Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Bühne

3061 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 307

Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2024 - Bühne

Calle Fuhr in "Aufstieg und Fall des Herrn René Benko". Foto: Marcel Urlaub


Drama gibts eigentlich nicht in Calle Fuhrs "Aufstieg und Fall des Herrn René Benko", das am Wochenende auf der Studiobühne des Wiener Volkstheaters Premiere hatte. Statt dessen: Minimalistische "Lecture Performance", erklärt in der SZ Wolfgang Kralicek. Fuhr steht vorn auf der Bühne und erklärt mit Bechern, die er zu Pyramide aufbaut, das Geschäftsmodell des pleite gegangenen Immobilienspekulanten. "Erstaunlich, wie einfach der Trick ist!", denkt sich Kralicek. "Das Geschäftsmodell, das René Benko zum Milliardär gemacht hat, ist eigentlich nicht neu. Im Prinzip funktioniert Immobilienspekulation genau so. Bei Brecht hieß das: Der Schoß ist fruchtbar noch." Hätte es für diese Warnung nicht auch eine Recherche in der Zeitung getan? Findet Uwe Mattheiss in der taz nicht: Das muss öffentlich ausgetragen werden, denn den Helden der Rechercheplattformen, die das alles ausgegraben haben, "steht das vollständige Versagen einer medialen Öffentlichkeit [gegenüber], die im Wettbewerb um Aufmerksamkeit lange genug das Narrativ des überlebensgroßen Selfmademans genährt hat, das dem des populistischen Führers nicht unähnlich ist." Weitere Besprechungen in der nachtkritik und im Standard.

Szene aus "Don Carloss". Foto: Thomas Aurin


Jürgen Kaube (FAZ) fand Felicitas Bruckers Inszenierung von Schillers "Don Carlos" am Schauspiel Frankfurt eigentlich ganz anregend - bis zum Schluss: "Bei Friedrich Schiller, der sich diese wechselseitig widersprüchliche Interessenverfolgung zum allgemeinen Nachteil, also dieses Trauerspiel ausgedacht hat, endet das Ganze mit einem toten Posa und in einem Ohnmachtsanfall von Elisabeth. Felicitas Brucker hingegen lässt der Gräfin Eboli eine Pistole in die Hand drücken, mit der sie erschießt, was an Männern auf der Bühne noch übrig ist: Carlos, Alba und Philipp. Das hinterlässt den Eindruck, damit sollten die Probleme des Stück handstreichartig gelöst und zur sehr übersichtlichen Behauptung verdichtet werden, ohne Männer gebe es keine Tyrannei und auch das ganze Durcheinander im Kampf gegen sie nicht. ... 'Schade', sagt Elisabeth mit Blick auf die Toten und macht eine kleine Pause, die das Publikum lachen lässt". "Das ist eine Verlegenheitslösung, und sie bleibt entsprechend unverbindlich", findet auch Judith von Sternburg in der FR. Nachtkritikerin Esther Boldt stört sich nicht am Schluss: "Absolut heutig kommen die Machtfragen daher, die dieser 'Don Carlos' stellt. Und das weniger durch vordergründig aktualisierende Texteingriffe, als durch die zahlenmäßige Reduktion des Personals auf die Verkörperung zentraler Funktionen in den laufenden Konfliktlinien, und durch ein dichtes Spiel, das diese lebendig, spürbar macht."

Weitere Artikel: In der FAZ wirft Lotte Thaler der grünen Kulturpolitik die Zerstörung des Kasseler Theaters vor. In der SZ stellt Reinhard J. Brembeck den Operntenor und -bariton! Michael Spyres vor, der im Sommer in Bayreuth den "Lohengrin" singen wird. In der FR erinnert Arno Widmann an die Weltpremiere von Schillers "Wilhelm Tell" vor 220 Jahren.

Besprochen werden außerdem Elsa-Sophie Jachs Adaption von Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" am Münchner Residenztheater (nachtkritik, SZ), Moritz Franz Beichls Inszenierung von Molières "Tartuffe" am Deutschen Theater Göttingen (nachtkritik), Rainer Dachselts Komödie "Reich und glücklich in zehn Tagen" an der Berliner Volksbühne (FR), Nino Haratischwilis "Phädra, in Flammen" in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt (FR), Jan Bosses Inszenierung "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke", die den gleichnamigen Roman von Joachim Meyerhoff als Solo für Anne Müller adaptiert (nachtkritik), Reinhard Keisers "Nebucadnezar" am Opernhaus Magdeburg (nmz) und Rossinis "La cenerentola" in Weimar (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2024 - Bühne

Elmar Krekeler besucht für die Welt den Schauspieler Stefan Jürgens. Besprochen werden "Playing Earl Turner" von Laura Andreß und Stefan Schweigert am Theater am Werk in Wien (nachtkritik), Kevin Rittbergers Stück "vom zeugenschutz des raubwürgers" am Neumarkt Zürich (nachtkritik), Udo Zimmermanns Kammeroper "Weiße Rose" am Staatstheater Mainz (FR), die Uraufführung von Caren Jeß' Stück "Ave Joost" am Staatstheater Nürnberg (SZ) und die Uraufführung von Jez Butterworths "The Hills of California" in der Inszenierung von Sam Mendes am Harold Pinter Theatre in London (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.03.2024 - Bühne

Aribert Reimann, 2010. Foto: Aldus Rietveld, unter CC-Lizenz


Der Komponist Aribert Reimann ist gestorben. Die Zeitungen sind voller bewundernder Nachrufe: Denn Reimann war ein durch und durch moderner Komponist, für den dennoch der Mensch das Maß aller Dinge blieb, als "singend sich äußernde und entäußernde Kreatur", schreibt Stefan Mösch in der FAZ. "Damit unterscheidet sich Reimann von vielen Komponisten seiner Generation. Bei den Darmstädter Ferienkursen, die in den 50er- und 60er-Jahren den Ton der Neuen Musik bestimmten, war er nur ein einziges Mal und fuhr befremdet nach Hause. Er hatte nichts gegen Selbsterneuerungswillen, auch nichts gegen Reihen und serielles Denken, aber er entwickelte daraus eine andere künstlerische Physiognomie. Vor allem glaubte er an die menschliche Stimme, die damals in Avantgarde-Kreisen verpönt war. Er konnte sich zur Expressivität bekennen, weil er souverän genug war, nicht aus einem Vorrat verfügbarer Ingredienzien zu schöpfen. Ausdruck entwickelte sich bei ihm aus stets neu geschaffenen Erlebnis- und Kommunikationsbezirken."

Das zeigte sich vor allem bei seiner Oper "Lear", die 1978 in München uraufgeführt wurde. Eine Sensation, erinnert sich in der Berliner Zeitung Peter Uehling. "Es erklang eine Musik von großer dramatischer Wucht und Ausdruckskraft, die zu ihrer Wirkung jedoch keinerlei stilistische Zugeständnisse an die Spätromantik machte, wie sie zu dieser Zeit, etwa bei Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm, gang und gäbe waren. Das Werk vermochte neue Orchesterklänge zu prägen wie zuletzt vielleicht die 'Elektra' von Strauss: Die Exzesse der Sturmmusik oder die gläsern-stockenden Streicher, die den Narren begleiten, sind vielleicht die letzten schlagenden Beispiele charakterisierenden Instrumentierens in der Musikgeschichte überhaupt."

Weitere Nachrufe von Christian Wildhagen in der NZZ, Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, Manuel Brug in der Welt, Judith von Sternburg in der FR und Reinhard J. Brembeck, der sich in der SZ erinnert, dass Reimann Melodien schreiben konnte, "die nie an Bekanntes erinnern, immer aber Träger von Ausdruck und Emotion sind. Angst, Sehnsucht, Irrsinn, Erotik, Unsicherheit. Jubel: Alles, was Menschen fühlen, konnte Reimann in seinen oft ins Endlose zielenden Melodien einfangen. Wobei diese Melodien sich als organische Gebilde entfalten, völlig frei von Takt und Metrum, an die sich zu binden Reimann langweilig und reizlos fand."

Hier die Cordelia-Arie aus Aribert Reimanns "Lear", mit Hanna-Elisabeth Müller



Mit der Berliner Volksbühne geht es bergab - nicht erst seit Rene Pollesch Intendant wurde, aber seitdem noch steiler, meint in der SZ Peter Laudenbach, der - bei aller Liebe zu dem Regisseur Pollesch - hart mit dem Intendanten abrechnet: "Polleschs Behauptung einer kollektiven Intendanz war ein gut gemeinter Selbstbetrug und ein Missverständnis: Pollesch wollte Intendant sein, ohne den Intendanten geben zu müssen. Das öffnete Räume für groteske Selbstbedienungsmanöver jenseits professioneller Mindeststandards. Die Tochter einer Bühnenbildnerin will mal Regie führen und blamiert sich mit ihren Freunden mit dilettantischen Hilflosigkeiten. Die Witwe von Bert Neumann braucht einen Job und wird Marketingchefin, nebenbei verdient sie sich etwas dazu, indem sie vor überschaubarem Publikum aus ihren Lieblingsbüchern vorliest. Die Freundin von Martin Wuttke gibt die Chefdramaturgin. Persönliche Seilschaften werden zur Kernkompetenz. Jeder darf mal." Laudenbach plädiert dafür, Matthias Lilienthal als Interimsintendanten ans Haus zu holen und für die Zeit danach Nikolas Stemmann.

Besprochen werden Clemens Maria Schönborns Inszenierung von Calderons Versdrama "Das Leben ein Traum" an der Berliner Volksbühne (in der FAZ singt Simon Strauß ein kleines Liebeslied an Darstellerin Sophie Rois: Ihr "Singsang ist es, der den Abend trägt. Auch dann noch, als er zum Ende hin arg ausfranst und sich in Kalauern erschöpft. ... die Rois reißt alles raus. In ihren Singsang verliebt sich das Ohr stets aufs Neue. An ihrem herben Gesicht kann man sich nicht sattsehen. Dass ihr schöner Sigismund je 'müde und einsam durchs Leben schreiten' könnte, kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen.") Sarah Kohrs' Inszenierung von Rossinis "Cenerentola" an der Oper Kiel (nmz), Mieczysław Weinbergs "Die Passagierin" in der Inszenierung von Tobias Kratzer an der Bayerischen Staatsoper (nmz) und Wolfgang Rihms "Die Hamletmaschine" am Staatstheater Kassel (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2024 - Bühne

Szene aus "Das Leben ein Traum". Volksbühne. Bild: Gordon Welters

Ein paar Überraschungen, vor allem aber eine "Therapie" nach dem plötzlichen Tod Rene Polleschs bekommt Nachtkritiker Christian Rakow mit Clemens Maria Schönborns Inszenierung von Pedro Calderons "Das Leben ein Traum" an der Berliner Volksbühne geboten. Sophie Rois steht ausnahmsweise nicht allein auf der Bühne in dem Stück, das Schönborn als "Theatergottesdienst" starten und in "dezenter Blödelei" enden lässt, so Rakow: "Im Finale hocken alle gemeinsam in einem Wohnzimmer, das sich im Kellergeschoss unter der glatten weißen Spielfläche befindet (Bühne: Barbara Steiner). Sie schauen 'Drei Haselnüsse für Aschenputtel' im Fernseher, und Silvia Rieger als Familienoberhaupt gibt Sinnsprüche zum Besten ('Wo früher eine Leber war, ist heute eine Minibar...') oder auch mal Dionysos-Dithyramben von Nietzsche. Und dort befinden sie sich nun tatsächlich in einem Theatertraum: einem aus alter, versunkener Volksbühnenzeit, als Frank Castorf noch die Stunden verstreichen ließ, als man lässig zusammen abhing, ein bissl witzelte, ein bissl gründelte, mancher Zuschauer ging aus dem Saal, die meisten blieben, als Mitverschworene sozusagen. Schön war's."

Derzeit feiert Nino Haratischwilis Stück "Phädra in Flammen" am Schauspiel Frankfurt Premiere. Im FR-Gespräch mit Judith von Sternburg erklärt sie, weshalb sie immer wieder ambivalente Frauenfiguren auf die Bühne bringt und weshalb es unabdingbar ist, dass der Westen die Ukraine weiter unterstützt: "Auf politischer Ebene muss die Ukraine unterstützt werden, wo auch immer es geht. Das meine ich nicht so naiv, wie es vielleicht klingt. Keiner will den totalen Krieg, aber wenn die Ukraine fällt, ist die Frage nur, wer als nächster dran ist. Das System in Russland wird immer paranoider, hermetischer. Es geht wieder zurück in die 30er Jahre mit der Propaganda und mit den Verschwörungstheorien vom 'bösen' Westen. Und es ist nicht zu sehen, woher ein großer politischer Paradigmenwechsel kommen soll."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Livio Koppe das Berliner Theaterprojekt "Inklusion Bühnenreif". In der Welt besucht Jakob Hayner André Nicke, seit fünf Jahren der Leiter der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt. Im Tagesspiegel wirft Frederik Hanssen einen Blick auf das Programm der Komischen Oper in der Saison 2024/2025. Gerhard Felber besucht für die FAZ das Mährisch-Schlesische Nationaltheater, das zum 200. Geburtstag alle acht Opern Bedrich Smetanas einstudiert hat und sie nun bis Mai in zwei Komplettserien zur Aufführung bringt.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.03.2024 - Bühne

Sadler's Wells, New York City Ballett - Peter Walker und Emily Kikta in Love Letter (on shuffle) © Erin Baiano

Wiebke Hüster lässt in der FAZ keinen Zweifel daran, was sie vom New York City Ballett hält, der ursprünglich von George Balanchine gegründeten Tanztruppe, deren Gastspiel im Londoner Sadler's Wells sie besuchen durfte: "Sie sind die Besten. Und die überraschende Zusammenstellung des vierteiligen Programms war geeignet, die Direktoren Jonathan Stafford und Wendy Whelan zu ihrer beeindruckenden Balanchine-Bewahrung und ihrer offensichtlich sehr klaren Vorstellung von Choreografie heute beglückwünschen zu wollen. Irgendwie schaffen sie es, dass die Tänzer diesen Aplomb, dieses vor Tanzenergie schier explodierende Vergnügen an der eigenen unbekümmerten Virtuosität ausstrahlen, als wären sie Weltklassesportler, die an diesem Abend eine Medaille nach der anderen einstreichen. Es drückt einen in den Sitz, als wäre das Publikum der Ko-pilot und sie würden ständig Vollgas fahren auf dem Circuit of the Americas."

Jakob Hayner unterhält sich in der Welt mit Sophie Rois. Unter anderem geht es um die ersten Jahre der Schauspielerin an der Volksbühne in den frühen 1990ern: "Der Erfolg war ganz und gar nicht ausgemacht. Als ich da anfing, war es schön, so etwas wie 'Kühnen 94 - Bring mir den Kopf von Adolf Hitler' von Schlingensief durchzuprügeln, gegen jede Chance. Bei meinem Aufprall auf die Volksbühne war ich ein verwirrtes Etwas, dann begann sich die Welt zu ordnen. Als ich sah, was die da auf der Bühne machten, fühlte ich mich plötzlich als Teil der Menschheit. Das ist mir nicht immer vergönnt."

Weitere Artikel: Wolfgang Behrens macht sich auf nachtkritik Gedanken über die Rolle von Argumenten in der Theaterkritik. Ebenfalls für nachtkritik rezensiert Christine Wahl "Der Lärm des Lebens", die Autobiografie des Schauspielers Jörg Hartmann.

Besprochen werden Tobias Kratzers Inszenierung (unser Resümee) von Mieczysław Weinbergs "Die Passagierin" an der Münchner Staatsoper (WeltNZZ) und die Soloperformance "Die bitteren Tränen einiger ehrlicher Erb*innen" im Hamburger Lichthof (taz, "unerwartet lebensbejahend").

Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2024 - Bühne

Szene aus "Die Passagierin". Bild: Wilfried Hösl

An der Bayerischen Staatsoper feierte Mieczyslaw Weinbergs Auschwitz-Oper "Die Passagierin" in der Inszenierung von Tobias Kratzer Premiere, Kratzer und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski haben das Stück nach dem Tod der Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpferin Zofia Posmysz um die im KZ spielenden Szenen gekürzt. Erzählt wird aus der Täterperspektive von SS-Frau Lisa, die Ende der Sechziger bei einer Schiffsfahrt auf die totgeglaubte KZ-Überlebende Marta trifft und mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Aber kann man Auschwitz überhaupt auf die Bühne bringen - ohne KZ, SS und Häftlinge, fragt Egbert Tholl in der SZ. Man kann, so Tholl: "Jurowski und das Staatsorchester schaffen ein Meisterwerk musikalisch-dramatischer Erzählung, mitreißend, beklemmend. Weinberg schreibt Brüche, keine Übergänge, eine grandiose Herausforderung, ein akustischer Überfall folgt auf den anderen. Dem Eliminieren der 35 Minuten, die im Lager spielen, stellt Kratzer nun ein fantastisch gearbeitetes Kammerspiel entgegen."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt FAZ-Kritiker Stephan Mösch: "Wie Fenster des Bewusstseins öffnen sich einzelne Kabinen des Luxusliners. Auschwitz spielt sich bis zur Pause allein im Kopf dieser doppelten Lisa ab. Ein Hörspiel oft und insofern ganz nah an der Vorlage, als Posmysz ihre Erinnerungen zunächst mit einem Hörspiel verarbeitet hat. Auch danach geht es stilisiert zu. Der Ballsaal des Schiffes, lange gespenstisch leer, gibt Raum für die Toten, die als Doubles von Marta wiederkehren. Es geht weniger um einen Plot als um Bilder, die das Geschehen weiten. Erst kurz vor Schluss kommt eine Doku zu Konzentrationslagern ins Spiel. Lisa sieht sie im Fernsehen. Eine vielschichtige Szene, die ein Stück deutsche Mentalitätsgeschichte einfängt, und eine klare Antwort auf die zentrale, gesungene Frage: 'Muss ich denn für alles und für alle die Verantwortung übernehmen?'" "Kratzers Inszenierung  ist zwar nicht die letzte Antwort auf die Frage, ob man den Holocaust in naturalistischen Bildern auf die Bühne bringen kann und soll, er zeigt aber, dass man es nicht muss, um an das Grauen zu erinnern", meint Joachim Lange in der taz, während Judith von Sternburg (FR) die Oper mitunter zu "verkopft" ist: "Nur wenn man diese Oper bereits gut kennt, kann man mit Kratzers Lesart etwas anfangen, ohne es sich selbst zu leicht zu machen."

Weiteres: Für die taz spricht Petra Schellen mit Katrin Ullmann, Theaterkritikerin und Jurorin des Berliner Theatertreffens, über die Frauenquote am Theater. Besprochen wird Nils Brauns Inszenierung der Oper "The Crash"am Staatstheater Oldenburg (taz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.03.2024 - Bühne

Szene aus Rihms "Hamletmaschine" in Kassel. Foto © Sylwester Pawliczek


Lotte Thaler (FAZ) hörte am Staatstheater Kassel Wolfgang Rihms spartenübergreifende "Hamletmaschine" nach dem Stück von Heiner Müller. Mit der Inszenierung von Florentine Klepper kann sie nicht viel anfangen ("Konventioneller geht's kaum") und Choreograf Valentin Alfery tut ihrer Meinung nach "des Guten zu viel". Aber die Musik! Und die Darsteller! "Auf der Opernbühne heißt dies, Hamlet singt nicht mehr. Deshalb überträgt Rihm einem Schauspieler die apokalyptische Abrechnung Müllers mit der Staatsgewalt. Jakob Benkhofer führt sie in einem grauenerregenden Monolog vor Augen, klanglich krass komprimiert in zwei Pistolenschüssen. Dem Sänger des Hamlet bleibt der Ekel, vor der Welt und vor sich selbst. Er ist ein röchelndes und falsettierendes Wrack. Hohe Geigen haben es blutig gestochen, Klavier und Kontrafagott in den Abgrund gezogen - eine Wahnsinnsszene... Peter Felix Bauer, der seine Hamletrolle ungewöhnlich spät übernahm, meistert die Monsterpartie mit wahrem Perfektionsdrang. Allerdings hat er wie auch alle anderen Protagonisten im Dirigenten Francesco Angelico einen Mentor, der ihn auf Händen trägt."

Auch FR-Kritikerin Judith Sternburg ist beeindruckt: "Fabelhaft sofort, wie gut Tänzerinnen einen 'Engel mit dem Gesicht im Nacken' (Walter Benjamins 'Engel der Geschichte') darstellen können. Vor dem finsteren Grund der diesjährigen Kasseler Bühnenrauminstallation 'Antipolis', als 'Hamletmaschinen'-Bühne eingerichtet von Sarah-Katharina Karl, wirken die zitronengelben, Elisabethanisches zitierenden Kleider erst recht. Wie überhaupt die Kostüme von Miriam Grimm ein Trumpf des Abends sind, zum Knallgelben kommt das Nachtschwarze und Alltagsbunte." In der nachtkritik sekundiert Simon Gottwald: "Manchmal ist die Bühne sogar etwas zu voll. ... Aber Kleinigkeiten wie diese können vernachlässigt werden, wenn man sich eine Inszenierung anschauen möchte, die zwischen lustvoller Groteske und Weltschmerz pendelt wie der Sandbottich über der Bühne."

Besprochen werden außerdem Jasper Brandis Inszenierung des "Oedipus" von Sophokles am Theater Regensburg (Großes Theater, lobt nachtkritiker Thomas Rothschild: "Der Ödipus des Jonas Julian Niemann ist ein heutiger Mensch, angefüllt mit antikem Furor. Der Mythos bedarf keiner Oberflächenaktualisierung. In Regensburg wird erfahrbar, wie sehr er nach wie vor ergreift, wenn man ihn ernst nimmt"), Alessandro Schiattarellas "Breaking Point" am Schauspiel Hannover (nachtkritik), Felix Metzners Adaption von Bernhards "Auslöschung" am Staatstheater Darmstadt (den Bernhard-Schmäh mildert Metzner "so ab, dass er im inneren Monolog der Hauptfigur, teils auf Figuren verteilt, nie lästig wird. ... Schöner Theaterabend", lobt Marcus Hladek in der FR), Ibsens "Volksfeind" in der Inszenierung von Julienne De Muirier am Theater Dortmund (nachtkritik), Walter Sutcliffes Inszenierung von Puccinis "La bohème" in Halle (nmz), Johann Christian Bachs Oper "Zanaida" im Münchner Prinzregententheater (nmz), Christoph Marthalers "Aucune idée" im Schiffbau Zürich (NZZ), Anna-Sophie Mahlers radikale Umarbeitung von Johnsons "Jahrestagen" am Schauspiel Leipzig (FAZ), Heiki Riipinens Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" am Berliner Ensemble (SZ) und "Goethes Faust, allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk am Schauspiel Hannover (SZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2024 - Bühne

Szene aus "Leben und Sterben in Wien". Foto: Moritz Schell


Im Wiener Theater in der Josefstadt hatte Thomas Arzts "Leben und Sterben in Wien" Premiere, das Direktor Herbert Föttinger als letzte Amtshandlung inszenierte. Es spielt in der Zeit zwischen 1927 und 1934, als sich gegen den heftigen Widerstand des "roten" Schutzbundes die Faschisten etablierten. nachtkritiker Martin Thomas Pesl fand die Aufführung trotz einiger Schwächen sehenswert: "Das Herzstück von Herbert Föttingers Inszenierung ist ein so genannter Bewegungschor: zahlreiche Damen und Herren, die mal ländliche Tänze tanzen, mal als Trauergesellschaft oder die 'Arbeiter von Wien' gekleidet aufmarschieren, singen, beten, sich prügeln und schnell eine kesse Revue aufführen (Hitler und Mussolini in Glitzer). ... Gut vorstellbar, dass Föttinger mit der präzisen Orchestrierung dieser Massenszenen so beschäftigt war, dass das Stellprobenhafte auch auf einige Sprechrollen übersprang. Besonders den ersten Teil dominiert eine gewisse Steife beim Vorbringen der Dialoge, deren Rhythmus dafür einwandfrei sitzt." Im Standard ist Margarete Affenzeller die Inszenierung zu lehrstückhaft.

Jeremy Nedds "How a fallig star lit up the purple sky". Foto: Philip Frowein


Lilo Weber setzt in der NZZ die Tanzplattform Freiburg und die Swiss Dance Days in Zürich gegeneinander und stellt - besonders mit Blick auf Freiburg - fest: "Queerness allein ist eben kein ästhetisches Programm, Hautfarbe eigentlich auch nicht. ... Dass die Diskussionen um Postkolonialismus, Identität, Body-Positivity im Tanz aufscheinen, liegt nahe. Das Normative im Tanz, Körpernormen und ihre Abbilder beschäftigen die Tanzschaffenden der freien Szene seit je. Die stärksten Arbeiten aber, die an den Swiss Dance Days zu erleben sind, spielen mit dem Anderen, stellen es jedoch nicht dar und schon gar nicht aus. Sie spielen mit Stereotypen und Klischees, ohne sie zu benennen. So etwa der in Basel lebende Amerikaner Jeremy Nedd, der mit seiner Gruppe von südafrikanischen Pantsula-Tanzenden in 'How a fallig star lit up the purple sky' den Western aufs Korn nimmt."

In der nachtkritik denkt Christine Wahl über zeitgenössische Klassiker-Überschreibungen nach, die noch jeden Helden zum Deppen macht: "Häufig geht es nicht mehr darum, den Kanon im engeren Sinne zu aktualisieren, sondern darum, ihn zu kritisieren und zu korrigieren, alte Narrative durch neue Gegen-Narrative zu ersetzen. Die dramatische Überschreibung ist, mit anderen Worten, ins Stadium der politischen Überschreibung eingetreten: ein Schritt, der sich besonders gut an den feministisch gelabelten Kanon-Revisionen beobachten lässt."

Besprochen werden Choreografien von Pina Bausch und Boris Charmatz mit dem Tanztheater Wuppertal im Haus der Berliner Festspiele (Tsp) sowie die Uraufführung von David Gieselmanns Stück "En woke" am Theater Bielefeld (nachtkritik).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2024 - Bühne

Isabelle Huppert als "Bérénice." Foto: Alex Majoli.

Trotz der großen schauspielerischen Leistung, die Isabelle Huppert auf die Bühne bringt, kann Jean Racines "Bérénice" in der Inszenierung von Romeo Castellucci am Théâtre de la Ville FAZ-Kritiker Marc Zitzmann nicht überzeugen. Zu gewollt ist diese reduzierte Ausgabe, in der Castelluci gleich mal sechs von sieben Rollen gestrichen hat. Eigentlich geht es um ein Liebespaar, das sich aus Standesgründen trennen muss, aber ohne Bérénices Gegenpart Titus verliert das Ganze seinen Sinn: "Streicht man die eine Hälfte des mythischen Paars, kippt die Tragödie zwangsläufig ins Abstrakte. Isabelle Huppert rezitiert Bérénices Text vollständig - einschließlich halber Alexandriner und zweisilbiger Ausrufe -, aber niemand antwortet ihr. Das Drama wird so zum Monolog, seine Struktur fällt zusammen, der Sinnzusammenhang löst sich auf. Mit wem spricht die Darstellerin, auf wessen Einwürfe antwortet sie? Wo endet eine Szene, wo beginnt die nächste? Alles hier verschwimmt in (Kunst-)Nebel . . ."

George Orwells "Farm der Tiere" ist schon reichlich ausgeschlachtet worden, seit letztem Jahr gibt es eine von dem Russen Alexander Raskatov komponierte Oper, die jetzt an der Wiener Staatsoper aufgeführt wurde. Der erste Akt überzeugt Alexander Keuk in der Neuen Musikzeitung mit einem stimmlich breit aufgestellten Sängerorchester und dem Dirigenten Alexander Soddy, der "die Klangcharaktere wie mit einem Schweißbrenner modelliert." Der zweite Akt aber schwächelt merklich: "Dass man nicht wirklich völlig begeistert applaudiert, liegt an einem seltsam durchhängenden zweiten Akt, der vor allem visuell außer Neonschriftzeichen und der fast unauffällig vollzogenen Menschwerdung der Tiere nicht viel zu bieten hat. Auch Raskatov hat dort sein musikalisches Füllhorn schon so sehr entleert, dass die doch sehr kurzatmigen Szenen nun nicht mehr die Fulminanz des 1. Aktes besitzen. Da ist angesichts der Tatsache, dass wir uns auch 2024 wieder und erneut in einem Orwell-Jahr befinden und immer noch auf der Welt die Köpfe einhauen, mehr aktuelle Kommentierung, kunstartige Übertreibung und vor allem ein radikaler Epilog vonnöten, der besser 'gesessen' hätte als das hier fade inszenierte Zuklappen des Märchenbuches."

Weitere Artikel: Donald Runnicles, derzeit Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin, wechselt zur Saison 2025/26 als Chefdirigent an die Dresdner Philharmonie, meldet die FAZ. Die SZ unterhält sich mit Stefan Herheim und Tobias Kratzer, Opernregisseure, die jetzt zusätzlich noch Intendanten werden.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2024 - Bühne

In der FAZ wirft Marc Zitzmann einen Blick auf die Krise der französischen Theater: Der Sektor soll laut Nicolas Dubourg, Präsident des Syndicat national des entreprises artistiques et culturelles, eine Unterfinanzierung von 100 Millionen Euro aufweisen. Produktionen und Tourneen wurden abgesagt, Aufführungen auf wenige Termine zusammengestrichen. "Mit Abstand am schwersten zu Buche schlägt ..., dass die Gehälter je nach Statut des betreffenden Hauses punktuell oder jährlich erhöht werden (müssen). Und ihre Steigerung gemeinhin der Inflationskurve folgt. Ein Problem, vor dem übrigens auch deutsche Theaterhäuser stehen. Bei großen Strukturen wie Opernhäusern machen die Saläre im Schnitt rund 70 Prozent des Gesamtbudgets aus. Schon ein kleiner Anstieg des Gehaltsaufkommens drückt da gewaltig auf die einzige Variable: den künstlerischen Etat. Zumal die Subventionen seit Jahren stagnieren."

Der Tagesspiegel bringt eine gekürzte Version der Rede, die die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann bei der Veranstaltung "Kultur und Demokratie" im Kanzleramt hielt. Salzmann denkt über die Kunst als Ort nach, in dem jede Stimme Gehör findet - und kein Ausschluss stattfindet: "Auch wenn die Künstler*innen als Menschen den humanistischen Ansprüchen nicht immer gerecht werden mögen - die Kunst selbst nimmt alle Protagonist*innen gleich wichtig und gleich ernst. Wenn sie es nicht tut, ist sie Propaganda. Aber wenn sie ein Ort der Verhandlung der Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der conditio humana ist, dann ist sie auf der Seite der Menschlichkeit."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Jakob Hayner von der Tagung "Macht Kritik Theater?" in der Akademie der Schönen Künste in München, bei der nur in einem Punkt Einigkeit herrschte: Es braucht "eine Kritik, die nicht bloß nachvollzieht oder empfindsame Künstlerseelen streichelt, sondern ein eigenes Urteil riskiert." In der FR schreibt Judith von Sternburg einen Nachruf zum Tod des im Alter von 89 Jahren verstorbenen britischen Dramatikers Edward Bond, in der NZZ erinnert Marion Löhndorf. Herbert Föttinger gibt 2026 die künstlerische Leitung, Alexander Götz die kaufmännische Direktion am Wiener Theater in der Josefstadt auf, ab März beginnt die Suche nach Nachfolgern, meldet der Standard.

Besprochen werden Stefano Giannettis Inszenierung von Karol Szymanowskis Oper "König Roger" in Dessau (FAZ)