-nörgeligen, ziellos herumdriftenden" Helden. Schade, meint der Rezensent, dass das Buch genauso ist: Unfertig, "fast wie aus der Recycling-Schublade", die Erzählhaltung "vage und unentschlossen", die Figuren zu schemenhaft. Wer den Nobelpreisträger in Höchstform erleben will, dem rät Münder lieber zum "wohl eindrucksvollsten Roman dieses grandiosen Erzählers: 'Ein Haus für Mr. Biswas'".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.12.2001

Wie ein Destillat seiner Lebensthemen kommt Alex Rühle der neueste Roman des diesjährigen Literatur-Nobelpreisträgers vor: die Erfahrung des Exils, die unentwirrbare Verflechtung von Familien- und Kolonialgeschichte, die veränderte Bedeutung des Glaubens und religiöser Rituale im Alltag. Aber Naipaul sei weniger sarkastisch als früher, er "altersmilde" geworden, meint Rühle. Dennoch lässt Naipaul seinen Helden scheitern: er erzählt die Geschichte eines jungen Inders, der in den 50-er Jahren nach London kommt und dort zu schreiben beginnt, indem er sich Geschichten über seine indische Herkunft und Heimat ausdenkt. Es sind immer neue Identitätsentwürfe, schreibt Rühle, die zum Kern der eigenen Problematik nie vordringen, weshalb der kreative Strom bald versiege. Im Grunde imitiere der junge Mann seinen Vater. Dieser hatte schlampig gearbeitet und sein Versagen zum Akt zivilen Ungehorsams erklärt, war in ein Kloster geflohen und hatte ein Schweigegelübde abgelegt. Eine sarkastische Variante auf William Somerset Maughams Roman "Auf Messers Schneide", der ebenfalls in Indien spielt, erklärt Rühle. Sie deute auf das Thema des Romans hin: die Übernahme von Lebensmustern, die auf Bequemlichkeit beruhen.
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