Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2023

Die klügsten Thesen der Neuzeit

31.07.2023. Große Gefühle, Momente der Wahrheit und gewaltigen Blödsinn erlebt Zeit Online in Locarno in der Retrospektive des mexikanischen Kinos. Die SZ bejubelt in Bayreuth Tobias Kratzers "Tannhäuser"-Inszenierung als szenisches Wunder. Die FAZ schwebt sich mit einer Aufnahme des Ensembles Les Arts Florissants in den siebten Händel-Himmel. Außerdem billert und walsert es.

Unendliche Aporien des Daseins

29.07.2023. Martin Walser ist gestorben, der letzte aus der alten Garde der Großschriftsteller der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Dinge konnte man vor allem von ihm lernen: die Unmöglichkeit eines gelingenden Lebens, meint die SZ, und die Verführungskraft des Wegsehens, so die Zeit. Die Opernkritiker kommen in Salzburg erschöpft aus Martin Kušejs Inszenierung von "Figaros Hochzeit" im Mafiamilieu: bringt einen auch nicht weiter, meint die FR, aber die von Raphaël Pichon dirigierte Musik ist dafür aufregend subversiv. Hyperallergic kniet im Guggenheim Bilbao vor Oskar Kokoschka.

Mit den Ohren sehen

28.07.2023. In Bayreuth hadert die SZ immer noch mit Valentin Schwarz' "Rheingold"-Inszenierung, die FAZ macht einfach die Augen zu und überlässt sich Dirigent Pietari Inkinen, der zumindest klanglich für plastische Evidenz sorgt. Der Guardian bestaunt die frühen New-York-Fotos von Eve Arnold, die schon früh wusste, dass schwarze Macht und Stil die angesagtesten Spiele in der Stadt waren. Im Interview mit der taz ruft der senegalesische Musiker Baaba Maal seinen Landsleuten zu, dass "die Zukunft bei uns in Afrika" liegt.

Psychodelisch aufgejazztes Paradies

27.07.2023. Überfordert, amüsiert, angeregt kommen die Opernkritiker aus Jay Scheibs "Parsifal"-Inszenierung in Bayreuth: Einige hätten die VR-Brillen lieber abgesetzt, aber bayreuthwerkstattgemäß geht da noch was, hofft die Welt. Und außerdem: Die Sänger waren fantastisch, und Gurnemanz hatte Sex! In der Zeit erklärt Annika Lindgren, warum sie die Bücher ihrer Großmutter Astrid textlich modernisieren lässt. Die taz fühlt sich auch körperlich herausgefordert in einer Frankfurter Ausstellung der Netzkunstpioniere Eva & Franco Mattes. Die Popkritiker schreiben zum Tod Sinead O'Connors.

Zeitungen von gestern

26.07.2023. Die FAZ  ist hin und weg von Børre Sæthres liegendem Einhorn im Astrup Fearnley Museum in Oslo. Die FR lernt aus einer neuen Biografie, wie weit die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann ihrer Zeit voraus war. Die taz lässt sich nicht täuschen: Greta Gerwigs "Barbie" ist alles andere als feministisch. Die Feuilletons schicken Mick Jagger zum Achtzigsten süße und vergiftete Geburtstagsgüße.

Minimalistische Zukunftsavantgarde

25.07.2023. Die SZ jubelt über Lael Naeles Album "Star Eaters Delight", das sie in fremde wunderbare Klangräume versetzt. Die NZZ staunt über Edmund Morris' authentische Porträts indigener Ureinwohner Kanadas und bewundert den intelligenten Umbau eines Basler Weinlagers durch Esch Sintzel Architekten. Der Tagesspiegel stellt erfreut fest, dass das Kino-Publikum Lust auf Neues hat.

Der Loop ist ein Virus

24.07.2023. Die Welt sitzt aufgewühlt im Amphitheater von Epidauros, wo Frank Castorf die "Medea" inszeniert hat, und erwartet jederzeit, dass der Blitz das barbarische Europa trifft. Beim Filmemachen wird KI der Tod jeder Inspiration sein, warnt die SZ. Die NZZ bewundert Traummaschinen im Museum Tinguely. Die Berliner Zeitung stellt die israelische Sängerin AŸA und ihren Arabnb vor.

Lichtmeister der Gegenwart

22.07.2023. Die Musikkritiker trauern um einen der ganz Großen, den Sänger Tony Bennett, der sein Publikum mit Charme, Elan und einer begnadeten Stimme in lautstarke Verzückung singen konnte. Das Kino ist so langweilig geworden, stöhnt in der Welt Filmemacher Dario Argento. Die FAS fürchtet mit der Eröffnungsausstellung von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, dem neuen Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, eine neue Enteignung der Kulturen. Die NZZ taucht in die florierende Kunstszene Japans ein.

Kinder, macht Neues

21.07.2023. Der Standard begibt sich bei den Bregenzer Festspielen mit Lotte de Beers Inszenierung von Verdis "Ernani" auf einen actionreichen Slalomkurs in einer Geisterbahn. Immer das gleiche Repertoire bei Opernfestspielen, gähnt indes die SZ. Die NZZ blickt mit Cindy Sherman in die Gesichtslandschaften von Elefantenfrauen. In der SZ erzählt der scheidende Beck-Lektor Martin Hielscher von seinem Kampf für anspruchsvolle Literatur. Und die Musikkritiker erfahren im neuen Album von Blur, wie es klingt, wenn Vöglein beim Anziehen helfen.

Regeln, die über sich hinausweisen

20.07.2023. Mit Christopher Nolans "Oppenheimer" wird heute das zweite große Film-Highlight der Saison besprochen - und wer nicht denkfaul ist, wird viel Spaß an einem Film haben, vor dem selbst David Lynch niederknien darf, versichert die FAZ. Die SZ hetzt indes hinterher und stöhnt: "Totalausfall". Im Tagesspiegel erklärt Werner Busche, weshalb Caspar David Friedrich auch heute noch fasziniert: Es liegt am "romantischen Kalkül". Das Stadtparlament Kiew will keine ukrainische Literatur mehr auf russisch, berichtet der Standard. Und in der NZZ will Martin Mosebach nicht an deutscher Hysterie teilnehmen.

Fragwürdiges Pfützenwasser

19.07.2023. Allgemeine Zufriedenheit über den Büchner-Preis für Lutz Seiler: Kein "Bilderbuch-Gewinnertyp", meint die FR, aber ein Dichter, der auf "fast archaische Weise" Kopfkino erzeugt, ergänzt die Welt. Uneins sind sich die Filmkritiker über Greta Gerwigs "Barbie": Einen Film, der den Feminismus neu denkt, feiert die Welt, oder eher leicht verdaulich macht, meint der Perlentaucher. Welt und Tagesspiegel bestaunen einen "Fliegenden Holländer" inmitten des schwarzen, aber nicht schweigenden polnischen Waldes. Und die FAZ spitzt die Ohren bei Natascha Sadr Haghighians "Sechs Kompositionen für Trillerpfeife".

Mythos des Amselfelds

18.07.2023. In der FR fragt Martin Piekar: "Wohin ist die deutsch-polnische Literatur verschwunden?". Die SZ staunt darüber, wie sich die Geigerin Tianwa Yang virtuos vom zartesten Pianissimo zu rythmischen Pointierungsfeuern spielt. Die taz besucht die Autostrada-Biennale im kosovarischen Prizren und bewundert, wie sanft man Entideologisierung betreiben kann. Der Tagesspiegel lässt sich durch Architektur heilen.

Im Wahnsinn verlöschendes Ich

17.07.2023. Die FAZ staunt über die Selbstberauschung russischer Z-Dichter, die im Fernsehen und in Konzertsälen von einem Großrussland delirieren. In der FAS will Ronya Othmann raus aus dem Knast von Zuschreibungen im Rahmen der Diversität. Hyperallergic überlegt, wie eine wirklich kritische Picasso-Ausstellung aussehen könnte. SZ und nmz sind hingerissen von Händels Oper "Semele", die Claus Guth in München als "Girlie-Macho-Story" inszenierte. Die Filmkritiker trauern um den Freigeist Jane Birkin.

Ein pinkfarbener Atompilz

15.07.2023. Beim Streik der Hollywood-Schauspieler gehen nicht etwa Multimillionäre auf die Straße, sondern prekäre Tagelöhner, erkennt die SZ. Im VAN-Magazin erklärt die Festival-Doppelspitze Julia Nikolaevskaya und Vitali Alekseenok, warum sie ihr Musikfestival in Charkiw jetzt erst recht durchgezogen haben: Sie spenden damit Kraft zum Weiterleben. Für Artechock kann es gar nicht genug Blockbuster-Hype im Kino geben. Die FAZ freut sich über revolutionäre Frauenpower im polnischen Musical "1989" über die "Solidarność"-Bewegung.

Das Color der ganzen Welt

14.07.2023. Hollywood Reporter, ZeitOnline und Welt berichten von den Folgen des Schauspielerstreiks. Die FAZ lernt in einer Ausstellung im Dresdner Kupferstichkabinett, wie gefährlich Künstlerreisen sein können. Die SZ zweifelt, ob sie künftig mit zehntausend Begüterten auf einer veganen Pizza im Wasser leben möchte. Die taz sitzt beim Frankfurter Festival Theater der Welt in einer Inkubationskapsel und fragt sich, ob sie ein Ei oder eine Krankheit ausbrütet.  Und auf ZeitOnline vermisst Simon Reynolds strahlende Zukunftsutopien im Pop.

Puppenstuben aus Beton

13.07.2023. Die Feuilletons trauern um Milan Kundera, dessen befreiendes Schreiben seinen Lesern die Augen nicht nur für Mitteleuropa öffnete und der doch für die Tschechen immer ein Mann der Geheimnisse blieb. Die FAZ blickt dank einer Basler Ausstellung gar nicht mehr so pessimistisch in eine Zukunft mit KI. Halb so wild, winken die Filmkritiker angesichts des Sparzwangs bei der Berlinale ab: Mehr Rampenlicht für einzelne Filme, meint die SZ. Die FAZ ravt in Kiew gegen den Tod an.

Dann schrumpft halt mal

12.07.2023. Das Programm der Berlinale wird weiter gedeckelt, ließ die Festivalleitung gestern verlauten. Wieso lässt die Kulturpolitik das Festival so im Regen stehen, fragt sich der Tagesspiegel. Die FR wird von der weltlichen Inbrunst der Musik in Calixto Bieitos Inszenierung von Händels "La Resurezzione" mitgerissen. Die FAZ lässt sich von der subtilen Unheimlichkeit in Ralph Gibsons Fotografien in surreale Welten entführen.

Wie eine Selbstparodie

11.07.2023. Die FAZ streift in Wolfgang Laibs Installationen durch duftende Reisfelder und Blütenstaub. Die NZZ sieht Beiruts Kunstszene nach der Explosion vor drei Jahren wie einen Phönix aus der Asche steigen. Tom Cruise springt mit dem Motorrad von den Klippen - die taz gähnt. Dafür staunt sie beim "Heroins of Sound"-Festival, was man mit Klavieren und E-Gitarren so alles machen kann.

Die Schreie und das Geheul

10.07.2023. Die Berlinale wird sich auf empfindliche Kürzungen einstellen müssen, berichtet der Tagesspiegel: Wegfallen könnten Sektionen wie die Perspektive Deutsches Kino oder Berlinale Series. In der SZ wirft die Literatursoziologin Carolin Amlinger die Frage auf, ob die Literatur überhaupt noch die Distanz zum Zeitgeist sucht. Auf Twitter dokumentiert der britische Schriftsteller Hanif Kureishi seine Depression. Gewaltige Schädelberge türmt Ron Mueck vor der FAZ auf. Trost findet die SZ beim Opernfestival in Aix-en-Provence.

Rache ist rosa

08.07.2023. Wer Angst vor Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" hat, kann in Baden-Württemberger Schulen jetzt statt dessen Anna Seghers' "Transit" lesen: Das nennt man Streit-Vermeidungskultur, kritisieren SZ und FR. Die Berliner Zeitung lässt sich von den verschlingenden Liebhabern der spanischen Künstlerin Eva Fàbregas überwältigen. Die NZZ sucht das Paradies auf dem Lucerne Festival. Die SZ annonciert einen epischen Blockbuster-Battle ab 20. Juli zwischen Greta Gerwigs "Barbie" und Christopher Nolans "Oppenheimer".

Mit ungewisser Aura

07.07.2023. In der NZZ erklärt die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger, warum viele Ukrainer keinen Dostojewski mehr lesen wollen. Die taz lernt im Museum Ludwig, dass nicht alles russische Kunst ist, wo russisch draufsteht. Einen sehr lebendigen Wolf Biermann erleben FAZ und FR in einer Ausstellung des DHM. Im Interview mit der Zeit erklärt die amerikanische Filmemacherin Greta Gerwig die spirituelle Geschichte hinter ihrem Barbie-Film. Die FAZ versinkt in Aix en Provence im Schmerz von George Benjamins neuer Oper "Picture a Day Like This". Der Tagesspiegel badet im Barberini Museum im Glanz impressionistischer Kunst aus den Niederlanden.

Das Raubtierhafte ist Allgemeingut geworden

06.07.2023. Tagesspiegel und Welt begutachten Thomas Ostermeiers leichtfüßige, verführerisch gleißende, doch vom Klassenkampf sehr weit entfernte "Dreigroschenoper" im französischen Aix. Die Zeit schmilzt dahin mit dem Kammerpop von Anohni. Die FR bewundert in der Schirn die aktivistische Kunst der Martha Rosler. Die FAZ schwelgt im Prado mit J.M. Coetzee in der noblen Unergründlichkeit von Weltklassemalerei.

Irgendwo in den Welten Albions

05.07.2023. FAZ und Berliner Zeitung vermissen in der Ausstellung "Schlösser. Preußen. Kolonial" eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Zeit online wird vom sphärischen Indie-Pop auf PJ Harveys neuem Album "I Inside the Old Year Dying"  wie von Meerjungfrauenhänden in eine ursprüngliche und gefährliche Tiefe gezogen. Die Feuilletons trauern um den Schriftsteller Peter Bieri alias Pascal Mercier. Die FAZ lässt sich von Trajal Harrells Tanzsolo-Performance beim Festival Theater der Welt hypnotisieren.

Göttin des Wassers

04.07.2023. FAZ, SZ und FR können angesichts des Klangsturmes bei der Wiederaufführung von Rudi Stephans selten gespielter Oper "Die letzten Menschen" ihren Ohren kaum trauen. Der Filmdienst dringt auf dem Filmfest München unter anderem mit Maximilian Erlenweins Tauchthriller "The Dive" in die dunkleren Bereiche von Mensch und Welt vor. Die FAZ freut sich in Dresden über die Widerspenstigkeit in den Werken der aus der DDR geflohenen Künstlerin Cornelia Schleime. Die SZ wünscht sich zarteres Design.

Angesprochen, berücksichtigt, geschont

03.07.2023. Die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina ist bei einem Raketenangriff auf Kramatorsk ums Leben gekommen. Die NZZ vermutet, dass das Restaurant, in dem sie gerade den kolumbianischen Autor Hector Abad traf, gezielt beschossen wurde. In Klagenfurt gewann die Berliner Autorin Valeria Gordeev den Bachmannpreis in einem starken Jahrgang, wie FR und Standard mit Freude bemerken. Die SZ stellt allerdings fest, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen Autor und Erzähler. Die Nachtkritik lauscht derweil beim Theater der Welt dem Chor der Milchkühe. Die taz bewundert in Dresden die kreidige-cremige Pudrigkeit in den Porträts der Venezianerin Rosalba Carriera.

Ein sanftes Wegpusten der Wolke

01.07.2023. Die taz hat am zweiten Tag in Klagenfurt bereits erste Favoriten, darunter Jayrome Robinet, der aus Sicht eines Transmannes über Gewalt in einem migrantischen Arbeiterhaushalt schreibt. Die Welt wünscht sich indes auch mal einen Text, der über das eigene Ich hinausschaut. Die FAZ erinnert daran, dass der Rowohlt-Verlag bei der Einführung von Philip Roth in Deutschland antisemitische Reaktionen fürchtete. Die Berliner Zeitung tanzt in Berlin durch die ruppigen Farbgebirge von Judit Reigl. Die SZ hat große Zweifel an der Seriosiät der ARD-Umfrage zu Machtmissbrauch am Theater. Und die taz hofft, dass KI Musikern ein paar entscheidende Fußtritte verpasst.