Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2023

Drahtseilartisten über dem Abgrund der Zeiten

29.04.2023. Der Schriftsteller Matthias Politycki hat einen Roman über Afrika geschrieben. In der FAZ erzählt er, wie das Lektorat penibel darauf achtete, dass sich niemand aufgrund eines Wortes empören könnte. Für Empörung sorgt indes Til Schweiger, dem laut Spiegel Ausbeutung und Gewalt am Set vorgeworfen werden. Die SZ stellt nach einem Besuch beim Gallery Weekend fest: Galerien leisten heute das, wozu Museen der Mut fehlt. Und die NZZ lauscht Geflüchteten aus dem Sudan, die in strahlendem Über-Dur um eine reiche Ernte flehen.

Ein gutes Stück hinter dem Beat

28.04.2023. Die Preise der Leipziger Buchmesse sind vergeben - und das Feuilleton jubelt vor allem über die Auszeichnung für Dinçer Güçyeter, der mit bukolischem Humor vom Bildungsaufstieg erzählt. Die SZ lernt von Nicole Eisenman in München, dass der Gegenwart nur noch mit Perversion beizukommen ist. ZeitOnline verneigt sich vor Isabelle Huppert, die in Jean-Paul Salomés "Die Gewerkschafterin" die Whistleblowerin Maureen Kearney spielt. SZ und nachtkritik blicken mit Parnia Shams "Ist" beim Berliner FIND-Festival ins Innenleben einer Mädchenschule in Teheran.

Der Problemkörper des Protagonisten

27.04.2023. Wir haben versucht, die Welt auf den verbrecherischen Charakter des russischen Regimes aufmerksam zu machen, sagt Maria Stepanova in der FR: Aber wir fanden kein Gehör. Darren Aronofskys "The Whale" starrt auf seinen schwer adipösen, homosexuellen Helden wie auf ein groteskes Ungeheuer, ärgert sich die Welt. SZ und FR sind mindestens irritiert, wenn Helge Achenbach in Birgit Schulz' Dokumentarfilm als Robin Hood des Kunstmarkts auftritt. Und VAN ruft der FDP zu: Rundfunkorchester sind keine Massagesessel.

Matschkern, Jammern und Sudern

26.04.2023. Eine gute Nachricht vorweg: Jafar Panahi darf den Iran verlassen. Zum Auftakt der Leipziger Buchmesse erklärt Teresa Präauer in der SZ die Vorzüge des Österreichischen. Im Perlentaucher feiert Marie Luise Knott die russische Lyrikerin Maria Stepanova. Ebenfalls im Perlentaucher erkennt Ulf Erdmann Ziegler in Basel, was Shirley Jaffe ihrem amerikanischen Malerkollegen Wayne Thiebaud voraus hatte. Und alle trauern um Harry Belafonte, der die Welt in so freundlichem Calypso anklagte.

Nicht mal die Kunst ist als Ziel genug

25.04.2023. Fasziniert, aber auch ein wenig ratlos steht die SZ in Kassel vor Roberto Cuoghis  Fertigungsstrecke für gekreuzigte Heilande. Die FAZ berichtet über den drohenden Streik der Drehbuchautoren in Hollywood, für die mit Serien und Streaming doch keine goldene Zeiten angebrochen waren. Die SZ erhebt Einwände gegen Laura Poitras' Nan-Goldin-Porträt "All the Beauty and the Bloodshed", das seine dokumentarische Form nur behaupte. Crescendo fürchtet die Kulturpolitik der nationalistischen Regierung in Italien besonders in der Klassik.

Vorliebe für klare Linien

24.04.2023. Im Tagesspiegel beschreibt die russische Schriftstellerin Maria Stepanowa die weltweite Casablanca-Situation: "Jeder sitzt irgendwo fest und versucht weiterzukommen." Im Standard denkt Verena Roßbacher über das schöne und das  authentische Schreiben nach. Die FAZ entdeckt iin paris das grandiose Werk der norwegischen Künstlerin Anna-Eva Bergman. Ganz fantastisch findet die Nachtkritik das Zürcher Tolkien-Spektakel "Riesenhaft in Mittelerde". 

Breit und glücklich lächelnd der Kaiser

22.04.2023. Die SZ verneigt sich in der Kunsthalle Bielefeld vor Yto Barradas subtiler Kritik an der weißen Männerkunst des Westens. In der taz verteidigt die Künstlerin Angela Fette entschieden die Idee einer autonomen Kunst gegen die Kunstvermittler. Die NZZ findet den Kalten Krieg wieder in der Berliner Designausstellung Retrotopia. In der Volksbühne feiert Fabian Hinrichs ein opulentes Bankett als Sardanapel: Die Kritiker staunen, aber auch ein gewisses Völlegefühl stellt sich ein. Und: der filmische Nachwuchs fordert mehr Risikobereitschaft von deutschen Fernsehsendern und Produzenten.

Biotope leidenschaftlicher Psychosen

21.04.2023. Aus russischen Bibliotheken verschwinden reihenweise Bücher mit queeren Inhalten, berichtet 54books. Unterdessen hat das Bolschoi-Theater ein Stück über Rudolf Nurejew abgesetzt, melden die Zeitungen. Die Berliner Zeitung ärgert sich über Benjamin von Stuckrad-Barre, der erst bei Springer ordentlich verdiente und sich nun als großer Aufdecker inszeniert. Der Tagesspiegel schaut gebannt zu, wenn die japanische Künstlerin Tabaimo in Kopenhagen einen Embryo durch die Nase gebiert. Die NZZ streift in Zürich durch die Traumgärten von Alberto Giacometti und Salvador Dalí. Und die Musikkritiker hören atemberaubend perfekte K.I.-Songs von Oasis, Drake und The Weeknd.

Diese Verachtung

20.04.2023. Die SZ badet in Madrid im Licht der impressionistischen Gemälde Joaquín Sorollas. Die Zeit wundert sich nicht, dass ausgerechnet Palantir eine Kunstausstellung sponsort: Das passt, findet sie. Die Filmkritiker lieben immer noch Christian Petzolds "Roter Himmel". Die Literaturkritiker haben an einem Tag Benjamin von Stuckrad-Barres Springer-Schlüsselroman "Noch wach?" gelesen und besprochen: Wenn man im eigenen Saft kochen kann, geht das ganz leicht. Die SZ annonciert ihn als Roman einer radikalen Entfreundung, es ist ein Fall enttäuschter Liebe, diagnostiziert der Tagesspiegel, die FAZ fragt: fiktional, im Ernst?

Aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks

19.04.2023. Das Berliner Museum der Moderne soll grüner werden, hat Claudia Roth entschieden. FR und Tagesspiegel freuen sich über den ökologischen Coup, die FAZ  spricht von einer architektonischen Amputation. In der taz fragt Mathias Greffrath die Gegner von Wolfgang Koeppen: Wie kann Rassismus gedanklich durchdrungen werden, wenn seine Darstellung tabuisiert wird? Die FAZ erlebt in Prag die körperliche Wucht der Bohème. Die Kritiker feiern Christian Petzolds Rohmer-haften Sommerfilm "Roter Himmel".  

Raum für das Nichts

18.04.2023. Die Welt liest an der Geschichte des Berliner Tacheles-Areals ab, wie eine Stadt scheiterte. Die taz stellt Yasmeen Lari vor, die von der Architektur der großen Geste zum Bauen mit Bambus, Lehm und Kalk konvertierte. FAZ und Tagesspiegel bejubeln die Wiederentdeckung von Ambroise Thomas' Hamlet-Oper. Die SZ möchte zum Thema rassistische Sprache noch etwas klarstellen. Und die Jazzkritiker trauern um den Pianisten Ahmad Jamal.

B-Waren-Wörter

17.04.2023. Auf ZeitOnline blickt der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr betrübt auf den ein zweites Mal, nun von der KI totgeschlagenen Autor. Rassistische Begriffe aus alten Romanen zu streichen, hält die NZZ für antiaufklärerisch. Die SZ feiert den schwarzen Humor der ukrainischen Dramatikerin Natalia Vorozhby. Die taz entdeckt den Optimismus in Eli Singalovskis Bildern des brutalistischen Beershevas. Außerdem stellt sie den Verband der iranischen Komponistinnen vor.

Indiskreter Störer

15.04.2023. Die SZ möchte nach Patricio Guzmáns Dokumentarfilm über die Aufstände in Chile gleich selbst auf die Straßen gehen und das Patriarchat in Schutt und Asche legen. In Paris lernt sie Sarah Bernhardt als begnadete Bildhauerin kennen. Die FAS lässt sich in Dänemark in die sinnlichen Werke von Carl Bloch ziehen. In der FAZ erzählt Christoph Hein von seinem skurrilen Besuch in Kathmandu. Und die taz vibriert mit dem neuen Jazz-Album des Rob Mazurek Exploding Star Orchestra vor Melancholie.

Das Fremde als Geburtshelfer

14.04.2023. Der ukrainische Schriftsteller Artem Chapeye erklärt in der FAZ, warum er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat. Im Perlentaucher schreibt Angela Schader ein "Vorwort" zu C. A. Davids' Roman "Hoffnung & Revolution". Die NZZ überlegt anlässlich einer Ausstellung über Europa und die islamischen Künste: Wo schlägt die Wertschätzung für eine Kunst in Ausbeutung um? Die SZ würdigt das "irre Gespür" der verstorbenen Modedesignerin Mary Quant. Die Filmkritiker begutachten das Programm für Cannes. Und das Van Magazin unterhält sich mit der Musik-Mäzenin Nicole Bru.

Bösartige rosa Affen im Wald

13.04.2023. Salman Rushdie spricht in der Zeit über seinen neuen Roman "Victory City", der sich nebenbei für Kiplings "Dschungelbuch" revanchiert. Die taz taucht mit dem Fotografen Stéphan Gladieu tief in die beninische Kultur ein und vermisst nur eins: die Frauen. Die FAZ bewundert Meisterwerke der Formkunst in einer Stuttgarter Ausstellung der Goldschmiedekünstlerin Paula Straus. Die SZ hört elektrosphärische Ballettmusik von Thomas Bangalter, Ex-Daft Punk. Der Standard empfiehlt eine Dokumentarfilmreihe arabischer Feministinnen. Die Welt fragt im Humboldt Forum: Tod, wo ist dein Schrecken?

Zündvorrichtung für Seelisches

12.04.2023. Zeit und FAZ feiern Makoto Shinkais Anime-Hit "Suzume" für sein Licht, die Melancholie und tiefenlaunische Requisiten. SZ und Tagesspiegel schwelgen in Emily Atefs Wendeliebesdrama "Irgendwann werden wir uns alles erzählen". Die NZZ bejubelt Benjamin Bernheim und Julie Fuchs als Operntraumpaar in Gounods "Roméo et Juliette". Der Guardian umkreist mit Steve McQueen die Brandruine des Grenfell Towers. Die SZ fühlt sich mit dem neuen Metallica-Album wie in einem Schuppen liebeskranker Biker.

Das nervöse Tosen

11.04.2023. Der Standard beobachtet eine zunehmende Verbitterung unter ukrainischen Literaten. Der Guardian feiert eine Ausstellung des mexikanischen Architekten Alejandro Zohn, der die Eliten der Hauptstadt die Provinz fürchten lehrte. Die FAS fragt sich, wie der Disney-Konzern mit Micky Mouse Geld verdienen wird, wenn das Copyright für die Cartoon-Klassiker ausläuft. Und im ND bewundert Berthold Seliger, wie Vladimir Jurowski in Haydns "Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" das revolutionäre Beben des Irans nachklingen ließ.

Die große Umkehr

08.04.2023. SZ und Welt haben sich wegblasen lassen bei "Westbam meets Wagner" in Salzburg. Die taz blickt fassungslos auf die Netflix-Reihe "Palestinian Stories": Sind keinem Verantwortlichen die antijüdischen Zerrbilder aufgefallen? Im Interview mit der Böll-Stiftung erklärt die Autorin Ronya Orthmann, warum Fiktion nicht unwahr sein muss. Die FAS stellt die nigerianische Critics Company und ihre Filme vor. Die NZZ staunt im Burgtheater, wie Maria Lazar schon in den Dreißigern die fatale Verbundenheit von Katholizismus und Nationalsozialismus in Österreich erkannte. Die SZ sieht die Münchner Kammerspiele in der Krise: Zu viel Predigt, zu wenig Kunst.

Eine nachgerade bukolische Zeit

06.04.2023. Tanz den Parsifal mit Eurythmie! Die NZZ ist begeistert wie Jasmin Solfaghari das in ihrer Inszenierung am Goetheanum in Dornach hinkriegt. Die FAZ lässt sich von Peter Weibel im ZKM in die Renaissance 3.0 führen. Ratlosigkeit erlebt die FR im Literaturbetrieb beim Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Die NZZ besucht die Künstlerin Miriam Cahn und wird rausgeschmissen. Die Filmkritiker können ein gewisses galliges Lachen nicht unterdrücken in Ben Afflecks Film "Air". Die taz bestaunt die hohe Popsprache Hendrik Otembras.

Unterboden der Spaßgesellschaft

05.04.2023. Die SZ feiert Tarik Salehs Thriller "Die Kairo-Verschwörung" über den Tod eines Großimams, während der Regisseur ebenda betont: Sein Film sei keine Kritik am Islam, er wolle auf keinen Fall ein zweiter Salman Rushdie werden. Noch nie wurde der Holocaust so für Textzwecke missbraucht wie bei Max Czollek, ärgert sich der ukrainisch-jüdische Lyriker Yevgeniy Breyger in der lyrikkritik. In der FAZ erzählt Konstantin Akinsha, wie die russische Zensur jeden Funken postkolonialer Kritik aus einer Ausstellung in St. Petersburg tilgt.

Superfunktionale Informationseinheit

04.04.2023. Die FAZ nimmt in Berlin Platz in sowjetischen Smarthomes. Den "Schmerz der Schoah" spürt sie in Frankfurt in den Werken, die Samson Schames aus Schuhcreme, Rote-Bete-Saft und Kondensmilch schuf. "Die europäische Kultur hat sich seit Tausenden Jahren mit Antisemitismus vollgesogen", sagt der israelische Regisseur Avishai Milstein in der Welt. So geht Shakespeare heute, freut sich die nachtkritik über Jan Bosses genderfluiden "König Lear" in Hamburg. Und die SZ lässt sich von Angel Bat Dawids "Requiem for Jazz" nach allen Regeln der Kunst überfordern.

Die Zeitlichkeit der Gattung Mensch

03.04.2023. Der Tagesspiegel betritt in der Berliner NGBK das Terrain des russischen Kolonialismus. Die FAZ lauscht in einer Klangausstellung in Basel dem widerständigen Surren des Prachtleierschwanzes. Und es gibt doch noch Wagner-Tenöre, jubelt die SZ nach Jonas Kaufmanns "Tannhäuser" bei den Salzburger Osterfestspielen. Im Standard kritisiert Milena Michiko Flašar die Pläne, in Österreich migrantischen Kindern das Sprechen ihrer Muttersprache auf dem Schulhof zu verbieten. Außerdem verabschiedet sie den japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto, den seine Respektlosigkeit berühmt machte.

In jedem Ton wahr

01.04.2023. Die SZ erklärt, weshalb sich der englischsprachige Literaturbetrieb gerade auf AutorInnen aus der DDR stürzt: Es gibt Bedarf an Romanen, die sich mit Klassenunterschieden und Überwachung auseinandersetzen. Mit Geoff MacCormack und David Bowie reist die SZ durch die Sowjetunion der Siebziger. In der FAZ schaut Anna Narinskaja auf die Blindheit der russischen Intelligenz für die Ideologie russischer Literatur. Außerdem wirft die FAZ einen ersten Blick durch die Lichtaugen von Stuttgart 21. Der Tagesspiegel spürt den Tod am eigenen Leibe im Humboldt Forum.