Arabella in der Deutschen Oper Berlin. Bild: Thomas Aurin.
Auch wenn für Udo Badelt im Tagesspiegel einige Fragen zur Strauss-Oper "Arabella" offenbleiben, lobt er die Bemühungen des Regisseurs Tobias Kratzer, "dreieinhalb Stunden mit üppig blühendem Strauss-Sound" auf die Bühne der Deutschen Oper zu bringen, "mit einem Schlagsahnenklang, der bei allen Kalorien eine gewisse Schlankheit bewahrt, der nicht alles zuckrig zukleistert. So eine Balance ist beim späten Richard Strauss gar nicht so einfach zu finden." In dem Vexierspiel um Liebe, Geschlecht und Rollenbilder "fangen die Geschlechtsidentitäten an zu erodieren wie Sandskulpturen während eines Gewitterschauers", was allerdings nicht allen im Publikum gefällt. Es gibt Buhrufe, lesen wir. In der SZ ist Helmut Mauró zwiegespalten: Einerseits erscheint ihm die Regie einfallslos und zu pathetisch. Doch dann blitzt ein "Gender-Rührstück vom Feinsten" auf, "das zeigt, wie menschlich es zugehen kann, bevor das Spielerische in Ideologie aushärtet". FR-Kritikerin Judith von Sternburg lernt: "Ironiefreies, aber gutgelauntes Liebesglück ist möglich."
Sabine Devieilhe in "Les Mamelles de Tirésias". Foto: Vincent Pontet Beglückt zieht SZ-Kritiker Reinhard Brembeck durch die Pariser Opernhäuser. Gar nicht fassen kann er, was ihm das Pariser Théâtre des Champs-Élysées präsentiert: die schräge Kurzoper "Les Mamelles de Tirésias" von Francis Poulenc und Guillaume Apollinaire, in der die Frage geklärt werden soll, ob Frauen oder Männer mehr Spaß am Sex haben: "Diese Minioper ist hinreißend, überwältigend, doppelbödig, rasant. Warum wird sie so gut wie nie gespielt? Vielleicht, weil es dafür eine Sängergroßmeisterin wie Sabine Devieilhe braucht, aber die gibt es eben weltweit nur einmal. Es braucht auch ein genauso geniales männliches Gegenstück, im Text schlicht 'mari' (Ehemann) genannt. Jean-Sébastian Bou sing-albert hinreißend den 'mari', der, von Thérèse verlassen, komisch wutentbrannt zur Frau wird und als Mutter an einem Tag 40 049 Kinder gebärt. Die ihn, Marketing ist alles, im Gegensatz zu allen anderen kinderreichen Existenzen, reich machen. Kein Wunder, dass der im Stück und erst recht im Finale zu hörende Aufruf an die Franzosen 'faites des enfants', macht Kinder, penetrant wiederholt wird. Ist das Ironie, Blödsinn oder Ernst?"
Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes kommen Uwe Johnsons monumentale "Jahrestage" in einer Inszenierung von Anna-Sophie Mahler im Schauspiel Lepizig zum ersten Mal auf die Bühne: Andreas Platthaus zeigt sich in der FAZ nicht ganz einverstanden mit der Praxis, das Leben Gesine Cresspahls im Jahr 1967 mit Beatles-Musik zu unterlegen. So "bekommt Johnsons Roman in Leipzig den Charakter eines Thesenbuchs verliehen, während seine literarische Bedeutung doch darin liegt, die Gemeinsamkeiten repressiver Strukturen in den unterschiedlichen ideologischen Systemen erzählerisch vermittelt zu haben. Das leistet Mahlers Inszenierung gerade nicht, und eine Nummernrevue ist auch kein Montagekunstwerk à la Johnson." Auch Nachtkritiker Matthias Schmidt befällt das Gefühl, "als habe bereits das Eindampfen des enormen Stoffes so viel Energie gekostet, dass keine Kraft mehr blieb, den Johnson-Sound herauszuarbeiten".
Besprochen werden außerdem Andrea Breths Theatercollage "Ich hab die Nacht geträumet" am Berliner Ensemble (taz) und das Anatomiestück "Katharsis" des Regie-Duos Dead Centre im Wiener Akademietheater (Standard)
Szene aus "Ich habe die Nacht heut geträumet". Bild: Ruth Walz Ziemlich ernüchtert resümierte Nachtkritiker Christian Rakow gestern bereits Andrea Breths lyrischen Liederabend "Ich habe die Nacht geträumet" am Berliner Ensemble (mehr hier). Sehr viel positiver fallen auch die heutigen Kritiken nicht aus: "Es ist eine Absurditätenrevue, doch Andrea Breth keine Lady Dada", meint ein über weite Strecken von "seichten" Ansätzen ziemlich gelangweilter Peter von Becker (Tsp), während Ulrich Seidler (Blz) seufzt: "Dass in dem Papiergeraschel und Vorführkunstgestelze doch ab und zu einmal ein Lebensfunke aufflackert und etwas im Zuschauer berührt, ist sicher auch dem von der Komischen Oper ausgeborgten musikalischen Leiter Adam Benzwi zu verdanken, der sehr sparsam und diskret dem einen oder anderen Wort zum Flug verhilft. Dennoch: Die Melancholie des Abends wirkt einerseits angeschafft und andererseits unfreiwillig - und sie kommt als schlechte Laune mit nach Hause." Im Standardattestiert Christine Wahl dem Stück eine kurze Halbwertzeit, in der FAZ hätte Simon Strauss das glänzende Ensemble unter Breths Leitung gern mal am Stück spielen sehen.
"Eine schöne Dosis des vitalsten Irrsinns" verdankt hingegen Peter Laudenbach in der SZ der "auf das Schönste versponnenen Musik- und Textcollage" - nicht zuletzt dank des Ensembles: "Eine beschwipste Mondäne stakst über die Bühne, vielleicht ist sie der letzte Gast einer aus dem Ruder gelaufenen Büroparty. Grade als man denkt, dass sie gleich aus ihren Highheels kippt, fängt sie an, eine französische Version von 'Fever' zu singen, so mitreißend, dass Peggy Lee und sogar Nancy Sinatra daneben einpacken können. Sie verheddert sich aufs Abenteuerlichste und Komischste in ihrem Mikrofonkabel, tänzelt und torkelt mit aberwitziger Grandezza. Johanna Wokalek legt diesen Auftritt mit einer umwerfenden Spielfreude und Komik hin. Was immer auf der Büroparty im Champagner war, offenbar knallt es prächtig."
Besprochen werden Performances des Ballet national de Marseille und von CocoonDance beim Tanzmainz-Festival (FR), Sebastian Schugs Inszenierung von Thornton Wilders "Wir sind noch einmal davongekommen" am Theater Bamberg (nachtkritik) und Alexandra Holtschs Inszenierung der "Walküre" nach Caren Erdmuth Jeß am Staatstheater Braunschweig (nachtkritik).
Szene aus "Ich habe die Nacht geträumt". Foto: Ruth Walz
Mit "Ich habe die Nacht geträumet" hat Andrea Breth einen Mix von Eichendorff über Herta Müller bis David Lynch mit Musik von Edvard Grieg bis Dmitri Schostakowitsch auf die Bühne des Berliner Ensembles gebracht, die Berliner Prominenz versammelte sich in den Rängen - und doch wirkt der lyrische Liederabend auf Nachtkritiker Christian Rakow zu altbacken: "Fraglos wählt sich Breth die gediegene Antiquiertheit ganz bewusst, gräbt ihren Stoff aus dem tendenziell bundesdeutschenVorwende-Kanon, situiert sich mit Telefon-Witzchen weit vor den Internet-Flatrates ('Du Junge, das wird doch zu teuer jetzt.') Aber sie schafft es nicht, das Historische existenziell heranzurücken, so wie es in Liederabenden von Christoph Marthaler gelingt (dessen Theater hier ganz offensichtlich Pate gestanden hat). Gute drei Stunden schleppt sich der Abend in absolut gleichförmigem, gebremstem Tempo dahin, malt Genrebilder und verstört sie durch surrealistische Kontrapunkte: Vorn deklamiert jemand einen Erzähltext und seitlich wird eine Figur hereingeschoben, die offenbar gerade eine Karambolage mit einem Sitzmöbel erlitten hat. Spätestens wenn die dritte derartige 'Brechung' eingeführt ist, hat man das Prinzip verstanden. Doch Dutzende folgen."
Anlässlich seiner "Elektra-Inszenierung", die an diesem Wochenende an der Oper Frankfurt Premiere feiern wird, spricht Regisseur Claus Guth im FR-Interview mit Judith von Sternburg darüber, was ihn an Richard Strauss fasziniert: "Vieles an ihm ist mir hochgradig unsympathisch, aber dann gibt es auf der anderen Seite dieses Phänomen, das ich bei keinem anderen Komponisten so erlebt habe: Wie kann dieser bayerische Bierkrugsammler gleichzeitig diese tiefblickenden Seelenschauen erschaffen? Da spricht dann doch einiges dafür, dass die Gleichung Künstler - Werk eine differenziert zu betrachtende Angelegenheit ist."
Weitere Artikel: In der Berliner Zeitungporträtiert Ulrich Seidler die in Berlin lebende Dramatikerin und Performerin Sivan Ben Yishai, die mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet wurde. "Es gab kein Zerwürfnis, keinen Streit", betont man bei den Berliner Festspielen nach dem plötzlichen Ausscheiden von Marta Hewelt aus dem Leitungsteam des Theaterteffen-Festivals, berichtet Ronja Merkel im Tagesspiegel: "Nach und nach zeigte sich, es passt einfach nicht'." Für die Welt besucht Manuel Brug Peter Plate und Ulf Leo Sommer bei den Proben zu ihrem Musical "Romeo und Julia" im Berliner Theater des Westens. Im Tagesspiegelwirft Patrick Wildermann einen Blick auf die heute und morgen zum siebten Mal im Radialsystem V stattfindende Ausgabe des Forecast Festivals, in dem erfahrene Mentoren mit ihren Mentees gemeinsam an Projekten arbeiten.
Besprochen werden Lajos Wenzels Inszenierung von Henrik Ibsens "Nora" am Theater Trier (nachtkritik), Jasper Brandis' Inszenierung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" am Theater Ulm (nachtkritik), die Performance "youAI" der Gruppe H.A.U.S. im Wiener Brut-Theater (Standard) und Axel Ranischs Inszenierung von Giacomo Puccinis "Il trittico" an der Hamburgischen Staatsoper (FAZ).
Die Regisseurin Andrea Breth, deren neue Inszenierung "Ich habe die Nacht heute geträumt" heute am Berliner Ensemble uraufgeführt wird, hat den Aufruf von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterschrieben. Dialogpassagen aus dem Zeit-Interview mit Peter Kümmel, in denen sie sich zum Krieg gegen die Ukraine und den Umgang mit Putin äußert, hat sie nicht autorisiert, sie wolle lieber über Kunst reden, lesen wir. Ihre Position macht sie dennoch deutlich: "Wir stecken in einer Situation, von der wir nicht wissen, wie es ausgeht. Und wir hinterlassen einen riesigen Scherbenhaufen. Wenn Politiker schon nicht in der Lage sind, die kleinsten Dinge zu lösen, wie sollen sie dann die Weltprobleme lösen, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Ich habe unglaubliche Angst davor, dass diese permanente Aufrüstung, die besinnungslos ist, eskalieren wird. Zu Frieden wird sie meines Erachtens nicht führen."
Szene aus "Cosi fan tutte". Bild: Monika Rittershaus Hinterlegt mit aktuellen Kriegsbildern hat Kirill Serebrennikov Mozarts "Cosi fan tutte" auf die Bühne der Komischen Oper in Berlin gebracht, als rasante als "Comedy verkleidete Dystopie", lobt eine beeindruckte Julia Spinola in der SZ: "Während bei Mozart die in die Irre geleiteten Liebesgefühle im zweiten Akt beginnen, sehr reale Wunden in die Herzen der Liebenden zu schlagen, werden hier die Grenzen zwischen realer Empfindung und bloßer Selbstdarstellungs-Performance aufgehoben. Im ersten Stock optimieren die Frauen ihre Figur mit Yogaübungen und Stepper, unten pumpen die Männer ihre Muskeln mit Gewichten auf und polieren minutenlang einem Box-Dummy seine Gummi-Fresse. Anstelle von Zärtlichkeiten tauschen sie Selfies aus, und sie himmeln nicht einander, sondern die Bilder an, die sie voneinander posten."
Den hart umkämpften Olymp der Opernwelt nimmtAnna Schorsch für das Van Magazine unter die Lupe: Sind Pay-to-Sing-Programme ein Weg, sich in die Branche einzukaufen oder bringen sie eher die Geldbeutel der Veranstalter zum Klingen? Das Vorsingen war dilettantisch organisiert, erzählt eine anonym bleibende deutsche Gesangsstudentin: "Auch nützliche Kontakte gab es nur teilweise: 'Uns war ein Vorsingen bei Agenturen versprochen worden - es handelte sich um die Agenten der beiden Academy-Leiter. Jeder von uns bekam genau 5 Minuten, um bei denen vorzusingen, und am Ende erhielten wir nicht mal das versprochene Feedback. Viele der Sänger:innen, die aus den Staaten angereist waren, hatten große Hoffnungen in diese Akademie gesetzt.'"
Weiteres: "Die Oper ist nicht rassistisch, homophob oder misogyn", sagt Barbara Vinken im Zeit-Gespräch mit Christine Lemke-Matwey über ihr neues Buch "Diva. Eine etwas andere Operverführerin". Vielmehr habe die Oper heutige Geschlechterdebatten schon vorweg genommen: "Die Oper zertrennt den Kurzschluss, Gender und Rolle hätten etwas mit Biologie zu tun. Das fängt bei den heroischen Sopranen an, den Kastratenstimmen, die stärker sind, leuchtender als alle weiblichen Stimmen, die wir heute kennen und uns vorstellen können." Marta Hewelt verlässt zum Ende dieses Monats das Leitungsteam des Theatertreffens, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. In der FAZ singt Gerhard Stadelmaier der Theaterschauspielerin Kirsten Dene eine Hymne zum achtzigsten Geburtstag: "Eine gigantische Schauspielerin. Der Größten eine. Der Komischsten sowieso. Der Tragischsten und Gewaltigsten auch." Besprochen wird die Uraufführung der Dogville-Oper in Essen (die Eleonore Brünning im Van Magazin als "mächtig und durchsichtig zugleich" lobt).
Szene aus "Dogville" am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung Vom ersten Moment an gepackt hat FR-Kritikerin Judith von Sternburg Gordon Kampes Opern-Adaption von "Dogville", Lars von Triers minimalistische Film-Parabel, am Aalto-Theater Essen. Die düstere Geschichte vom Niedergang eines Dorfes findet sie überzeugend als Musiktheater inszeniert: "Musikalisch bietet Kampe eine ausgefeilte Polystilistik, flirrende Glissandi begleiten die Liebe, die nie auf festen Füßen stehen wird, finster massiv drohen Schlagwerk und Blech. Aber noch gespenstischer ist das scheinbar so arglose Geploinger und Geplinker, das Kampe dramatisch äußerst versiert immer wieder einbaut, um Dogville zu charakterisieren, Ort des stillen Schreckens und des züchtig auf den Nächsten geträufelten Gifts. Man tanzt auch in Dogville, man feiert mit ein wenig Folklore, man singt Kinderlieder. Es ist entsetzlich."
"Die Wahrheit liegt im Theater auf dem Platz, also auf der Bühne", schreibt Jakob Hayner in der Welt und freut sich, dass Wajdi Mouawads Theaterstück "Die Vögel" in München wieder gespielt wird. En detail geht er dabei noch einmal den Vorwürfen nach, die die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) gegen das Stück erhoben hat und findet sie nicht triftig: "Das Spiel mit den Bedeutungen muss man auf der Bühne sehen können, sonst wird es schwierig, egal ob 'Der Kaufmann von Venedig' oder 'Vögel'." Klar sei, dass sich niemand hinter der Figurenrede wegducke.
Besprochen wird außerdem "Letzte Station Torgau" am Schauspiel Leipzig, inszeniert von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura (SZ).
Juliana Zara als Lulu am Staatstheater Darmstadt. Foto: Nils Heck Rundum zufrieden ist Judith von Sternburg in der FR mit Eva Maria Höckmayrs Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" am Staatstheater Darmstadt. Die normalerweise durch den männlichen Blick verhandelten Geschlechterrollen dreht sie hier auf anregende Weise um: "Lulu, von Männern angestarrt, ist nicht nur nicht allein, es sind auf einmal auch die Männer, die wiederum von den Frauen gesehen werden. Als würde ein Gleichgewicht wiederhergestellt, mit dessen Hilfe sich die Geschichte jetzt - wie die Musik - natürlich und klassisch entwickeln kann. Innerhalb dieser klassischen Erzählung kann nun Lulu das Rätsel bleiben, das sie ist. Ensemblemitglied Juliana Zara, deren Sopran glasig klar, höhenrein und dabei völlig unangestrengt klingt, spielt das grandios unverbindlich und eben trotzdem mit jener einmalig luluhaften Art hingebungsvoll. Männer stören Lulu nicht."
Besprochen werden außerdem das Festival Radar Ost im Deutschen Theater Berlin (taz), das Dokumentartheaterprojekt "Letzte Station Torgau" im Schauspiel Leipzig (taz) und Sasha Waltz' Choreografie "Beethoven 7" im Berliner Radialsystem (meisterhaft findet FAZ-Kritiker Wiebke Hüster, wie Waltz Beethovens Musik "vom Bildungsbürgertum-Thron" herunterholt und jedem Zuhörer zugänglich macht).
Direkt von der front: Volodymyr Kravchuk in "Ha*l*t" am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair Wut und Entschlossenheit erlebtSZ-Kritiker Peter Laudenbach beim Festival Radar Ost am Deutschen Theater in Berlin, das in diesem Jahr mit Produktionen aus der Ukraine, Belarus und Georgien beeindruckt. Vor allem Tamara Trunovas Hamlet-Variation "Ha*l*t" des Kiewer Left Bank Theatres hat Laudenbach umgehauen. "Zwölf Schauspieler des Left Bank Theatre kämpfen seit Kriegsbeginn an der Front, darunter auch Volodymyr Kravchuk, der in der Inszenierung eigentlich den Fortinbras spielen sollte. Jetzt ist er in Kampfmontur per Video zugeschaltet, von wo, darf er nicht sagen. Ihm gehören die letzten Worte der Aufführung. Sie klingen wie die trotzige Antwort auf Hamlets Wahnsinnsausbruch, eine verzweifelte Hoffnung: 'Es sollen andere Tage kommen.' Vor diesem Epilog gehen die Schauspieler durch einen Fiebertraum, in dem sich die Grenzen zwischen Theater, Wahnzuständen, Erinnerungsfetzen und einer grauenvollen Wirklichkeit auflösen. Was eben noch das nüchterne Setting eines Publikumsgesprächs nach einer Theatervorstellung war, wird zum Zustand des Aus-der-Welt-Fallens: Sitzen wir in einem Theater oder träumen wir nur, dass wir in einem Theater sitzen? Oder sind wir schon tot und halluzinieren im Grab?" Auch Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst bekennt, dass ihr die Front noch nicht so nahe gekommen sei.
Szene aus Sasha Waltz' "Beethoven 7". Bild: Sebastian Bolesch Sasha Waltz hat Beethovens "Siebte Sinfonie" choreografiert. Dorion Weickman bewundert in der SZ diese hervorragende Kombination. Auch das vorgeschaltete E-Beat Präludium des chilenischen Komponisten Diego Noguera, das das Publikum im Radialsystem in Berlin in den ersten dreißig Minuten in "riesigen Schockwellen" erschüttert und die Beethoven-Einspielung von Teodor Currentzis passen perfekt zueinander: "Sie hat zu Souveränität und gestalterischer Freiheit gefunden. Zu einer Energie, die selbst Beethovens 1813 auf dem Höhepunkt der Befreiungskriege uraufgeführte Symphonie mühelos im Techno-Taumel der Gegenwart spiegelt - und umgekehrt." BLZ-Kritikerin Michaela Schlagenwerth hat die Performance besonders genossen, als die ersten Beethoven-Klänge einsetzten:"die Tänzer finden sich leichtfüßig, verspielt und durchaus auch selbstverliebt zu vielfältigen Reigen zusammen. Eine Gesellschaft im Glück, und doch schwebt eine Bedrohung über ihnen und schwingt hinein in diese lichten, ahnungslosen Körper. Eine Bedrohung, die durch den Prolog ganz und gar präsent ist. Wie Sasha Waltz hier zum ersten Satz die verschiedenen Klangmotive mit ihren vielen Varianten und Umkehrungen in Tanz verwandelt, ist meisterhaft." Im Tagesspiegel ist Sandra Luzina nicht ganz überzeugt von der Techno-Klassik-Kombi, findet dafür aber das Ensemble umso überzeugender.
Besprochen werden Barrie Koskys pointenreiche Mozart-Inszenierung "Figaro" an der Wiener Staatsoper (Standard), das Opera Forward Festival in Amsterdam (das Welt-Kritiker Manuel Brug mit Produktionen zu Josephine Baker und George Orwell zeigte, wie die Oper von morgen aussehen könnte), eine Bühnenfassung von Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" am Theater Freiburg (taz), Tschechows "Der Kirschgarten" mit dem Theater Willy Praml in Frankfurt (FR), Kirill Serebrennikows Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" an der Komischen Oper Berlin (Tsp), Wim Vandekeybus' Choreografie "Traces" beim Tanzmainz-Festival (FR), ein Rachmaninow-Liederabend mit Asmik Grigorian in Zürich (NZZ), Marie Ndiayes "Die Rache ist mein" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik) und das Dokumentarprojekt "Letzte Station Torgau" am Schauspiel Leipzig (Nachtkritik).
Szene aus "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht". Bild: Rainer Muranyi "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" ist Malgorzata WarsickasInszenierung nach der gleichnamigen Textcollage von Swetlana Alexijewitsch benannt, die Dokumentation der belarussischen Literatur-Nobelpreisträgerin hat die polnische Regisseurin für das Theater Freiburg allerdings um Teile von Euripides' "Iphigenie in Aulis" ergänzt, berichtet Valeria Heintges, der der Abend in der nachtkritik allerdings ein wenig zu "weichgespült" erscheint: "als würde man eher einem ambitionierten, engagierten Aktionsabend gegen den Krieg beiwohnen und nicht einer von langer Hand geplanten, durchdachten Inszenierung. Spannend wird es, wenn das Ästhetische gebrochen wird, etwa wenn die vier Akteurinnen vom 'Vögelchen im Lindenbaum' singen, aber so zackig und beinahe schrill, dass es nicht wie ein Frühlingslied, sondern wie Militärmusik klingt. Solche Momente sind aber insgesamt zu selten."
Anlässlich seiner heutigen Figaro-Premiere an der Wiener Staatsoper spricht Regisseur Barrie Kosky im Standard-Interview mit Ljubiša Tošic auch darüber, wie die Zusammenarbeit mit Philippe Jordan verlief: "Der Figaro ist unsere vierte Arbeit. Und obwohl ich ihn als Dirigenten und Menschen sehr schätze, bin ich nicht seiner Meinung, dass es eine Krise der Oper wegen des sogenannten Regietheaters gibt. Ich habe ihm gesagt, dass es komplexer ist. Ich bin auch kein Fan des Wortes Regietheater, Theater ohne Regie gibt es ja nicht. Natürlich gibt es problematische Regie. Es gibt aber auch Abende, an denen ich mich frage: Warum singen die, warum dirigiert der? Ich habe Philippe aber bei Proben als sehr offen erlebt. Er ist professionell, neugierig und kollegial. Natürlich hat er eine sehr starke Meinung, wir diskutieren, es ist dann ein bisschen wie im Basar."
Besprochen werden Roberto Castellos "Inferno" und Moritz Ostruschnjaks "Tanzanweisungen" beim Tanzmainz-Festival (FR).
Besprochen werden das Tanzmainz-Festival am Staatstheater Mainz (FR), Martina Gredlers Inszenierung von Mithu Sanyals Roman "Identitti" am Theater Phönix in Linz (Standard), das Stück "Bye, bye, bye" des Berliner Theaterkollektivs "copy&waste" im Ballhaus Ost (FAZ) und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Tschechows "Die Möwe" (Welt, SZ).
Szene aus Anton Tschechows "Die Möwe". Bild: Gianmarco Bresadola Thomas Ostermeier hat Tschechows "Möwe" für die Schaubühne kurzerhand vom "russischen Irgendwo in ein brandenburgisches Ungefähres" verlegt - und Nachtkritikerin Esther Slevogt hat ihre Freude an dem "visionlosen Getöne", das die "zum Spießertum heruntergekommenen" Bildungsbürger hier von sich geben: "Es ist ein kunstvoll in die Karikatur getriebenes Personal, dem wir in der Schaubühne begegnen, das einerseits Tschechow spielt und andererseits ironisch auch das eigene Tun befragt. Was und wie spielen wir hier eigentlich? Wie relevant ist das Theater überhaupt noch? 'Noch nie war es schwerer, irgendetwas zu bewirken!', sagt der gefeierte Schriftsteller Trigorin einmal, der an einer anderen Stelle des Abends Einblicke in die Werkstatt seiner Kunstproduktion gibt: wie er da auf Karteikarten klischeehafte Eindrücke von der Welt zu den immergleichen Büchern zusammenschraubt. Will sagen: So kann das mit der Relevanz natürlich nichts werden."
Joachim Meyerhoff spielt die "Rolle seines Lebens", jubelt Simon Strauss in der FAZ, der hinter dem Trigorin auch den Erfolgsautor Meyerhoff erkennt: Er "spricht über seinen Schreibzwang, die Manie, ständig literarisch verarbeiten zu müssen, was die eigene Wahrnehmung ihm vorsetzt: 'Alles ist Material. Alles könnte Motiv sein.' Erzählt auch von seiner Angst davor, dass alles Lob nur Lüge sein, sich sein Riesenerfolg eines Tages als große Täuschung herausstellen und man ihm 'von hinten eine Zwangsjacke' überwerfen könnte. Da ist Meyerhoff, der Psychiater-Sohn, ganz bei sich und weit weg von Tschechows Figur." Einen "schillernd boulevardesken Schauspielerabend", in dem Ostermeier seine Helden sehr subtil gegen ihre "vertrackten Lebensrollen" kämpfen lässt, erlebt Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung), während taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller, den Abend "etwas zerfleddert" findet: Einzelne Szenen wirken "wie hineingeklebt, um etwas Gegenwartsbezug hineinzubringen". Das Stück ist "moderat dem Heute angepasst", kommentiert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Inszenierung: "Die Gangart wirkt erstaunlich traditionell und damit zuweilen etwas erwartbar. Aber ist es nicht genau das, wonach sich so viele sehnen im Theater - eine Geschichte, Emotionen, ausgespielte Dialoge, Drama, Komik? Menschen, mit einem Wort."
Nadezhda Bey: Data Death. Berliner Hebbel am Ufer. Verzaubert kehrt Patrick Wildermann (Tagesspiegel) vom HAU-Festival "Geister, Dschinns und Avatare - Über das Magische im digitalen Zeitalter" zurück, bei dem ihn nicht nur der französische Regisseur Phillipe Quesne durch eine zeitgenössische Laterna magica blicken lässt. Auch digital lässt sich einiges erleben: "Wie das Virtual-Reality-Requiem 'Data Death' von Nadezhda Bey, das mittels Headset in eine leuchtend animierte Welt aus Ikonendarstellungen und Datenvisualisierungen einlädt. Hier liegen Körper aufgebahrt, während eine wehmütige, elektronisch verzerrte Komposition vor sich hin singt, die von einer Künstlichen Intelligenz komponiert wurde. Die Installation widmet sich unter anderem der Frage, was eigentlich mit den Daten Verstorbener geschieht."
Besprochen werden die dritte Ausgabe der Programmreihe "Diskurssalon" unter dem Titel "Macht - Strong enough" im Berliner Museum für Kommunkation (Tagesspiegel), Sandra Schüddekopfs österreichische Erstaufführung von Miroslava Svolikovas "Gi3F (Gott ist drei Frauen)" in der Wiener Drachengasse (Standard), Andreas Homokis Inszenierung von Richard Wagners "Siegfried" am Zürcher Opernhaus ("Eine Sternstunde", jubelt Lotte Thaler in der FAZ: "Wie ein Komet am Wagnerhimmel kündet er von einer grundlegend veränderten Sicht auf die Tetralogie"), Dmitri Tschernjakows Inszenierung von Sergej Prokofjews "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper München (VAN Magazin, Zeit) und Leander Haußmanns und Sven Regeners Familiendrama "Intervention!" am Hamburger Thalia Theater (Zeit).