Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2023

Wenn man schick darüber grübeln kann

30.12.2023. Die FAS beobachtet in der Fondation Louis Vuitton, wie lange Mark Rothko brauchte, um in den Himmel der abstrakten Farbwolken aufzusteigen. ZeitOnline blickt mit sanftem Unbehagen auf Greta Gerwigs Barbie-Kinojahr zurück: Vollendet sich hier der Ausverkauf des Netzfeminismus? Die taz verzweifelt an der schier grenzenlosen Palästina-Solidarität im englischsprachigen Pop. Und die FAZ läutet das Kafkajahr 2024 mit einem Dossier ein.

Die Liebe als gelungener Spaß

29.12.2023. Impressionistische Unvollkommenheit genießt der Filmdienst in Hayao Miyazakis neuem Film "Der Junge und der Reiher." Was nach der Ära Miyazaki mit dem Studio Ghibli passieren soll, fragt sich bang die FAZ. Außerdem schwelgt die FAZ in der Pracht der Luxusmöbel von José Canops. KI-Gesang oszilliert zwischen Glitch und Magie, stellt die taz bei Rania Kims neuem Album fest. Sergei Gerasimov wittert in der NZZ Cancel Culture bei dem Versuch, Puschkins Literatur aus Charkiw zu verdrängen.

Inmitten der Damast- und Silberpracht

28.12.2023. Die Filmkritiker bekommen in Maite Alberdis still schönem Drama über den chilenischen Oppositionellen Augusto Góngora eine Ahnung, was Sterben bedeuten könnte. Boris Akunin wurde erst mit Preisen überhäuft und nach Kritik am Krieg gegen die Ukraine von Russland nun auf die "Liste der Terroristen und Extremisten" gesetzt, berichtet die taz. Die FAZ kostet in Dresden angehäuftes Wild auf verlassenen Festtafeln. Die SZ begibt sich im c/o Berlin mit Mary Ellen Mark an die Ränder der Gesellschaft. Und die Welt läutet mit Jonathan Tetelman den Generationswechsel unter den Tenören ein.

In Einsamkeit ausnüchtern

27.12.2023. Die Kritiker berauschen sich bei Barrie Koskys Inszenierung der Strauss'schen "Fledermaus" im Münchner Nationaltheater an Glitzer und Champagner. Die Disney-Serie "Deutsches Haus" über den ersten Auschwitz-Prozess ist fast schon zu gut für die Möglichkeiten ihres Formats, findet die Jungle World. Der Anti-Israelfuror im britischen Pop ist gerade bei jenen besonders absurd, die sich sonst die queere Sache auf die Fahne schreiben, findet die FR. Frankreich feiert Gustave Eiffel - aber die Idee für den berühmten Turm kommt eigentlich aus der Schweiz, hüstelt die NZZ. Die Welt wird beige und monochrom, glaubt die Welt.

Erinnerung an vergangene Spiele

23.12.2023. Die Berliner Zeitung schwelgt in Gedanken an das Beethoven-Konzert mit Martha Argerich und Daniel Barenboim. Die FAZ geht zum Schlafen und Plaudern in eine Lübecker Kirche. In der FR erklärt Ulrich Khuon, warum er die umstrittene Weltoffen-Initiative verteidigt, selbst aber mit Boykotteuren nicht zusammenarbeiten möchte. Zeruya Shalev erzählt im Interview mit der FAS, wie man ein Kind in Israel aufzieht: mit Gasmaske. Der Standard resümiert das Kinojahr 2023.

Die Wirklichkeit als tropenfieberhaftes Albtraumspiel

22.12.2023. Emerald Fennell legt mit "Saltburn" seinen zweiten Film vor - ziemlich wildes Ding, finden die Kritiker. Wie man die bedrohliche Kraft der Atombombe in bizarr-schöne Musik umwandelt, lernt die taz von der kasachischen Komponistin Galya Bisengaliewa. "Krieg als Normalzustand" sieht die FAZ mit Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen. Die NZZ ruft zur Wiederentdeckung Max Oppenheimers im Wiener Leopold-Museum auf. Uneinig sind sich die Kritiker bei der Frage, wie der Fall Gérard Depardieu zu bewerten ist.

Wie viel Luft Worte brauchen

21.12.2023. Die Nachtkritik sendet einen hoffnungsvollen Brief aus Ungarn, wo die freie Theaterszene roh und minimalistisch Orbans Repressionen trotzt. Erschüttert blickt der Standard in Wien auf Fotos von Laia Abril, die in Stillleben Schicksale von Frauen dokumentiert, die nicht legal abtreiben dürfen. Das Schweigen der Berliner Clubszene zum Massaker vom 7. Oktober hat wohl auch mit der vom Berliner Kultursenat geförderten Awareness-Akademie zu tun, die sich für die Diskriminierung von Juden wenig interessiert, bemerkt der Tagesspiegel.

Tatta tatta tuiiEe tuiiEe

20.12.2023. SZ und Welt lauschen begeistert dem Silbensalat Kurt Schwitters in einer Aufführung der "Ursonate" am Deutschen Theater Berlin. Wim Wenders singt in seinem neuen Film "Perfect Days" seine eigene Melodie, meint der Filmdienst. DJ-Karrieren können enden, wenn man in Tel Aviv oder Jerusalem auftritt, lernt die SZ. Der Tagesspiegel hört in der Berliner Philharmonie vier Versuche, Mahlers Zehnte zu vollenden, aber ein neuer Mahler war nicht unter den Komponisten. Die Welt sinniert im Linzer Lentos Kunstmuseum über die dunklen Aspekte der lokalen Kunstgeschichte.

Die Revolution ein Clownstheater

19.12.2023. Die taz findet in der Philip Guston-Retrospektive in der Tate Modern das Eigene im Anderen. Die im Berliner Exil lebende Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sorgt sich um ihre Wohnung in Minsk, die Lukaschenkos Schergen beschlagnahmen wollen, erzählt sie in der Zeit. Der RIAS Kammerchor erklärt, warum es "Israel in Egypt" aus seinem Neujahrsprogramm gestrichen hat. Einfach nur elfenhafte Freude empfindet VAN bei einem Mendelssohn-Abend in Berlin. Die Filmkritik trauert um den georgischen Autorenfilmer Otar Iosseliani, der zwar Monarchist war, aber dennoch anarchische Filme drehte.

Königinnenschicksal

18.12.2023. Die Feuilletons berichten skeptisch über die von heftigen Kontroversen überschattete Tagung des PEN Berlin. Die vom Verband ausgelobte maximale Toleranz wurde nicht recht sichtbar: Wer im Vorfeld ausgetreten war, bekam hier noch einen Nachtritt, schreibt die NZZ. Die FR sieht Donizettis "Anna Bolena" an der Deutschen Oper Berlin stilsicher leiden. Die FAZ hätte gerne auch ein paar starke Männer im Stück gesehen. Fatal findet die Welt die Entscheidung des RIAS Kammerchors, Händels "Israel in Egypt" aus dem Neujahrsprogramm zu nehmen.

Symphonie der Gefühlsausbrüche

16.12.2023. In Wien erinnert die Volksoper mit ihrem Stück "Lass uns die Welt vergessen" an die jüdischen Mitarbeiter, die nach dem Anschluss entlassen wurden, flohen oder ermordet wurden. FAZ, SZ und Standard berichten. Und ziehen dann gleich weiter ins Theater an der Josefstadt, wo Claus Peymann Becketts "Warten auf Godot" ohne großes Chi-Chi inszeniert hat. Der Standard amüsiert sich mit Komödiantinnen des Stummfilmkinos. Die FAZ betrachtet mit Eike Schmidt in den Uffizien Leonardos "Anbetung" und fragt sich, warum der Rias Kammerchor mit Biegen und Brechen Händels Oratorium "Israel in Egypt" auf den Kopf stellen will. "Never a Dull Moment" erlebt die SZ mit Liveaufnahmen des Jazzpianisten Les McCann.

Spaßprogramm für Eingeweihte

15.12.2023. Die FAZ blickt mit Fotografien von Yoichi Okamoto ganz neu auf das Wien der Nachkriegszeit. Artechock sieht mit der Einsetzung von Tricia Tuttle einen fortgesetzten "Sinkflug der Berlinale." Weiterhin Krisenstimmung im PEN Berlin: Die Welt befürchtet eine baldige Bruchlandung. Monopol macht seinem Ärger über die Dominanz der alten weißen Männer im Kunstbetrieb Luft: Eingeplant werde nur, was Erfolg verspricht.

Sie hat nie etwas anderes gesagt als Ich

14.12.2023. Die SZ zertrennt mit Caspar David Friedrich in mehr als sechzig Gemälden und hundert Zeichnungen in der Hamburger Kunsthalle die süßliche Einheit von Mensch und Natur. Dem PEN Berlin kommen zunehmend die Mitglieder abhanden: Dass am Wochenende auch noch die BDS-nahe Autorin A.L. Kennedy auftreten wird, macht es nicht besser, seufzt die taz. Im Perlentaucher nimmt Stefanie Diekmann in Jeanne Herrys Justizdrama "All Eure Gesichter" Platz in einem so schönen wie puristischen Stuhlkreis. In Lviv pulsiert wieder das Leben, bemerkt die taz auf einer Theaterreise. Und die Zeit kuschelt sich ein ins superflauschige Mittelmaß von Taylor Swift.

Funkelnde Ironieteilchen

13.12.2023. Die Amerikanerin Tricia Tuttle wird die neue Leiterin der Berlinale. Die Feuilletons sind überrascht und vorsichtig erfreut. Lediglich die Welt moniert: schon wieder jemand ohne Deutschkenntnisse. Wenn der Israelhass so weit geht, dass er sich auf gefüllte Tomaten erstreckt: Der Tagesspiegel recherchiert über Louna Sbou und ihr Berliner Kulturzentrum Oyoun. Disneyfilme leiden derzeit unter einer vulgär feministischen Fehlinterpretation der Weiblichkeit, moniert Zeit Online. Eva Menasse beklagt sich in der NZZ über den allseitigen wütenden Wunsch, stets auf der richtigen Seite zu stehen. Genderverwirrte schräge Vögel bezaubern die FAZ in einer Richard-Strauss-Inszenierung der Badischen Staatsoper.

Tatsächlich prinzenfähig

12.12.2023. Die NZZ fühlt mit, wenn sich "Platée" in einer Inszenierung von Jetske Mijnssen in Zürich unglücklich in den schönen Jupiter verliebt. Die FAZ bekommt glühende Wangen von der Farbenpracht in den Bildern Rudolf Levys. Die taz besucht das Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra, das die Schönheit der ukrainischen Musik feiert. Die Rapperin Nicki Minaj hat zuletzt wohl ein bisschen arg viel Antenne Bayern gehört, seufzt Zeit Online. "Eh wurscht" findet die SZ, dass die eben ausgerufene Farbe des Jahres "Peach Fuzz" erst vor kurzem schon Trendfarbe war.

Der Krieg singt

11.12.2023. Bei den Europäischen Filmpreisen räumte Justine Triets "Anatomie eines Falls" ab, berichten die Feuilletons und feiern Sandra Hüller als beste Schauspielerin: Sie kann einfach alles, schwärmt die taz. Die Nachtkritik spürt Yael Ronens seelische Erschütterung im Musical "Bucket List" an der Schaubühne. Die FAZ geht auf die Knie vor Lukas Geniušas' sensibler neuer Rachmaninow-Aufnahme, die selbst die Amseln in den Bäumen zu ihrem Recht kommen lässt. Der Tagesspiegel freut sich, dass die Komödien von Pia Frankenberg wiederentdeckt werden: Ihre Filme standen damals einsam in den Achtzigern herum.

Die bitteren Tränen der Sonnentöchter

09.12.2023. Die Feuilletons blicken geteilt auf Lluis Pasquals Inszenierung von Verdis "Don Carlo" in Mailand: Die FAZ ist hingerissen von Anna Netrebkos stimmlicher Brillanz, die FR findet das alles ein bisschen altbacken, der Tagesspiegel erkennt die politische Dimension des Abends. Die israelische Filmcommunity steht unter den Schockeindrücken des 7. Oktobers, berichtet der Filmdienst. Die taz schwebt mit Moritz von Oswald in ambientiöse Klangwolken und trifft dort auf schimmernde Chöre in Regenbogenfarben.

Feier des Ephemeren

08.12.2023. Die FR lässt sich mit den Gemälden von Harald Schulz den Mistral um die Nase wehen. Der Tagesspiegel ärgert sich, dass Katharina Grosse in der Wiener Albertina zwar große Kunst, aber wenig Moralbewusstsein zeigt. Von Takehiko Inoues Basketball-Film "The First Slam Dunk" lassen sich Standard und Artechock gerne umwerfen. Die taz schwebt über allen Wolken mit Andre Peklers Stratosphären-Boogie. In Jon Fosses Nobelpreis-Rede kommt die "stumme Sprache zu Wort", erkennt die SZ.

Die Welt zum Frühstück verspeisen

07.12.2023. FAZ und SZ denken mit Molly Manning Walkers Film "How to Have Sex" über einvernehmlichen Sex nach. Heute wird in Berlin das 25-jährige Jubiläum der Washingtoner Erklärung gefeiert: Zeit und Tagesspiegel fragen angesichts der dürftigen Restitutionen der letzten Jahre, was genau eigentlich gefeiert wird. Im Standard erklärt Milo Rau, weshalb er sich als "linksradikal" versteht: Um ihn herum gibt es nur noch "faschistischen Realismus", meint er. Die NZZ hat die Nase voll vom Lavieren des PEN Berlin in Sachen Israel. Und die taz hört die coole Vorgängerin von Taylor Swift: Nanci Griffith.

Ehebruch in Gedanken

06.12.2023. Franz Kafka wird heute vor allem als Meister des abgrundtief Komischen gefeiert, meint Reinhard Stach im Standard mit Blick auf die "Verwandlung". Die berückte Welt hört in Düsseldorf die Poesie des Unsagbaren in Manfred Trojahns "Septembersonate". In Reinhard Keisers Barockoper "Nebucadnezar" wird derweil das Orchester von der moralischen Leine gelassen, freut sich die FAZ. Die NZZ lässt sich derweil in einer Pariser Stockhausen-Inszenierung von Weihrauch einnebeln und freut sich anlässlich eines Zürcher Bach-Konzerts über barocken Unsinn.

Euer Mangel an Traurigkeit

05.12.2023. Die FAZ lässt sich von Lydia Steiers wirkmächtiger Inszenierung von Verdis "Aida" überwältigen - die FR muss bei so viel Drastik ein bisschen schlucken. Die NZZ sieht geplatzte Architekturträume in Basel. Die Welt besucht eine erstaunlich nachdenkliche Architekturtriennale im Arabischen Emirat Schardscha. Und der Literaturwissenschaftler Dan Sinykin erklärt ZeitOnline, warum man heutzutage von "Konzern-Autoren" sprechen sollte.

Das imperiale Raunen

04.12.2023. Die NZZ entdeckt im Museo d'Arte in Mendrisio Roger de la Fresnaye als Dandy unter den Kubisten. Die FAZ besucht Übersetzerinnen russischer Literatur, denen seit der russischen Invasion in der Ukraine die Existenzgrundlage wegbricht. Außerdem sieht sie mit Stephanie Mohrs Inszenierung des "Himbeerpflückers" eine vor Bosheit triefende Komödie in Wien. Die deutschen Produzenten schlagen Alarm: Immer mehr TV-Sender und Auftraggeber ziehen sich aus der deutschen Produktion zurück, sagt Branchensprecher Björn Böhning der SZ. Und die Feuilletons sitzen mit einem jubelnden Kinopublikum im neuen Werbefilm von Beyoncé.

Anziehung und Bezirzung

02.12.2023. Die FAZ erliegt im Frankfurter Städel den kosmischen Verführern des Künstlers Miron Schmückle. Die SZ betrachtet fassungslos das Aggro-Auto der Stunde von Tesla. Die Welt gratuliert Sharon Dodua Otoo zu ihrer souveränen Reaktion auf die Aussetzung des Peter-Weiss-Preises. Der Filmdienst denkt über die andere Vielsprachigkeit des Kinos nach. Im Standard erzählt William Kentridge, warum er seinen Animationsfilm "Oh to Believe in Another World" mit Schostakowitschs Zehnter unterlegt hat.

Mörderischer Nadeltanz um einen Zahnarztstuhl

01.12.2023. Späte Reue und eine Geldzahlung sind das Resultat des eingestellten Verfahrens gegen den Choreografen Marco Goecke, melden SZ und Zeit. Für die taz ist Christiane Mudras neues Stück "Hotel Utopia" mit den Erfahrungen Geflüchteter harter Tobak. Ridley Scotts "Napoleon" sorgt in der NZZ weiterhin für Diskussionsstoff. Die FAZ spürt den Einflüssen Kafkas auf die Kunst nach. Reichlich irritiert ist der Tagesspiegel von Eva Menasses PEN-Stellungnahme zu Fragen der Trennung von Autor und Werk. Und alle trauern um Shane MacGowan.