Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Morgen oder Abend der Menschheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2023. Die Hamas gehört der menschlichen Zivilisation nicht an, schreibt Elfriede Jelinek auf ihrer Homepage. Die Welt meditiert in der Ausstellung "Menschheitsdämmerung" über eine mögliche Apokalypse. Ebendort sieht der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars Henrik Gass in den Angriffen nach seiner Solidaritätsbekundung mit Israel einen Stellvertreterkrieg um die Meinungshoheit im Kulturbetrieb. Die israelischen Betreiber einer Plattform für Online-DJing werden gemobbt, weil sie kein Podium für "From the River to the Sea"-Propaganda bieten wollen, meldet die taz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.11.2023 finden Sie hier

Kunst

Emma Talbot, Fluid Lovers, 2018, Courtesy: Die Künstlerin und Petra Rinck Galerie © Emma Talbot 

Über nichts weniger als das Schicksal der Menschheit meditiert Boris Pofalla für die Welt beim Besuch der Ausstellung "Menschheitsdämmerung" im Kunstmuseum Bonn. Stehen wir an einem Epochenumbruch, wie damals vor dem Ersten Weltkrieg? Dabei beschäftigt die Kuratoren und den Kritiker die Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes "Dämmerung": Sprechen wir hier vom Morgen oder vom Abend der Menschheit, überlegt Pofalla. "Francis Alÿs: der belgische Konzept-Flaneur ... hat vier kleinformatige Gemälde in einem Winkel von 45 Grad vor eine Spiegelwand montiert. Man kann so sowohl die Vorder als auch die Rückseite der Leinwände sehen. Beide Seiten sind bemalt, die Gemälde werden damit zu Vexierspiegeln, bei denen man immer beide Seiten gleichzeitig wahrnimmt. Dieses Sowohlalsauch setzt sich in den Darstellungen selbst fort, die in ihrer erzählfreudigen Art an Kinderbuchillustrationen erinnern. Da ist etwa eine Flussbiegung im Dschungel zu sehen, sattgrün im Dunst des Regenwaldes, aber mit einer scharfen Kante im unteren rechten Ecke. Wie mit dem Lineal gezogen verläuft hier die Grenze zur Zivilisation, die sich als Rodung ankündigt. Darüber in kleiner weißer Schrift die Worte: 'More Order - Greater Instability'. Über dem intakten Wald steht wiederum 'Less Order - Greater Stability'. Der Regenwald als gelebtes Chaos stabilisiert sich selbst, die Bauten der Menschheit sind oft schon bei Fertigstellung Ruinen."

Auch der indische Autor und Kurator Ranjit Hoskoté ist nun aus der Findungskommission der Documenta ausgetreten, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ. Nachdem Vorwürfe gegen ihn wegen der Unterzeichung einer BDS-Petition mit eindeutig antisemitischen Inhalten erhoben wurden (unser Resümee), forderte ihn die Leitung der Documenta auf, sich zu distanzieren. Hoskoté kam dem aber nicht nach, so Häntzschel: "Hoskoté beklagt nun, von ihm werde verlangt, 'eine pauschale und unhaltbare Definition von Antisemitismus zu akzeptieren, die das jüdische Volk mit dem israelischen Staat in einen Topf wirft und dementsprechend jede Sympathiebekundung für das palästinensische Volk als Unterstützung für die Hamas ausgibt.'"

Weitere Artikel: Harry Nutt vollzieht in der FR das Schicksal der jüdischen Familie Cassirer nach und evaluiert, was in deutschen Museen im Umgang mit NS-Raubkunst immer noch schief läuft. Gina Thomas schaut sich für die FAZ die Schottischen Nationalgalerien an, deren neues Konzept ein breiteres Publikum ansprechen soll, was sich nach einem Umbau auch architektonisch widerspiegele. Im taz-Interview mit Yulia Shchetyna spricht Natalia Yakymowich über ihre Pläne für die neue Serpen' Gallery in Berlin Mitte, die nun erstmals einen Ausstellungsort für zeitgenössische ukrainische Kunst bietet.

Besprochen werden die Ausstellung "Das Echo Picassos" im Museo Picasso in Málaga (FAZ) und die Ausstellung "Großes Kino. Filmplakate aller Zeiten" in der Ausstellungshalle am Kulturforum Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Auf ihrer Homepage umkreist Elfriede Jelinek in einem Essay den Angriff der Hamas auf Israel und findet dort bei allen Satzkonvoluten doch auch eindeutige Worte der Verurteilung, meldet der Standard. "Jetzt wird nur noch geschossen", schreibt die Literaturnobelpreisträgerin. "Und wie die Nazis beim Einmarsch in Polen, so sagt die Hamas zu ihrem Schießen, Massakrieren, Vergewaltigen, Foltern, sie sagt, es werde (natürlich pünktlich) zurückgeschossen auf etwas, das (noch) gar nicht geschossen hat. ... Diese bedingungslose Zerstörungwut einer Terrorbande gegen einen, den einzigen demokratischen Staat in der Region, löscht nicht diesen angegriffenen Staat, sondern vielmehr seine Angreifer aus. Die Hamas hat sich mit diesem Verbrechen ein für allemal selbst zerstört."

Außerdem: In den "Actionszenen der Weltliteratur" schreibt Marc Reichwein über die Kurzsichtigkeit von Annette von Droste-Hülshoff, den Föhn und Gämse in den Alpen. Besprochen werden unter anderem Marion Poschmanns "Chor der Erinnyen" (taz), Zadie Smiths "Betrug" (Standard), Marlene Streeruwitz' Essay "Gedankenspiele über die Toleranz" (FR), Peter Sloterdijks "Zeilen und Tage III" (Zeit), Paul Austers "Baumgartner" (NZZ), Joanna Bators "Bitternis" (SZ) und Arnon Grünbergs "Gstaad" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Die israelischen Betreiber der populären Online-DJ-Plattform HörBerlin sind massiven Anfeindungen ausgesetzt, nachdem sie zwei DJs dazu aufgefordert haben, mit ihren Kleidungsstücken keine "From the River to the Sea"-Propaganda zur Auslöschung Israels zu verbreiten, meldet Nicholas Potter in der taz. Die Boykottaufrufe und Absagen sind "kein Einzelfall: Seit dem 7. Oktober herrscht in großen Teilen der Clubkultur ein israelfeindlicher Tenor. Die Szene streikt, boykottiert und demonstriert für Gaza - zeigt aber kaum Mitgefühl für israelische Zivilist*innen oder die Opfer und Überlebende des Supernova-Festivals, bei dem die Hamas rund 250 Raver*innen abschlachtete und viele weitere verschleppte. Manche DJs feiern den Terror der Hamas gar als 'dekolonialen Widerstand'. Schon 2018 erreichte mit #DJsForPalestine die antiisraelische Boykott-Kampagne BDS die Clubkultur. Auch israelische DJs im Ausland sind aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit wieder von Line-ups ausgeladen worden."

Außerdem: Jörg Hackeschmidt empfiehlt in der NZZ den Youtube-Kanal des Musikers Rick Beato, der dort unter anderem auch Deep-Dive-Gespräche mit prominenten Musikern führt. Hier blickt er mit Musikern von Nirvana und Soundgarden auf den Grunge-Hype vor 30 Jahren zurück:



Besprochen wird Gianandrea Nosedas und Paavo Järvis Zürcher Orchestertausch für einen Rachmaninow-Wettbewerb (NZZ).
Archiv: Musik

Film

Jan Küveler spricht für die Welt mit Lars Henrik Gass, dem Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, der seit seiner öffentlichen Solidarisierung mit Israel und der eindeutigen Verurteilung des Neuköllner Hamas-Jubels mit einer Hetzkampagne aus seiner Position gekegelt werden soll (hier und dort unsere ersten Resümees). Er sieht insbesondere in der Vehemenz dieses Angriffs einen "Stellvertreterkrieg, der auf die Meinungshoheit im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb abzielt" - und eine Folge des Documenta-Skandals im letzten Jahr, den die BDS-Unterstützer noch nicht verkraftet hätten: "Dabei handelt es sich um eine Depression, eine Verwahrlosung eines bestimmten Teils der Linken in den letzten fünfzig Jahren, einer Gesinnungsgemeinschaft im Grunde, die nur noch um Macht kämpft, sich aber von universalistischen Ansprüchen und den sozialen Fragen, die den Marxismus noch bestimmt hatten, längst verabschiedet hat, die gesellschaftliche Spaltungsprozesse eher sogar noch beschleunigt; mit anderen Worten: Die Revolution findet nicht für alle statt, sondern nur für sie selbst, ihr Netzwerk."

Weitere Artikel: Fabian Tietke resümiert für die taz die Duisburger Filmwoche. Michaela Ott wirft für die taz einen Blick ins Programm des heute in Berlin startenden Festivals Afrikamera. Besprochen werden Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" (online nachgereicht von der FAZ), Fancis Lawrences "Die Tribute von Panem - The Ballad of Songbirds & Snakes" (Tsp), Alejandro Monteverdes "Sound of Freedom" (Jungle World, unsere Kritik), Marco Bellocchios "Die Bologna-Entführung" (SZ) und die Berliner Ausstellung "Großes Kino. Filmplakate aller Zeiten" (ein "Kessel Buntes", seufzt Andreas Kilb in der FAZ).

Und ein kleiner Mediathekentipp: Bei Arte gibt es gerade zehn Filme des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu online.
Archiv: Film

Bühne

Lilith Stangenberg als "Antigone". Foto:Thomas Aurin. 

Eine "schnörkellos klare, ästhetisch bestechende" Aufführung des letzten Teils von Roland Schimmelpfennigs Theater-Epos "Anthropolis" hat FAZ-Kritikerin Irene Bazinger am Deutschen Schauspielhaus Hamburg gesehen. Lilith Stangenberg gibt "Antigone" in der Inszenierung von Karin Baier als "exzentrisch entrückte" schon von Beginn an Verlorene, so Bazinger: "Rasend schlägt sie die Kalksteine aneinander, dass dichter Staub aufsteigt, was die Unbeugsame, zuletzt nackt und ohne Perücke, wie eine spirituell aufgeladene Skulptur des Untergangs erscheinen lässt. Mit Kreons juristischer Buchstabentreue ist dieses tolle Luftwesen nicht zu fassen. Antigone hat keine Angst vor dem Sterben, sie ist schon tot. Anders ihre gemäßigtere Schwester Ismene, die bei Josefine Israel als kraftvolles, emanzipiertes Girlie auftritt und im Familienstreit vergeblich die Trotzkarte ausspielt. Damit freilich ist beim Pokerface Kreon nichts zu holen, den Ernst Stötzner als blank polierten Aktendeckel im gehobenen Dienst zeigt, der raffiniert allen Machtwillen hinter Pflichterfüllung verbirgt. Selbst Maximilian Scheidt als sein devoter Sohn Haimon, Antigones Bräutigam, hat gegen diesen abgebrühten Realo keine Chance."

Im Nachtkritik-Interview mit Esther Slevogt spricht der israelisch-palästinensische Schauspieler Ala Dakka über die aktuelle Situation in Israel. Er habe sowohl bei den Massakern der Hamas als auch bei Israels Militäroffensive in Gaza Verwandte und Bekannte verloren. Was in Gaza passiere sei grauenhaft, "aber als Bürger dieses Landes muss ich Ihnen sagen: Die Leute auf der Welt sind wirklich blind, wenn sie das Ausmaß des Schocks nicht begreifen, den diese Ereignisse hier bewirkt haben - ich meine: Kein Land würde sich so etwas gefallen lassen, nicht in den wildesten Träumen! Kein Land auf der Welt würde akzeptieren, dass 1400 seiner Bürger an einem einzigen Tag brutal ermordet werden...Und dann sollen sie an die Leiden der Palästinenser denken und mit Nachsicht reagieren? Als ein Palästinenser, der hier lebt, sage ich Ihnen: Das Trauma, das diese Ereignisse ausgelöst haben, ist enorm. Mir scheint, dass die internationalen Medien blind dafür sind. Aber ich erlebe auch die Blindheit eines Teils der jüdischen Gesellschaft hier gegenüber dem, was gerade in Gaza passiert. Gaza ist jetzt ein Schlachthaus."

Besprochen werden Lorenz Noltings Adaption von Dorota Maslowskas Roman "Andere Leute" am Emma-Theater in Osnabrück (taz), Christof Loys Inszenierung von Wagners "Lohengrin" an der Nationaloper Amsterdam (FAZ) und David Hermanns Inszenierung von Richard Strauss' Oper "Die Frau ohne Schatten" an der Staatoper Stuttgart (FR).
Archiv: Bühne